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Talentsuche für Paralympics

Der bundesweite Wettbewerb "Jugend trainiert für Paralympics", wird in der kommenden Woche zum zweiten Mal ausgetragen: Die Veranstaltung soll Kindern mit motorischen Einschränkungen Selbstbewusstsein vermitteln und die Stellung des Sports in Förderschulen stärken.

Von Ronny Blaschke | 04.06.2011
    Mehr als vierzig Operationen muss Elke Borchardt über sich ergehen lassen, einmal ist sie fünf Monate am Stück im Krankenhaus. Seit der Geburt ist ihr rechtes Bein kürzer als ihr linkes, irgendwann ist es steif geworden, seitdem benötigt sie eine Gehhilfe. Elke Borchardt hat an dieser körperlichen Einschränkung ihre Freizeit ausgerichtet: sie spielt Geige, zeichnet Bilder oder strickt Kleidung:

    "Mein Bein wurde jetzt verlängert, aber eigentlich war ich Jahre lang immer nur krank, also an Sport war überhaupt nicht zu denken. Lag immer nur im Krankenhaus und war dann wieder ein paar Wochen in der Schule, dann wieder ein paar Wochen im Krankenhaus und ich hab am Sportunterricht hier in der Schule sowieso nie teilgenommen."

    Elke Borchardt hat ein zierliches Gesicht und blickt aus freundlichen Augen. Sie ist 17 Jahre alt und besucht die Carl-von-Linné-Schule im Berliner Bezirk Lichtenberg. Die Linné-Schule zählt mit ihren 420 Schülern und 100 Pädagogen zu den größten Förderzentren für körperliche und motorische Entwicklung in Europa. Borchardt sitzt in einem ruhigen Klassenzimmer zwei ihrer Lehrerinnen gegenüber: Birgit Pflug und Gabriele Fiedler. Sie laden das Mädchen vor fast zwei Jahren in die Schwimmhalle ein - und animieren sie damit erstmals zum Sporttreiben:

    "Gleich bei einer der ersten Schwimmstunden fragte mich dann Frau Pflug, ob ich beim Linné-Cup mitmachen möchte, mit schwimmen möchte. Also ich war total überrascht, hab mich total gefreut. Ja, also es war ganz komisch, weil ich war es ein paar Mal da geschwommen und dann werde ich schon gefragt, ob ich da einen Wettkampf mit schwimmen möchte. Hat mir Frau Pflug dann, nachdem ich geschwommen war, gesagt: Ach, übrigens es sitzt ein Trainer im Publikum, der so ein Auge auf dich geworfen hat vom Olympiastützpunkt, und da war ich erstmal total baff."

    Schnell entwickelt sich Elke Borchardt zu einer herausragenden Schwimmerin. Mit ihrer Schule nimmt sie im Juni 2010 an einem neuen Wettbewerb teil: "Jugend trainiert für Paralympics". Als Vorbild dient "Jugend trainiert für Olympia", der größte Schulsport-Wettbewerb der Welt, an dem hierzulande 800000 Kinder und Jugendliche teilnehmen. Die Schüler mit Behinderungen messen sich beim ersten Bundesfinale 2010 im westfälischen Kamen-Kaiserau in vier Sportarten. Elke Borchardt und ihr Berliner Team gewinnen den Wettbewerb im Schwimmen. Ihre Lehrerin Gabriele Fiedler erinnert sich:

    "Wenn 160 gehandicapte Sportler aufeinander treffen, was da losgeht, wie die sich auch gegenseitig anspornen Leistung zu bringen. Also ich muss sagen: Da quält's mir fast die Stimme raus, weil ich so beeindruckt war, was die leisten können. Und für mich ist das eigentlich das Beeindruckendste, was ich erlebt habe."

    Ab dem kommenden Dienstag findet für vier Tage das zweite Bundesfinale von "Jugend trainiert für Paralympics" statt. In Kienbaum nahe Berlin treffen sich dann 230 Schüler aus 13 Bundesländern. Dieser Wettbewerb soll die Stellung des Sports in den Förderschulen stärken, angesichts von Lehrermangel, knappen Hallenkapazitäten und oft fehlenden Unterrichtsmaterialien.

    Kinder mit Behinderungen sind selten in Vereinen aktiv, umso wichtiger ist für sie der Sport in der Schule. Die Lehrerin Birgit Pflug hat deshalb in der Berliner Linné-Schule eine Klasse für Talente gegründet. Sie fördert und fordert:

    "Weil wir eben auch denken, dass Sport auch gerade für körperbehinderte Schüler ein ganz, ganz wichtiger Aspekt ist, und auch den Kindern und Jugendlichen zeigt, also einmal A, was ich erreichen kann, B, man ihnen auch den Weg ins Leben ebnen kann. Und es ist erstaunlich zu beobachten, welche Entwicklungen diese Kinder innerhalb dieses halben, dreiviertel Jahres gemacht haben, physisch wie psychisch, es ist Wahnsinn."

    Seit Mitte der neunziger Jahre hat der Deutsche Behindertensportverband für die Durchführung von "Jugend trainiert für Paralympics" gekämpft. Nun bietet der Wettbewerb dem DBS wichtige Argumente: Für behindertengerechte Schwimmhallen oder für bessere Transportmöglichkeiten für Rollstühle. Mittelfristig sollen auch Schüler mit geistiger Behinderung und mit eingeschränktem Sehvermögen in den Wettbewerb eingegliedert werden. Langfristig schwebt den Organisatoren eine gemeinsame Veranstaltung vor: "Jugend trainiert für Olympia und Paralympia".

    Die Berliner Schwimmerin Elke Borschardt würde sich darüber freuen. Ihre Begeisterung hat sich auch auf ihre Eltern und Freunde übertragen. Die Paralympics in London 2012 kommen für sie zu früh, nicht aber in Rio de Janeiro 2016. Elke Borchardt hat viel durch den Sport gelernt. Über andere - und über sich selbst:

    "Wenn dann ein wirklich schwerbehinderter Junge oder ein schwerbehindertes Mädchen an Land im Rollstuhl, da denkt man nicht, dass das ein Athlet ist, aber steigt ins Wasser und zieht da seine Bahnen durch, also ist toll zu sehen. Also ich interessiere mich eher für Kunst, ich lese gerne, ich hätte nie gedacht, dass ich so ein Sportlertyp bin und dann habe ich plötzlich gemerkt, wie viel Spaß mir das macht. Ich habe zum Beispiel am Anfang des Jahres das erste Mal seit der vierten Klasse eine Vorwärtsrolle gemacht. Hätte nie gedacht, dass ich das kann."