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Tami Oelfken: Fahrt durch das Chaos

Von der Gestapo erhielt ich die Aufforderung, zu einer Vernehmung "in eigenen Angelegenheiten" am Alexanderplatz zu erscheinen. Wir leben in einem Polizeistaat. Es ist nicht das erste Mal, dass ich unter die Lupe genommen werde. Ich bin diesmal nur deshalb beunruhigt, weil mein Sündenkonto im nationalsozialistischen Deutschland mehr als überzogen ist. Die bange Frage in zwei schlaflosen Nächten ist, was haben sie von den vielen verbotenen Handlungen herausgekriegt? ... Mein schwarzes Ledertagebuch ist in Händen eines Freundes aus Peru, bei dem es in der exterritorialen Schreibtischschublade gut aufbewahrt ist. Das können sie also auch nicht gefunden haben.

Von Kristine von Soden |
    Also was zum Teufel mögen sie "in meinen Angelegenheiten" herumgeschnüffelt haben? Ich weiß es nicht. Ich verlasse mich auf den Schutz meiner weißen Wut und darauf, dass ich "doch nur eine Frau bin".

    Tami Oelfken berichtet hier von einer ihrer Begegnungen mit der Gestapo im Jahre 1939. Die damals 50-jährige war Pazifistin, Schriftstellerin und Reformpädagogin. 1939 war sie aus einem Exil in Frankreich nach Nazideutschland zurückgekehrt, sie hatte als Lehrerin Berufsverbot und versuchte als Schriftstellerin durch die Zeit zu kommen. Die Gestapo hatte sie wegen eines Buches vorgeladen, wollte aber vor allem ihre "politische Unzuverlässigkei"’ überprüfen. Tami Oelfken kam davon, und ihr schwarzes Ledertagebuch, das ein Freund in der peruanischen Botschaft für sie versteckte, machte es ihr möglich, ihre Erlebnisse und Erfahrungen während der nationalsozialistischen Herrschaft aufzuschreiben. Dieses Buch "Fahrt durch das Chao"’ ist das Zeugnis einer inneren Emigration. Allerdings wird dieser Begriff hier nicht missbraucht, um das Wegsehen zu legitimieren, sondern er beschreibt, wie man, ohne im Exil oder im organisierten Widerstand zu sein, sich die geistige Unabhängigkeit bewahren und anderen helfen konnte, auch wenn damit ein hohes Risiko verbunden war.

    Die große Fahrt ins Ungewisse ohne Dich lässt mich bedenken, dass mein belastetes, altes Schiff sinken kann; aber das Logbuch, von mir auf das sorgfältigste wasser- und wetterfest gemacht, schwimmt oben. Du kannst es auffischen. Vielleicht reicht meine Kraft aus, durch das Chaos ans jenseitige helle Ufer zu steuern. Dann lege ich drüben dies Logbuch in deine Hand. Der Tag möge uns allen gesegnet sein!
    Tami


    Tami ist die Abkürzung für "Tante Miezi". Diesen Kosenamen erhielt die im Jahre 1888 geborene Maria Wilhelmine Oelfken von ihren Schülern. Denn die "Herzenslehrerin", entschiedene Pazifistin und Reformpädagogin hatte stets gegen den autoritären Erziehungsdrill der wilhelminischen Ära opponiert, vor allem gegen die "Prügelschule". Inspiriert von der sozialistischen Utopie des "Neuen Menschen" hatte Tami Oelfken (bis 1924 Mitglied der KPD) ihren staatlichen Schuldienst quittiert und mit dem Geld aus ihrem väterlichen Erbe in Berlin-Lichterfelde (später Wilmersdorf) 1928 eine eigene Schule gegründet: die "Gemeinschaftsschule Tami Oelfken". In liberalen, jüdischen und linkssozialistischen Kreisen stieß das freie, humane Unterrichtskonzept auf große Resonanz. Um so vehementer entlud sich der nationalsozialistische Hass auf Tami Oelfken, die Tochter aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie in Blumenthal, nahe Bremen: Mehrere Hausdurchsuchungen und Vernehmungen musste sie über sich ergehen lassen mit dem Resultat, dass ihre Schule 1934 geschlossen wurde und sie selbst, die inzwischen 46 Jahre alt war, unter Gestapo-Aufsicht kam. Tami Oelfken erhielt als Pädagogin Berufsverbot. Und widmete sich daraufhin mehr denn je dem Schreiben, der Schriftstellerei. Doch zuvor versuchte sie, "mit ihrer Schule" nach Paris zu emigrieren, packte das gesamte Schulinventar zusammen und verließ Berlin - in der Hoffnung, sich an der Seine eine neue Existenz aufzubauen. Doch das Vorhaben scheiterte. Ebenso Versuche in England und Italien. Eine Fahrt durch das Chaos begann. Denn Tami Oelfken kehrte 1939 nach Deutschland zurück, obwohl dort "die Massenhysterie" längst "so weit" vorangeschritten war, wie sie sich von einem Arzt erzählen ließ, dass - Zitat : "gebärende Mütter Adolf Hitlers Namen schrien und es ihnen daraufhin besser ging."

    Ich kann nicht draußen sein, wenn man mein Haus beschmutzt. Ich kann es nicht.
    Sicher bin ich hilflos gegen solche dreckige Übermacht. Doch ich will wenigstens da sein, wenn es gilt, das Haus wieder zu reinigen. Und ich kann dies nur, wenn ich zusehe, wie sie es voll Unrat stopfen. Dabei ist mir nicht mal ganz klar, warum ich zugegen sein will. Klar ist mir nur, dass ich zurückfahren werde.


    Diese Zeilen trug Tami Oelfken in ihr "Logbuch aus Zeiten des Kriegs" ein, wie der Untertitel zu ihrem Buch Fahrt durch das Chaos heißt. Das opulente, 413 Seiten umfassende Werk erschien in einer Auflage von 5000 Exemplaren 1946 im Werner-Wulff-Verlag am Bodensee. Dieses unmittelbare Nachkriegsjahr war zum Lesen derartiger Literatur für die Mehrheit der Deutschen höchst ungeeignet: Hunger, Wohnungsnot und Kriegsgefangenschaft hatten sich in bezeichnender Verkehrung als "schlimme Zeit" eingeprägt - also Schluss endlich mit den Schuldzuweisungen und Vorhaltungen! Im restaurativen Klima des beginnenden Kalten Krieges wurde die Fahrt durch das Chaos darum kurzerhand abgetan. Die meisten Deutschen wollten sich als Opfer sehen, Hochkonjunktur hatten Hitlerbiografien, die zu einer "verwaschenen seelischen Geografie" des kollektiven Bewusstseins führten - so der Literaturhistoriker Manfred Bosch, der auf Tami Oelfkens "Logbuch" schon vor über zwanzig Jahren aufmerksam gemacht hatte und es nun im Zürcher Libelle Verlag mit einem vorzüglichen Nachwort neu herausgab. Tami Oelfken hat nicht weggesehen.

    Wir wissen heute noch nicht, in welch furchterregendem Ausmaß die Seelen unserer Kinder durch all jene Erlebnisse erschüttert werden, die der tierische Krieg mit sich bringt. An wie viel heimlicher und öffentlicher Grausamkeit, die von der Partei überall, im Verborgenen und in der Öffentlichkeit, begangen werden, haben sie teilgenommen! Sie sahen zu, wie weinende Menschen von der Polizei abgeholt und wie hilflose Juden verprügelt und bestohlen wurden. Wie oft hörten sie im Flüsterton das Wort "Konzentrationslager"...

    1940 trug Tami Oelfken diese Anklage in ihr Logbuch ein. Die meisten Deutschen beteuerten damals bereits, "von nichts gewusst" zu haben und blieben hartnäckig bei dieser Meinung - nicht selten bis in unsere Tage hinein! Gegen diesen "moralischen Selbstbetrug", bemerkt Manfred Bosch, habe sich Tami Oelfkens Buch richten wollen. Sei es doch der Autorin, die 1957 in München nach langer Krankheit vereinsamt starb, "um unsere geistige Wiederaufrichtung" gegangen, wie sie wörtlich schreibt. Doch nirgendwo fand das Logbuch Würdigung, geschweige denn Lob. Auch nicht später in der DDR, wo eine gekürzte Version der Fahrt durch das Chaos im Verlag der Nation veröffentlicht worden war. Zwar stufte man dort das Logbuch als "gutes Beispiel für die tief humanistischen Kräfte des Bürgertums" ein. Für ein Vorbild, tönte es damals aus Kreisen der SED, tauge es allerdings nicht, da es Tami Oelfken an "sinnvollem Widerstand" mangele.

    Überall hat es diese bedrohliche Enge der vergifteten Worte, der boshaften Anspielungen und der gehässigen Ablehnung. Das ist ungut für jede Art von Vertrauen, das wir doch in die Rechtschaffenheit unserer Mitmenschen setzen möchten. Mit wie viel Vorsicht tasten wir uns durch diese verseuchte Welt...Keiner traut dem andern, ja, kaum mehr sich selbst. Überall droht Gefahr und Verrat. Jeder hütet sich, zu sagen, was er denkt. Wer könnte es sich denn leisten, festzustellen, dass es zu wenig Butter gibt, oder zu zweifeln, dass wir siegen? Oder sich dahin zu äußern, es sei nicht felsenfest sicher, dass die Deutschen ein ehernes Recht hätten, den Erdball zu besetzen? Es gibt Fallen sonderbarer Art, und mancher hat sie kennen gelernt... Das Verbot, zu denken oder zu kritisieren, hat das bisschen Verstand in einem erschreckenden Ausmaß abgestumpft. Was man an Goebbelsschen Phrasen und an Nazigesinnung auf der Straße, am Mittagstisch und selbst aus dem Munde der Unmündigen hört, ist nicht nur lächerlich... Es beweist, dass das geistige Gift, in den Boden der Subalternität gesät, tausendfache Frucht trägt. Und die Subalternität ist eine deutsche Domäne.
    Tami Oelfkens Buch ist keine laufende Chronik der Ereignisse, gespickt mit Daten und Fakten. Ihre Aufzeichnungen 1939 bis 1945 sind vielmehr eine Mixtur aus tagebuchhafter Notiz und fingiertem Brief an den eng gewordenen Kreis von Freundinnen und Freunden, allen voran an die geliebte Fe Spemann, der Tami Oelfken ihr Logbuch auch gewidmet hat. Beklemmende Situationen und Empfindungen in eine fast schon poetische Sprache umzusetzen und Menschen unterschiedlichster Couleur alltagsgenau zu porträtieren - das sind die großen Stärken Tami Oelfkens. Und Günter Eich war es, der ihre Montage aus Nazi-Dokumenten zum 20. Juli 1944 und intensiven Naturbeschreibungen mit den Worten kommentiert hat, dass "der Trost der Bäume" wohl selten eindringlicher vermittelt worden sei! 1945 trägt Tami Oelfken in ihr Logbuch ein:

    Der Himmel ist leuchtend blau, die Apfelbäume stehen in vollster Blüte. Trotz der Schrapnellexplosion, trotz des Maschinengewehrgeknatters und trotz der daherrollenden Panzer bleiben wir auf der Terrasse sitzen. Es ist unwahrscheinlich, wie sehr sich unser Gemüt an den Zustand des totalen Krieges gewöhnt hat! (...) Eine Viertelstunde lang ist ein Höllenlärm. Gerüchte gehen durch die Häuser: Unten in der Stadt brennt es, der Museumsgarten steht in Flammen! (...) In den Kriegslärm hinein bricht jäh eine überraschende Stille, so dass wir den Birnbaum leise rauschen hören. Unten auf der Nußdorfer Chaussee rollen mit rotglühenden Augen die ersten französischen Spähwagen heran...Der Krieg ist vorbei!

    Nach der Befreiung hatte sich Tami Oelfken - unbeabsichtigt - zwischen alle Stühle gesetzt, weil sie sich klar für den politischen Dialog zwischen West und Ost aussprach. Diese "gesamtdeutsche Orientierung", erklärt Manfred Bosch im Nachwort, zog ihren Ausschluss aus dem westdeutschen Literaturbetrieb nach sich. Dass sie dennoch 1946/47 für verschiedene Rundfunksender tätig war und die FAZ, die ZEIT und Bremer Nachrichten Artikel von ihr brachten, änderte nichts grundsätzlich: Tami Oelfken geriet ins Abseits, schlimmer noch: in Vergessenheit. Dass ihre "Fahrt durch das Chaos" jetzt wieder verfügbar ist, zumal mit einem fundierten wissenschaftlichen Anhang, wirkt wie eine Wiedergutmachung. Schade nur, dass der Libelle Verlag auf dem Cover nur den Titel "Fahrt durch das Chaos" stehen ließ und den Untertitel Ein Logbuch aus Zeiten des Kriegs weggelassen hat. Der rote Umschlag mit Abenddämmerung weckt andere Assoziationen und lässt von dem aufschlussreichen Inhalt nichts ahnen.

    Tami Oelfkens Buch: Fahrt durch das Chaos, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Manfred Bosch. Erschienen ist der 413 Seiten starke Band im Libelle Verlag, und er kostet 22,30 €.