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Tallinn
Kalamaja im Wandel

Von Lena Bayer-Eynck |
    Der Hipster-Highway von Tallinn ist ein einfacher Schotterweg - fünf Meter breit und gut einen Kilometer lang. Offiziell heißt er "Kulturkilometer" und wurde vor drei Jahren angelegt als Tallinn Kulturhauptstadt war. Der Radweg führt in der Nähe der Ostsee durch das aufstrebende Kalamaja. Er verbindet die Lieblingsorte vieler junger Tallinner, so wie von Lene Truu.
    "Worüber wir während unserer Fahrt nachdenken könnten: Welche Geschichten diese Gebäude erzählen - über die schrecklichen Dinge, die hier passiert sind, aber auch die guten und wie wir sie heute sehen."
    Die erste Station auf unserer Reise durch Kalamaja: Patarei, ein altes Gefängnis aus Sowjet-Zeiten, das bis 2004 noch als solches genutzt wurde. Ein großes, altes Backsteingebäude direkt an der Ostsee, das schon das Interesse einiger Investoren geweckt hat.
    "Es gab so viele Pläne für das Gefängnis - es sollte zuerst ein Hotel reinkommen, dann sollte die Kunsthochschule dahin umziehen. Aber das hat beides nicht geklappt."
    Stattdessen haben hier Künstler ihre Ateliers, regelmäßig werden in den alten Gefängnismauern Partys gefeiert und Theaterstücke aufgeführt - obwohl die Relikte aus Gefängniszeiten nicht entfernt wurden. Ein Schild weist den Weg zu dem Raum, in dem früher Insassen erhängt wurden, ein anderes zur alten Gefängnisküche. Studentin Lene Truu kommt oft wegen kultureller Events in das heruntergekommene Gefängnis.
    "Es ist der Kontrast, der diesen Ort besonders macht - da geht man nicht jeden Tag hin. Ich finde das hat viel mehr Atmosphäre hier als die total durchgestylten Klubs."
    Zurück auf dem Kulturkilometer versteckt sich die Ostsee hinter großen Bäumen, trotzdem pfeift der Wind vom Meer. Die nächste Station ist eine alte Fabrik. Die Eingangshalle, in der früher Schiffsteile hergestellt wurden, ist groß wie eine Turnhalle und modert seit 20 Jahren vor sich hin - wie so viele Fabriken hat sie dem postkommunistischen Wettbewerb nicht standgehalten. Durch das löchrige Dach malen Sonnenstrahlen Muster auf den dreckigen Boden. In einer Ecke stehen rostige Maschinen, die früher mal weißen Wände sind kahl bis auf das Moos, das die Gemäuer nach und nach erobert.
    "Es war wohl einfach so, dass die Leute von einem auf den anderen Tag nicht mehr zur Arbeit kommen brauchten und deswegen wurde vieles einfach so gelassen, wie es dann gerade war. Und in den 90ern wussten die Menschen nicht, was sie mit solchen Orten machen sollten, sie wollten sie eher vergessen. Aber in den letzten Jahren hat sich das geändert und sie werden als historisch wertvoll gesehen."
    So kommt es, das diese ehemalige Fabrik auch mehr als 20 Jahre nach Estlands Unabhängigkeit und ihrer Schließung noch so ist, wie sie die Arbeiter damals hinterlassen haben. Nur die vielen bunten Punkte an einigen Wänden verraten, dass hier regelmäßig Besucher herkommen - die verzweigten Fabrikhallen sind ein beliebter Ort für Paintball-Spieler. Am Ende der riesigen Eingangshalle geht es über rostige Treppen hoch in die ehemaligen Maschinen- und Verwaltungsgebäude. Auf dem Boden der Staub von 20 Jahren Verfall, dazwischen Scherben und Müll.
    "Hier an der Wand hängen noch Schilder, auf denen auf Russisch steht "Nicht Rauchen" oder eine Notfallnummer. Und wenn man ein bisschen sucht, findet man hier auch noch Zeitungen aus den 60ern und 70ern, die hier noch rumliegen."
    Museum ohne Museumsleiter
    Es ist ein Museum ohne Museumsleiter, ohne Eintritt oder Konzept. Die Ausstellung haben Neugierige und Plünderer gestaltet, die die Fabrikhallen nach Wertvollem durchsucht haben. In einem alten Büroraum quellen vergessene Unterlagen aus offenen Schreibtischschubladen, auf dem Boden warten wertlose Dokumente in kyrillischer Schrift darauf, dass sich jemand für sie interessiert. Lene Truu aber sieht in dieser Fabrik schon den nächsten hippen Ort in Kalamaja.
    "Ich könnte mir vorstellen, dass hier in Zukunft auch Partys stattfinden könnten oder Konzerte. Vor zehn Jahren war das hier ein Ort für Obdachlose, aber jetzt kommen öfter mal Leute hierher, deswegen ist es hier jetzt nicht mehr so privat für sie."
    Die alte Fabrik ist eine beliebte Kulisse für Fotoshootings geworden, erzählt Lene weiter. Eine relativ neue Sache: Nach der Unabhängigkeit 1991 wollten viele Esten das Sowjetische erstmal so schnell wie möglich vergessen. Seit Kurzem aber entwickeln sich die Industriegebäude zum Anziehungspunkt für Kreative und Studenten. Sie waren noch Kinder, als die Fabriken zugemacht wurden, jetzt sind sie neugierig auf das sozialistische Erbe. Zum Beispiel auf die alte Eisenbahnfabrik einige hundert Meter weiter. Jaanus Juss, Anfang 30, hat sie vor wenigen Jahren gekauft und nach und in ein Kulturzentrum umgewandelt.
    "Ein Kollege und ich waren beim Berliner Inliner-Marathon und danach waren wir in diesen alten, besetzten Gebäuden und da dachten wir: Warum versuchen wir nicht in Tallinn etwas Ähnliches? Nur nicht so wild, mehr unter Kontrolle. So haben wir gestartet."
    Immer noch wird auf dem Gelände gewerkelt, renoviert und umgebaut. Das Besondere: Der ursprüngliche Industriecharme soll so weit wie möglich erhalten bleiben, nur das Nötigste wird renoviert. Jaanus Juss erzählt bei einem Rundgang über das weitläufige Gelände mit dem Namen Telliskivi die Geschichte des Ortes:
    "Die Fabrik wurde privatisiert und dann fiel sie langsam auseinander - so wie all die anderen, ineffizienten Fabriken. Dann wurde das Gelände verkauft und wir konnten es kaufen - jetzt haben wir insgesamt 40.000 Quadratmeter."
    Heute ist das Gelände am Rande von Kalamaja bekannt für gutes und günstiges Essen, eine Bar mit handgebrauten Bieren aus aller Welt und gerade wurde auch noch ein Theater eröffnet. Die stetig wachsende Gemeinschaft von kreativen Start-Ups und Selbstständigen zieht immer mehr Menschen an. Gründer Jaanus Juus wählt selbst aus, wer hier ein Büro bekommt.
    "Es kann ein Unternehmen sein, das gestern erst gegründet wurde - ich setze mich einfach mit den Leuten zusammen und gucke, ob es passt, ob sie ihr Konzept durchdacht haben, ob sie hierher passen und ob ich an sie glaube oder nicht."
    Einer der Menschen, die hier arbeiten, ist Teele Pehk. Sie ist Urbanistin und beschäftigt sich sowohl beruflich als auch privat mit der Entwicklung der Stadt Tallinn. Nur ein paar hundert Meter vom Telliskivi-Komplex entfernt zeigt sie mir ihren Lieblingsort in Kalamaja - eine kleine Bucht an der Ostsee.
    "Das hier ist eigentlich ein Fischerhafen, aber im Moment ist das hier in Privatbesitz. Es ist ein sehr konfliktreiches Gebiet, weil es während der Sowjetzeit nicht zugänglich war. Hier war die Fischindustrie, hier wurden Fischkonserven hergestellt - vor diesem Panorama von Tallinn."
    Der Strand steht in keinem Reiseführer
    Das Panorama dieser Bucht, nur einen Katzensprung von Zentrum entfernt und doch abgelegen, ist eine Wucht. Nichts versperrt den Blick auf die Ostsee, abends geht hinter dem nahegelegenen Patarei-Gefängnis die Sonne unter. Aber weil das hier offiziell kein öffentlicher Strand ist, steht er auch in keinem Reiseführer. Obwohl hier an warmen Tagen viele in der Ostsee baden oder abends den Blick aufs Meer genießen.
    "Das hier ist sozusagen ein Nachbarschaftsstrand - es ist kein offizieller Strand, also es gibt keine Rettungsschwimmer zum Beispiel. Aber es gibt natürlichen Sand. Und was wir als Nachbarn in den letzten vier Jahren hier gemacht haben, ist, dass wir hier ein paar Bänke und eine Art Umkleidekabine aufgebaut haben. Wenn es im Sommer warm ist und viele Menschen kommen, sammeln wir fast jeden Tag Müll. Aber seit wir ein paar Schilder aufgestellt haben, die dazu auffordern, den Strand sauber zu halten, ist es auch besser geworden."
    Aber Teele Pehk, die Nachbarschaftsenthusiastin von Kalamaja, wie sie sich selbst nennt, hat Angst, dass die kleine Bucht Investoren zum Opfer fallen wird. Direkt hier, an der Küste, soll ein großer Apartmentkomplex entstehen. Genauso wie der Kulturkilometer, der Hipster Highway, durch eine Autostraße ersetzt werden soll. Kalamaja verändert sich - gerade weil der Stadtteil im Aufschwung ist.