Unterwegs zwischen Europa und Afrika entlang der Hauptverwerfung der ganzen Alpenkette, mit einem ehemaligen Bahnstationsvorsteher und einem frisch als Wanderleiter diplomierten Koch. Diese Linie ist aus jenem Zusammenstoß zwischen der afrikanischen und der euroasiatischen Platte entstanden, der einst zur Bildung der Alpen führte.
Die magnetischen und gewichtsanalytischen Abweichungen, die in keinem anderen Teil der Alpen vorkommen, sind mit der Schicht unmittelbar unter der Erdkruste eng verbunden, schildert Stefan Früh:
"Das ist die sogenannte Insubrische Linie, die trennt Afrika von Europa, die Kontinentalplatten, und die führt genau durchs Centovalli durch. Die hat 'ne ganz besondere Eigenschaft, dass wir hier praktisch sämtliche Gesteinsarten in kleiner Menge vorfinden, die es auf der ganzen Welt gibt. Zum Beispiel hier auf der Piazza in Intragna, wir sehen dieses Kopfsteinpflaster: Jeder Stein hat 'ne andere Farbe! Das ist Gelb, Weiß, Grau, Schwarz, grünlich. Kommt alles vor. Und da sind Forscher, Wissenschaftler, schon vor über 100 Jahren hier her gekommen, diese Eigenschaften zu untersuchen. Ich will das Tal der hundert Täler, das Centovalli, näher erkunden. Erster Halt im Hauptort, in Intragna.
Wir sind doch eng im Tal eingeschlossen und die Sonne ist halt 'ne kurze Zeit am Tag hier: Wir haben sie am Morgen – Gott sei dank – von der Westseite her kommt die und dann nachher am Abend, am Mittag, ist da schon Feierabend mit Sonne, da müssen wir halt schon wieder mal auf'n Lichtschalter greifen, weil wir innen sind, weil die Häuser eng aufeinander sind und ein bisschen oberhalb vom Dorf ist man dann schnell wieder in der Sonne und dann sieht man das Dorf halt im Schatten, aber das soll die Attraktivität machen am Dorf."
Luca Goldhorn, dessen Vorfahren vor dem Ersten Weltkrieg aus der Ruhrmetropole Essen hierher kamen, hat für heute seinen Job als Hotelkoch in Ascona an den Nagel gehangen, um den Job als diplomierter Wanderführer zu machen. In Intragna, an der schattigen Seite des engen, aber stilvollen Hauptplatzes, steht der höchste Kirchturm des Tessin:166 Stufen:
Wir sind jetzt in der Kirche von San Gotthard in Intragna. Es sind große Kirchen. Die Kirchen mussten ja auch diesen Platz für die ganzen Leute gewährleisten, also nicht nur Platz für eine kurze Zeit, auch auf längere Zeit hat man einen Schutz gesucht in der Kirche. Ist ja nicht nur der Glauben, deswegen hat man manchmal das Gefühl man kommt in ein kleines Dorf das eine Riesenkirche hat. Der Zweck vor allem von der Kirche ist diesen Schutz zu geben.
Der 65 Meter hohe Campanile sonnt sich in der Vormittagsruhe. An seiner Pforte: ein Touristenpaar mit Velos, Fahrrädern, andere zu Fuß unterwegs, rasten kurz. Vereinzelt einer der noch 400 Einwohner. Die Gaststätten in engen Steinhäusern öffnen später.
"Das ist die Piazza Grande von Intragna, im Vergleich zu Locarno 'n bisschen kleiner, am Hauptdorfplatz von der Gemeinde Intragna. Wir haben auch öffentliche Verkehrsmittel immer noch bis spät am Abend hier, jetzt auch bis Intragna selber, das ist zehn Minuten von Locarno, ist wieder ein Wachstum feststellbar, ja."
Stefan Früh war Bahnstationsvorsteher. Jetzt führt er durchs Dorf, vermietet "Rusticos", Ferienhäuser, betreibt einen Souvenirladen, macht alles was Touristen wollen und brauchen.
Wir richten uns Kontinental neu aus, wechseln jetzt von Europa nach Afrika, von Intragna nach Palanedra. Zunächst begleiten wir auf der ausbesserungsbedürftigen Asphaltstraße die Bahnlinie, geht es dicht an Hängen und Schluchten entlang, selten auf gerader Strecke. Dann hinunter zum Staudamm.
Wir sind jetzt hier am Stausee von Palanedra, ein Stausee, der zwischen 1958 und 1965 gebaut wurde. Da drüben sehen wir, wie das Wasser von den Röhren 'rauskommt, vom Pavonatal da rüber kommt, na Palanedra, und da vorne, auf der anderen Seite von See, fließt es dann wieder 'rüber, unter den Giridone vorbei nach Porto Ronco.
Die Speicherbecken liegen oben, bei 1.461 Metern, über einige Stufen und durch kilometerlange Stollen gelangt das Bergwasser in den Stausee von Palanedra. Dieser wiederum lässt Wasser zum Kraftwerk am Lago Maggiore fließen, der 255 Meter tiefer liegt, zwischen Porto Ronco und Brissago. So diente das Seewasser im nördlichen Lago Maggiore zuvor der Stromerzeugung.
Dasselbe Wasser wird achtmal zu Strom verwertet und über 60 Kilometer wird das über den Wallis durch im Prinzip das ganze Tessin unterirdisch bis zum Lago Maggiore gebracht. In der Insubrischen Linie bleibt das auch drin, das überquert Afrika und Europa mehrmals das Wasser.
Enge Kurven, vom Laub dicht wachsender Kastanien-, Buchen- und Ahornbäume überdacht. Durch das Centovalli geht nicht nur die "Insubrische Linie", jener Zusammenstoß von Afrika und Europa, sondern auch einer der Transitwege von und nach Italien. Er verläuft nahezu parallel zum nördlichen, Schweizer Teil des Lago Maggiore.
Wir kommen nach Palanedra im oberen Centovalli. Das Dorf - 1236 erstmals erwähnt - war früher ein Zwischenstopp für Schmuggler.
Das haben sich die Leute über Italien 'runtergeschmuggelt, die haben da in Palanedra mit gewissen Leuten auch Vereinbarungen gehabt, dass sie die Ware da als Zwischenhalt gehabt haben. Es gibt sicher noch Schmuggler, aber was heute geschmuggelt wird, wird auf die öffentliche Grenze gegangen, keiner macht sich mehr die Mühe über so eine Wand zu laufen. Da war der Kaffee dabei, der Zucker dabei, Salz – was sehr selten war – und natürlich auch die ganzen Schnäpse, die die Leute in Italien früher produziert haben weil es die Weintrauben, die wir hier haben, früher nicht gab.
Im Grünen, etwas abseits, steht die Kirche San Michele. Ihr Besuch lohnt, wegen der spätmittelalterlichen Fresken. Im unteren Teil der kleinen Kapelle sind elf Stationen abgebildet. Nicht der Leidensweg Christi, sondern die Monate eines Jahres mit ihren landwirtschaftlichen Erfordernissen.
Man hat auch so automatisch weitergegeben: auf was musst Du Dich vorbereiten, was musst du machen. Für die normalen Kinder gab's ja keine Schule, gab's ja nur die Arbeit und deswegen war die Kirche auch ein Bildungsprogramm und diese Darstellungen sollen den Jungen wie auch den Alten erinnern was zu tun ist und für was man dankbar sein muss. So eine Darstellung gibt es hier im Centovalli nur einmal, in Palanedra in der Kirche, im Tessin.
Ein Wintermonat fehlt. Vielleicht, weil dessen Stelle frei bleiben musste, als Eingang zur Kapelle? Die wenigen wuchtigen Patrizierhäuser auf dem sonnigen Hochplateau – und der afrikanischen Erdschollenseite - beeindrucken mich. Sie zeugen vom Wohlstand ihrer früheren Bewohner. Grandiose Palazzi. In früheren Jahren hatten es die nach Italien ausgewanderten Einwohner als Hafenarbeiter in Livorno und Genua zu einem gewissen Wohlstand gebracht.
Anderen ging es sehr schlecht in der Fremde. Die Arbeit der Kaminfegerkinder bestand darin, barfuß, sich mit den Händen vorwärts tastend, die stockfinsteren Kamine hochzuklettern, sich abstützend mit einer Raspel den Ruß von den Kaminwänden zu kratzen. Was ihre Chefs, die "padroni", den Eltern für die Schufterei ihrer Knaben zahlten, war ein mickriges Trinkgeld, doch immerhin war auf diese Weise während der Wintermonate zu Hause ein hungriger Mund weniger zu stopfen.
Centovalli – hundert Täler: Es ist die natürliche Landschaft, es sind die kleinen Dörfer, die verstreut an den Hängen der Seitentäler liegen. Ein Paradies für junge Bikerinnen und ältere Wanderer mit Geschichte, Kultur und eben dieser alpen- geologischen Besonderheit, an die Luca Goldhorn erinnert:
"Vor 190.000 Jahren hat sich die ganze geologische Welt gedreht und jetzt diese afrikanische und europäische Kontinentseiten, die sind dann natürlich auch ganz klar getrennt, aber es ist nicht eine gerade Linie. Die Natur hat auch hier ihre Spiele gemacht."
"Vor allem die Faltung sieht man gut. An verschiedenen Stellen sieht man wirklich wie der Stein gebogen ist über die Jahrmillionen. Die Schweiz ist praktisch innerhalb von 70 Millionen Jahren entstanden und Hunderte von Metern sieht man diese Bögen in der Felsstruktur drin",
ergänzt Stefan Früh. Von Palanedra ist es nicht weit, den Hang hinauf nach Bordei.
Ein kleines, sehr schön restauriertes Dorf, auf 726 Metern Höhe inmitten der prächtigen Naturlandschaft mit Wäldern, Bächen und Plateaus.
Das enge Dörfchen mit schweren, dunkelgrauen Ziegeln auf den Hausdächern.
Diese Steindächer haben ihren speziellen Wert aus Granit. Mit Kastanienholz wird der Unterbau gemacht und die Steine liegen ohne irgendwelchen beton zusammengeklebt, sondern als Natursteine aufeinander und solche Dächer halten auch gut 200 bis 300 Jahre.
Üppige Obst- und Gemüsegärten und eine zu Polenta und Wein einladenden rustikalen Herberge. Der älteste Teil des Gebäudes stammt aus dem 16. Jahrhundert, doch die Küche dieser "Osteria Bordei" ist auf das Modernste ausgestattet.
Dieses beliebte Einkehrziel wäre ein verlassener, ruinöser Ort, hätten nicht ideenreiche Schweizer in den drohenden Zerfall eingegriffen.
Die Osteria Bordei verfügt über ordentliche Zimmer mit fließendem Wasser, mit antiken Möbeln und original erhaltenen Holzdecken.
Die Osteria, das war auch so ein Treffpunkt von Schmugglern. Osteria heißt das Haus des Wirtes und der hat die Tore geöffnet, dass die Leute einen Moment zusammen haben konnten und die auf Durchreise waren einfach übernachten konnten, ne kleine, einfache Übernachtungsmöglichkeit.
Dem Gründer der Stiftung begegnen Luca und ich zufällig auf dem gepflasterten Dorfweg. Jürg Zbinden ist in Eile. Ein kurzes Gespräch lehnt der graubärtige Leiter des Wiederaufbaus ab.
Minuten später aber taucht Zbinden plötzlich an der Osteria auf, in deren sonnengeschützten Vorgarten wir uns gerade stärken, und reicht mir wortkarg, aber freundlich, ein Manuskript. Auf den Seiten hat er sein Projekt, die "Fondazione Terra Vecchia" beschrieben.
Zwei Dörfer, die wieder leben, wo Leute wieder das ganze Jahr leben können, weil dahinter ein Gedanke ist, wo funktionell, wo auch modern mit Alt verbunden ist, wo eine Lebensqualität, eine hohe Lebensqualität möglich ist.
Bordei gehört zu den geschützten Bauobjekten der Schweiz und genießt weltweit Anerkennung. Oberhalb des Dorfes sind die "Nevere". Diese Grotten dienten als Kühlraum: Der Schnee wurde so lange wie möglich gelagert, um darin Lebensmittel aufzubewahren.
Diese "Neveren" wurden spiralförmig aufgebaut, meistens an Orten, wo sie meistens von Buchen, oder großen Kastanien Schatten hatten und die wurden voll mit Schnee gefüllt und dann wurde das Dach zugemacht und das frische Fleisch hat man unter den Schnee getan, da war es gefroren, oder obendrauf eben die Milcheimer und der Käse, in Tücher eingepackt, drauf gelegt.
Unberührt und wild erscheint mir das Centovalli, es beeindruckt mich durch seine steil abfallenden Schluchten. Tief im Tal führt die Melezza mal weniger, mal mehr Wasser talwärts, ähnlich dem Colorado im Grand Canyon.
Der Rückweg führt uns noch einmal fast durchs ganze Centovalli. Luca, der Koch aus Ascona, Wanderführer, erzählt vom "Coro Bavona" einem Männer-Chor, in dem er mitsingt. Unter den rund 20 Stimmen ist er bei den zweiten Tenören. Das Lied besingt einen der unzähligen Laubbäume, die das Cebtovalli schmücken und prägen: die Lärche. Durch die die Herbstsonne goldgelb leuchtet, mit deren Holz in der kälteren Zeit der "Geschmack der Berge" ins Haus einzieht.
Als Kaminfeuer brennend, bringe die Lärche Licht in die Abende und so lebt das Lied der Lärche lange noch, lange in den Häusern der Bergtäler weiter.
Die magnetischen und gewichtsanalytischen Abweichungen, die in keinem anderen Teil der Alpen vorkommen, sind mit der Schicht unmittelbar unter der Erdkruste eng verbunden, schildert Stefan Früh:
"Das ist die sogenannte Insubrische Linie, die trennt Afrika von Europa, die Kontinentalplatten, und die führt genau durchs Centovalli durch. Die hat 'ne ganz besondere Eigenschaft, dass wir hier praktisch sämtliche Gesteinsarten in kleiner Menge vorfinden, die es auf der ganzen Welt gibt. Zum Beispiel hier auf der Piazza in Intragna, wir sehen dieses Kopfsteinpflaster: Jeder Stein hat 'ne andere Farbe! Das ist Gelb, Weiß, Grau, Schwarz, grünlich. Kommt alles vor. Und da sind Forscher, Wissenschaftler, schon vor über 100 Jahren hier her gekommen, diese Eigenschaften zu untersuchen. Ich will das Tal der hundert Täler, das Centovalli, näher erkunden. Erster Halt im Hauptort, in Intragna.
Wir sind doch eng im Tal eingeschlossen und die Sonne ist halt 'ne kurze Zeit am Tag hier: Wir haben sie am Morgen – Gott sei dank – von der Westseite her kommt die und dann nachher am Abend, am Mittag, ist da schon Feierabend mit Sonne, da müssen wir halt schon wieder mal auf'n Lichtschalter greifen, weil wir innen sind, weil die Häuser eng aufeinander sind und ein bisschen oberhalb vom Dorf ist man dann schnell wieder in der Sonne und dann sieht man das Dorf halt im Schatten, aber das soll die Attraktivität machen am Dorf."
Luca Goldhorn, dessen Vorfahren vor dem Ersten Weltkrieg aus der Ruhrmetropole Essen hierher kamen, hat für heute seinen Job als Hotelkoch in Ascona an den Nagel gehangen, um den Job als diplomierter Wanderführer zu machen. In Intragna, an der schattigen Seite des engen, aber stilvollen Hauptplatzes, steht der höchste Kirchturm des Tessin:166 Stufen:
Wir sind jetzt in der Kirche von San Gotthard in Intragna. Es sind große Kirchen. Die Kirchen mussten ja auch diesen Platz für die ganzen Leute gewährleisten, also nicht nur Platz für eine kurze Zeit, auch auf längere Zeit hat man einen Schutz gesucht in der Kirche. Ist ja nicht nur der Glauben, deswegen hat man manchmal das Gefühl man kommt in ein kleines Dorf das eine Riesenkirche hat. Der Zweck vor allem von der Kirche ist diesen Schutz zu geben.
Der 65 Meter hohe Campanile sonnt sich in der Vormittagsruhe. An seiner Pforte: ein Touristenpaar mit Velos, Fahrrädern, andere zu Fuß unterwegs, rasten kurz. Vereinzelt einer der noch 400 Einwohner. Die Gaststätten in engen Steinhäusern öffnen später.
"Das ist die Piazza Grande von Intragna, im Vergleich zu Locarno 'n bisschen kleiner, am Hauptdorfplatz von der Gemeinde Intragna. Wir haben auch öffentliche Verkehrsmittel immer noch bis spät am Abend hier, jetzt auch bis Intragna selber, das ist zehn Minuten von Locarno, ist wieder ein Wachstum feststellbar, ja."
Stefan Früh war Bahnstationsvorsteher. Jetzt führt er durchs Dorf, vermietet "Rusticos", Ferienhäuser, betreibt einen Souvenirladen, macht alles was Touristen wollen und brauchen.
Wir richten uns Kontinental neu aus, wechseln jetzt von Europa nach Afrika, von Intragna nach Palanedra. Zunächst begleiten wir auf der ausbesserungsbedürftigen Asphaltstraße die Bahnlinie, geht es dicht an Hängen und Schluchten entlang, selten auf gerader Strecke. Dann hinunter zum Staudamm.
Wir sind jetzt hier am Stausee von Palanedra, ein Stausee, der zwischen 1958 und 1965 gebaut wurde. Da drüben sehen wir, wie das Wasser von den Röhren 'rauskommt, vom Pavonatal da rüber kommt, na Palanedra, und da vorne, auf der anderen Seite von See, fließt es dann wieder 'rüber, unter den Giridone vorbei nach Porto Ronco.
Die Speicherbecken liegen oben, bei 1.461 Metern, über einige Stufen und durch kilometerlange Stollen gelangt das Bergwasser in den Stausee von Palanedra. Dieser wiederum lässt Wasser zum Kraftwerk am Lago Maggiore fließen, der 255 Meter tiefer liegt, zwischen Porto Ronco und Brissago. So diente das Seewasser im nördlichen Lago Maggiore zuvor der Stromerzeugung.
Dasselbe Wasser wird achtmal zu Strom verwertet und über 60 Kilometer wird das über den Wallis durch im Prinzip das ganze Tessin unterirdisch bis zum Lago Maggiore gebracht. In der Insubrischen Linie bleibt das auch drin, das überquert Afrika und Europa mehrmals das Wasser.
Enge Kurven, vom Laub dicht wachsender Kastanien-, Buchen- und Ahornbäume überdacht. Durch das Centovalli geht nicht nur die "Insubrische Linie", jener Zusammenstoß von Afrika und Europa, sondern auch einer der Transitwege von und nach Italien. Er verläuft nahezu parallel zum nördlichen, Schweizer Teil des Lago Maggiore.
Wir kommen nach Palanedra im oberen Centovalli. Das Dorf - 1236 erstmals erwähnt - war früher ein Zwischenstopp für Schmuggler.
Das haben sich die Leute über Italien 'runtergeschmuggelt, die haben da in Palanedra mit gewissen Leuten auch Vereinbarungen gehabt, dass sie die Ware da als Zwischenhalt gehabt haben. Es gibt sicher noch Schmuggler, aber was heute geschmuggelt wird, wird auf die öffentliche Grenze gegangen, keiner macht sich mehr die Mühe über so eine Wand zu laufen. Da war der Kaffee dabei, der Zucker dabei, Salz – was sehr selten war – und natürlich auch die ganzen Schnäpse, die die Leute in Italien früher produziert haben weil es die Weintrauben, die wir hier haben, früher nicht gab.
Im Grünen, etwas abseits, steht die Kirche San Michele. Ihr Besuch lohnt, wegen der spätmittelalterlichen Fresken. Im unteren Teil der kleinen Kapelle sind elf Stationen abgebildet. Nicht der Leidensweg Christi, sondern die Monate eines Jahres mit ihren landwirtschaftlichen Erfordernissen.
Man hat auch so automatisch weitergegeben: auf was musst Du Dich vorbereiten, was musst du machen. Für die normalen Kinder gab's ja keine Schule, gab's ja nur die Arbeit und deswegen war die Kirche auch ein Bildungsprogramm und diese Darstellungen sollen den Jungen wie auch den Alten erinnern was zu tun ist und für was man dankbar sein muss. So eine Darstellung gibt es hier im Centovalli nur einmal, in Palanedra in der Kirche, im Tessin.
Ein Wintermonat fehlt. Vielleicht, weil dessen Stelle frei bleiben musste, als Eingang zur Kapelle? Die wenigen wuchtigen Patrizierhäuser auf dem sonnigen Hochplateau – und der afrikanischen Erdschollenseite - beeindrucken mich. Sie zeugen vom Wohlstand ihrer früheren Bewohner. Grandiose Palazzi. In früheren Jahren hatten es die nach Italien ausgewanderten Einwohner als Hafenarbeiter in Livorno und Genua zu einem gewissen Wohlstand gebracht.
Anderen ging es sehr schlecht in der Fremde. Die Arbeit der Kaminfegerkinder bestand darin, barfuß, sich mit den Händen vorwärts tastend, die stockfinsteren Kamine hochzuklettern, sich abstützend mit einer Raspel den Ruß von den Kaminwänden zu kratzen. Was ihre Chefs, die "padroni", den Eltern für die Schufterei ihrer Knaben zahlten, war ein mickriges Trinkgeld, doch immerhin war auf diese Weise während der Wintermonate zu Hause ein hungriger Mund weniger zu stopfen.
Centovalli – hundert Täler: Es ist die natürliche Landschaft, es sind die kleinen Dörfer, die verstreut an den Hängen der Seitentäler liegen. Ein Paradies für junge Bikerinnen und ältere Wanderer mit Geschichte, Kultur und eben dieser alpen- geologischen Besonderheit, an die Luca Goldhorn erinnert:
"Vor 190.000 Jahren hat sich die ganze geologische Welt gedreht und jetzt diese afrikanische und europäische Kontinentseiten, die sind dann natürlich auch ganz klar getrennt, aber es ist nicht eine gerade Linie. Die Natur hat auch hier ihre Spiele gemacht."
"Vor allem die Faltung sieht man gut. An verschiedenen Stellen sieht man wirklich wie der Stein gebogen ist über die Jahrmillionen. Die Schweiz ist praktisch innerhalb von 70 Millionen Jahren entstanden und Hunderte von Metern sieht man diese Bögen in der Felsstruktur drin",
ergänzt Stefan Früh. Von Palanedra ist es nicht weit, den Hang hinauf nach Bordei.
Ein kleines, sehr schön restauriertes Dorf, auf 726 Metern Höhe inmitten der prächtigen Naturlandschaft mit Wäldern, Bächen und Plateaus.
Das enge Dörfchen mit schweren, dunkelgrauen Ziegeln auf den Hausdächern.
Diese Steindächer haben ihren speziellen Wert aus Granit. Mit Kastanienholz wird der Unterbau gemacht und die Steine liegen ohne irgendwelchen beton zusammengeklebt, sondern als Natursteine aufeinander und solche Dächer halten auch gut 200 bis 300 Jahre.
Üppige Obst- und Gemüsegärten und eine zu Polenta und Wein einladenden rustikalen Herberge. Der älteste Teil des Gebäudes stammt aus dem 16. Jahrhundert, doch die Küche dieser "Osteria Bordei" ist auf das Modernste ausgestattet.
Dieses beliebte Einkehrziel wäre ein verlassener, ruinöser Ort, hätten nicht ideenreiche Schweizer in den drohenden Zerfall eingegriffen.
Die Osteria Bordei verfügt über ordentliche Zimmer mit fließendem Wasser, mit antiken Möbeln und original erhaltenen Holzdecken.
Die Osteria, das war auch so ein Treffpunkt von Schmugglern. Osteria heißt das Haus des Wirtes und der hat die Tore geöffnet, dass die Leute einen Moment zusammen haben konnten und die auf Durchreise waren einfach übernachten konnten, ne kleine, einfache Übernachtungsmöglichkeit.
Dem Gründer der Stiftung begegnen Luca und ich zufällig auf dem gepflasterten Dorfweg. Jürg Zbinden ist in Eile. Ein kurzes Gespräch lehnt der graubärtige Leiter des Wiederaufbaus ab.
Minuten später aber taucht Zbinden plötzlich an der Osteria auf, in deren sonnengeschützten Vorgarten wir uns gerade stärken, und reicht mir wortkarg, aber freundlich, ein Manuskript. Auf den Seiten hat er sein Projekt, die "Fondazione Terra Vecchia" beschrieben.
Zwei Dörfer, die wieder leben, wo Leute wieder das ganze Jahr leben können, weil dahinter ein Gedanke ist, wo funktionell, wo auch modern mit Alt verbunden ist, wo eine Lebensqualität, eine hohe Lebensqualität möglich ist.
Bordei gehört zu den geschützten Bauobjekten der Schweiz und genießt weltweit Anerkennung. Oberhalb des Dorfes sind die "Nevere". Diese Grotten dienten als Kühlraum: Der Schnee wurde so lange wie möglich gelagert, um darin Lebensmittel aufzubewahren.
Diese "Neveren" wurden spiralförmig aufgebaut, meistens an Orten, wo sie meistens von Buchen, oder großen Kastanien Schatten hatten und die wurden voll mit Schnee gefüllt und dann wurde das Dach zugemacht und das frische Fleisch hat man unter den Schnee getan, da war es gefroren, oder obendrauf eben die Milcheimer und der Käse, in Tücher eingepackt, drauf gelegt.
Unberührt und wild erscheint mir das Centovalli, es beeindruckt mich durch seine steil abfallenden Schluchten. Tief im Tal führt die Melezza mal weniger, mal mehr Wasser talwärts, ähnlich dem Colorado im Grand Canyon.
Der Rückweg führt uns noch einmal fast durchs ganze Centovalli. Luca, der Koch aus Ascona, Wanderführer, erzählt vom "Coro Bavona" einem Männer-Chor, in dem er mitsingt. Unter den rund 20 Stimmen ist er bei den zweiten Tenören. Das Lied besingt einen der unzähligen Laubbäume, die das Cebtovalli schmücken und prägen: die Lärche. Durch die die Herbstsonne goldgelb leuchtet, mit deren Holz in der kälteren Zeit der "Geschmack der Berge" ins Haus einzieht.
Als Kaminfeuer brennend, bringe die Lärche Licht in die Abende und so lebt das Lied der Lärche lange noch, lange in den Häusern der Bergtäler weiter.