Städte wie Schwedt, Görlitz oder Hoyerswerda haben mehr als ein Viertel ihrer Bewohner verloren – in Richtung Westen, wo es noch Arbeit gibt und Zukunft.
Flächendeckende Deindustrialisierung und hohe strukturelle Erwerbslosigkeit, ökologische Altlasten und vorsintflutliche Infrastruktur, massenhafte Abwanderung und normative Desorientierung – das sind nur einige der Hypotheken der Vergangenheit, die den ostdeutschen Bundesländern bis heute zu schaffen machen.
Manche Prognosen besagen, dass 2050 nur noch acht Millionen Menschen in der ehemaligen DDR leben werden.
Aus dem ,Aufbau Ost’ wurde der ,Absturz Ost’.
Alles Zitate aus dem Buch "Das neue Deutschland", herausgegeben von der Journalistin Tanja Busse und dem Politikwissenschaftler Tobias Dürr. Die 21 Autorinnen und Autoren untersuchen den Patienten Ostdeutschland. Und Anamnese und Diagnose verlaufen meist wenig erfreulich. Doch Therapieform und Prognose fallen anders aus als erwartet. Eine der Hauptthesen des Buches lautet nämlich: Deutschland wird nicht so bleiben, wie es ist. Und wie es werden wird, kann man vom Osten lernen. Der Politikwissenschaftler Thomas Kralinski schreibt zum Beispiel über die Perspektive für Ostdeutschland: "Hier lernt die Zukunft von ganz Deutschland laufen." Herausgeber Tobias Dürr:
Wir haben doch in Westdeutschland über viele Jahre deswegen es auch nicht hinbekommen, zeitgemäße Anpassungsprozesse an gewandelte Bedingungen hinzubekommen, weil wir uns so sicher waren, dass wir ungeheuer erfolgreich waren im Westen. Weil wir ja den Osten als Beispiel dafür, wie es viel schlimmer sein könne, immer vor der Tür gehabt haben und betrachtet haben. Heute erleben wir Westdeutschen uns erstmals selbst als krisengeschüttelt. Und damit sollte, wie ich hoffe und wir in diesem Buch anzuregen versuchen, die Bereitschaft wachsen, Erfahrungen anderer zur Kenntnis zu nehmen, die mit Krisen und Reformen gewisse Erfahrungen gemacht haben in den letzten Jahren.
"Antworten auf die Frage, wie es im neuen Deutschland nach dem Ende der Illusionen weitergeht", wollen die Autoren deshalb in Ostdeutschland suchen. Ostdeutschland, das "Experimentierfeld", das "gigantische Labor", "eine wirklich neue Landschaft". Seine Bewohner werden zu "Pionieren der Zukunftsgesellschaft". Mit der Vorgabe, Antworten zu suchen, schrauben die Herausgeber die Erwartungen allerdings etwas zu hoch. Denn im Buch überwiegen die Fragen. Tanja Busse und Tobias Dürr haben viele Journalisten als Autoren gewonnen. Das bringt einige schön geschriebene Reportagen über den Status quo in Ostdeutschland, wie man sie aber auch regelmäßig in jeder gut aufgestellten Tageszeitung findet. Neue Erkenntnisse oder interessante Ideen generieren die meisten dieser Texte nicht. Eine Ausnahme: Der Aufsatz von Zeit-Redakteur Toralf Staud über die Ostdeutschen als Migranten:
Egal, ob es um Iren in Amerika geht, um sowjetische Juden in Israel, um Chinesen in Australien; egal ob Migrationserfahrungen aus dem 18., dem 19. oder dem 20. Jahrhundert analysiert werden – vieles klingt ganz so, als ginge es um Ostdeutsche in den Jahren nach der Wiedervereinigung. Allen ist gemeinsam, dass sie die gewohnte Umgebung verlassen haben, dass sie sich in ihrer neuen Heimat anfangs wie ,elende Grünschnäbel’ fühlten, wie ,Kindlein im Walde’, wie ,Vögel, die noch nicht fliegen können’. [...] Dass die Ostdeutschen ihr Land nicht verließen, machte die Umstellung nicht einfacher, sondern wahrscheinlich sogar schwerer. Bei einem realen Umzug wäre die Tragweite des Ereignisses von vornherein klar gewesen.
Ein paar wenige Antwortversuche auf die Frage, wohin Deutschlands Reise gehen könnte, finden sich aber doch, in der Regel formuliert von den Wissenschaftlern, die sich an "Das neue Deutschland" beteiligt haben. Der Soziologe Wolfgang Engler zum Beispiel proklamiert das Ende der jetzigen Arbeitsgesellschaft. Er wählt das erheblich flexiblere dänische Arbeitsmarktmodell zum Vorbild. Tobias Dürr referiert die Auseinandersetzung anderer Autoren mit der demographischen Frage:
Wie man Städte organisiert, die halb so groß sind wie die materielle Bausubstanz und die Infrastruktur dort, das ist eine Situation, für die es kein Beispiel gibt in der Geschichte der letzten Jahrhunderte. Wir sind es gewohnt, dass Städte immer wachsen. Dörfer, Städte sind in den letzten 200 Jahren immer größer geworden, niemals kleiner. Und die Erfahrung, dass Städte schrumpfen und was man dann anfangen kann, ob man Bausubstanz ganz wegnimmt oder ob man zulässt, dass große Stadtgebiete leer stehen und wie man öffentliche Dienste organisiert in solchen Städten, dafür werden in Ostdeutschland Lösungen gefunden, und man kann voraussagen, dass diese Lösungen auch für Westdeutschland in nicht allzu langer Zukunft sehr aufschlussreich sein werden, weil auch die eine oder andere westdeutsche Region beginnen wird, sich mit denselben Problemen herumzuschlagen.
Die meisten Aufsätze des Buches betrachten Ostdeutschland aus ökonomischer oder politikwissenschaftlicher Perspektive. Es fehlt der etwas weichere psychologische oder soziologische Ansatz zu fragen, was uns die ostdeutsche Gefühlslage heute über das kommende Deutschland verrät. Alexander Thumfart geht ein wenig in diese Richtung mit seinem Aufsatz über "uncivility", womit er Ausgrenzung und Gleichgültigkeit bezeichnet. Der Erfurter Politikwissenschaftler beobachtet in Ostdeutschland immer weiter wachsende Kreise gesellschaftlich Ausgeschlossener, die auch Westdeutschland bevorstehen. Kann es denn überhaupt gelingen, den westdeutschen Blick auf das Experimentierfeld Ostdeutschland auszurichten? Skepsis ist angebracht. Die Bereitschaft westdeutscher Eliten, die ja hauptsächlich unser Land regieren, sich an Ostdeutschland ein Beispiel zu nehmen, darf man wohl nicht allzu groß einschätzen.
Diese Bereitschaft ist sicherlich nicht weit verbreitet. Es besteht die Gefahr, dass Reformprozesse pathologisch verlaufen. Das kann auch in Westdeutschland der Fall sein. Statt nach außen zu gucken, statt zu gucken, wo man Anregungen finden kann, ziehen sich Menschen, Gruppen, Gesellschaften, wenn sie die falschen Schlüsse ziehen, auch auf sich selbst zurück. Verweigern gewissermaßen die Wahrnehmung neuer Wirklichkeit. Aber bei solchen Dingen hängt vieles ab von dem Verlauf von Diskursen. Und dieses Buch versteht sich als eine Anregung zu einer neuen Debatte. Es ist der Versuch, einen Perspektivwechsel hinzubekommen. Einen Perspektivwechsel, an dessen Ende die Erkenntnis stehen könnte: So anders, als wir gedacht haben, ist der ostdeutsche Landesteil gar nicht mehr, weil dort dieselben Probleme verhandelt werden und verhandelt werden müssen wie bei uns. Und auf die Art und Weise könnte man ins Gespräch kommen.
Vielleicht, so überlegt der Kultursoziologe Detlef Pollack in seinem Aufsatz, vielleicht ist der Westen für den Osten einfach noch nicht reif. Die Ostalgie-Welle als neu erwachtes Interesse am Osten der Republik zu deuten, hält Tobias Dürr jedenfalls für einen Irrtum:
Für den Westen ist es schön, noch einmal die alte Überlegenheit gewissermaßen ex negativo vorgeführt zu bekommen. Wenn es die DDR noch gibt und die Leute fahren mit den Trabis durchs Studio in diesen Ostalgie-Shows, dann ist man sich ja der alten westdeutschen Überlegenheit plötzlich wieder gewahr. Und das verschafft Erleichterung, wenigstens momentan für den einen Abend. Am nächsten Morgen hat man dann wieder mit 4 Millionen Arbeitslosen und mit wachsenden Defiziten usw. zu tun. Es lenkt einfach ab. Die Ostalgie-Welle hilft nicht, sie lenkt ab.
Man kann die Fragestellung von "Das neue Deutschland" noch weiterdrehen: Was kann der Westeuropäer vom Osteuropäer lernen? "An der 465 Kilometer langen deutsch-polnischen Grenze zeigt sich die Zukunft des neuen Europas schon heute", behauptet nämlich zum Beispiel der "taz"-Redakteur Uwe Rada. Denn nächstes Jahr wächst Europa um acht Staaten nach Osten an. Und die Bewohner dieser Länder haben nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts noch ganz andere Leistungen vollbracht als die Ostdeutschen, meint Herausgeber Tobias Dürr:
Die ostmitteleuropäischen Länder, die nunmehr Mitglieder der EU werden, haben gegenüber den ostdeutschen Bundesländern meines Erachtens einen riesengroßen Vorteil: Sie waren in diesen etwa anderthalb Jahrzehnten des dauernden Umbruchs und des dauernden Reformprozesses mehr oder minder auf sich gestellt. Es gab kein Westpolen, dem sich die östliche Hälfte von Polen angeschlossen hat. Das hat, wie ich glaube, in einem stärkeren Maße, als es in Ostdeutschland festzustellen ist, zu einer Situation geführt, in der die Menschen begriffen haben: Wenn wir’s nicht selber machen, dann macht’s keiner für uns. Und wenn nun diese Staaten zur EU hinzukommen mit einem sehr – wie soll man sagen – "macherischen" Gestus, den dort viele Menschen haben, dann bedeutet das auch eine neue Herausforderung.
Doch auch auf europäischer Ebene ist die Frage, ob sich der ökonomisch immer noch überlegene Westen herablassen wird, vom psychologisch überlegenen Osten zu lernen. Wahrscheinlich bleibt uns aber in nicht allzu ferner Zukunft gar nichts anderes mehr übrig.
Flächendeckende Deindustrialisierung und hohe strukturelle Erwerbslosigkeit, ökologische Altlasten und vorsintflutliche Infrastruktur, massenhafte Abwanderung und normative Desorientierung – das sind nur einige der Hypotheken der Vergangenheit, die den ostdeutschen Bundesländern bis heute zu schaffen machen.
Manche Prognosen besagen, dass 2050 nur noch acht Millionen Menschen in der ehemaligen DDR leben werden.
Aus dem ,Aufbau Ost’ wurde der ,Absturz Ost’.
Alles Zitate aus dem Buch "Das neue Deutschland", herausgegeben von der Journalistin Tanja Busse und dem Politikwissenschaftler Tobias Dürr. Die 21 Autorinnen und Autoren untersuchen den Patienten Ostdeutschland. Und Anamnese und Diagnose verlaufen meist wenig erfreulich. Doch Therapieform und Prognose fallen anders aus als erwartet. Eine der Hauptthesen des Buches lautet nämlich: Deutschland wird nicht so bleiben, wie es ist. Und wie es werden wird, kann man vom Osten lernen. Der Politikwissenschaftler Thomas Kralinski schreibt zum Beispiel über die Perspektive für Ostdeutschland: "Hier lernt die Zukunft von ganz Deutschland laufen." Herausgeber Tobias Dürr:
Wir haben doch in Westdeutschland über viele Jahre deswegen es auch nicht hinbekommen, zeitgemäße Anpassungsprozesse an gewandelte Bedingungen hinzubekommen, weil wir uns so sicher waren, dass wir ungeheuer erfolgreich waren im Westen. Weil wir ja den Osten als Beispiel dafür, wie es viel schlimmer sein könne, immer vor der Tür gehabt haben und betrachtet haben. Heute erleben wir Westdeutschen uns erstmals selbst als krisengeschüttelt. Und damit sollte, wie ich hoffe und wir in diesem Buch anzuregen versuchen, die Bereitschaft wachsen, Erfahrungen anderer zur Kenntnis zu nehmen, die mit Krisen und Reformen gewisse Erfahrungen gemacht haben in den letzten Jahren.
"Antworten auf die Frage, wie es im neuen Deutschland nach dem Ende der Illusionen weitergeht", wollen die Autoren deshalb in Ostdeutschland suchen. Ostdeutschland, das "Experimentierfeld", das "gigantische Labor", "eine wirklich neue Landschaft". Seine Bewohner werden zu "Pionieren der Zukunftsgesellschaft". Mit der Vorgabe, Antworten zu suchen, schrauben die Herausgeber die Erwartungen allerdings etwas zu hoch. Denn im Buch überwiegen die Fragen. Tanja Busse und Tobias Dürr haben viele Journalisten als Autoren gewonnen. Das bringt einige schön geschriebene Reportagen über den Status quo in Ostdeutschland, wie man sie aber auch regelmäßig in jeder gut aufgestellten Tageszeitung findet. Neue Erkenntnisse oder interessante Ideen generieren die meisten dieser Texte nicht. Eine Ausnahme: Der Aufsatz von Zeit-Redakteur Toralf Staud über die Ostdeutschen als Migranten:
Egal, ob es um Iren in Amerika geht, um sowjetische Juden in Israel, um Chinesen in Australien; egal ob Migrationserfahrungen aus dem 18., dem 19. oder dem 20. Jahrhundert analysiert werden – vieles klingt ganz so, als ginge es um Ostdeutsche in den Jahren nach der Wiedervereinigung. Allen ist gemeinsam, dass sie die gewohnte Umgebung verlassen haben, dass sie sich in ihrer neuen Heimat anfangs wie ,elende Grünschnäbel’ fühlten, wie ,Kindlein im Walde’, wie ,Vögel, die noch nicht fliegen können’. [...] Dass die Ostdeutschen ihr Land nicht verließen, machte die Umstellung nicht einfacher, sondern wahrscheinlich sogar schwerer. Bei einem realen Umzug wäre die Tragweite des Ereignisses von vornherein klar gewesen.
Ein paar wenige Antwortversuche auf die Frage, wohin Deutschlands Reise gehen könnte, finden sich aber doch, in der Regel formuliert von den Wissenschaftlern, die sich an "Das neue Deutschland" beteiligt haben. Der Soziologe Wolfgang Engler zum Beispiel proklamiert das Ende der jetzigen Arbeitsgesellschaft. Er wählt das erheblich flexiblere dänische Arbeitsmarktmodell zum Vorbild. Tobias Dürr referiert die Auseinandersetzung anderer Autoren mit der demographischen Frage:
Wie man Städte organisiert, die halb so groß sind wie die materielle Bausubstanz und die Infrastruktur dort, das ist eine Situation, für die es kein Beispiel gibt in der Geschichte der letzten Jahrhunderte. Wir sind es gewohnt, dass Städte immer wachsen. Dörfer, Städte sind in den letzten 200 Jahren immer größer geworden, niemals kleiner. Und die Erfahrung, dass Städte schrumpfen und was man dann anfangen kann, ob man Bausubstanz ganz wegnimmt oder ob man zulässt, dass große Stadtgebiete leer stehen und wie man öffentliche Dienste organisiert in solchen Städten, dafür werden in Ostdeutschland Lösungen gefunden, und man kann voraussagen, dass diese Lösungen auch für Westdeutschland in nicht allzu langer Zukunft sehr aufschlussreich sein werden, weil auch die eine oder andere westdeutsche Region beginnen wird, sich mit denselben Problemen herumzuschlagen.
Die meisten Aufsätze des Buches betrachten Ostdeutschland aus ökonomischer oder politikwissenschaftlicher Perspektive. Es fehlt der etwas weichere psychologische oder soziologische Ansatz zu fragen, was uns die ostdeutsche Gefühlslage heute über das kommende Deutschland verrät. Alexander Thumfart geht ein wenig in diese Richtung mit seinem Aufsatz über "uncivility", womit er Ausgrenzung und Gleichgültigkeit bezeichnet. Der Erfurter Politikwissenschaftler beobachtet in Ostdeutschland immer weiter wachsende Kreise gesellschaftlich Ausgeschlossener, die auch Westdeutschland bevorstehen. Kann es denn überhaupt gelingen, den westdeutschen Blick auf das Experimentierfeld Ostdeutschland auszurichten? Skepsis ist angebracht. Die Bereitschaft westdeutscher Eliten, die ja hauptsächlich unser Land regieren, sich an Ostdeutschland ein Beispiel zu nehmen, darf man wohl nicht allzu groß einschätzen.
Diese Bereitschaft ist sicherlich nicht weit verbreitet. Es besteht die Gefahr, dass Reformprozesse pathologisch verlaufen. Das kann auch in Westdeutschland der Fall sein. Statt nach außen zu gucken, statt zu gucken, wo man Anregungen finden kann, ziehen sich Menschen, Gruppen, Gesellschaften, wenn sie die falschen Schlüsse ziehen, auch auf sich selbst zurück. Verweigern gewissermaßen die Wahrnehmung neuer Wirklichkeit. Aber bei solchen Dingen hängt vieles ab von dem Verlauf von Diskursen. Und dieses Buch versteht sich als eine Anregung zu einer neuen Debatte. Es ist der Versuch, einen Perspektivwechsel hinzubekommen. Einen Perspektivwechsel, an dessen Ende die Erkenntnis stehen könnte: So anders, als wir gedacht haben, ist der ostdeutsche Landesteil gar nicht mehr, weil dort dieselben Probleme verhandelt werden und verhandelt werden müssen wie bei uns. Und auf die Art und Weise könnte man ins Gespräch kommen.
Vielleicht, so überlegt der Kultursoziologe Detlef Pollack in seinem Aufsatz, vielleicht ist der Westen für den Osten einfach noch nicht reif. Die Ostalgie-Welle als neu erwachtes Interesse am Osten der Republik zu deuten, hält Tobias Dürr jedenfalls für einen Irrtum:
Für den Westen ist es schön, noch einmal die alte Überlegenheit gewissermaßen ex negativo vorgeführt zu bekommen. Wenn es die DDR noch gibt und die Leute fahren mit den Trabis durchs Studio in diesen Ostalgie-Shows, dann ist man sich ja der alten westdeutschen Überlegenheit plötzlich wieder gewahr. Und das verschafft Erleichterung, wenigstens momentan für den einen Abend. Am nächsten Morgen hat man dann wieder mit 4 Millionen Arbeitslosen und mit wachsenden Defiziten usw. zu tun. Es lenkt einfach ab. Die Ostalgie-Welle hilft nicht, sie lenkt ab.
Man kann die Fragestellung von "Das neue Deutschland" noch weiterdrehen: Was kann der Westeuropäer vom Osteuropäer lernen? "An der 465 Kilometer langen deutsch-polnischen Grenze zeigt sich die Zukunft des neuen Europas schon heute", behauptet nämlich zum Beispiel der "taz"-Redakteur Uwe Rada. Denn nächstes Jahr wächst Europa um acht Staaten nach Osten an. Und die Bewohner dieser Länder haben nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts noch ganz andere Leistungen vollbracht als die Ostdeutschen, meint Herausgeber Tobias Dürr:
Die ostmitteleuropäischen Länder, die nunmehr Mitglieder der EU werden, haben gegenüber den ostdeutschen Bundesländern meines Erachtens einen riesengroßen Vorteil: Sie waren in diesen etwa anderthalb Jahrzehnten des dauernden Umbruchs und des dauernden Reformprozesses mehr oder minder auf sich gestellt. Es gab kein Westpolen, dem sich die östliche Hälfte von Polen angeschlossen hat. Das hat, wie ich glaube, in einem stärkeren Maße, als es in Ostdeutschland festzustellen ist, zu einer Situation geführt, in der die Menschen begriffen haben: Wenn wir’s nicht selber machen, dann macht’s keiner für uns. Und wenn nun diese Staaten zur EU hinzukommen mit einem sehr – wie soll man sagen – "macherischen" Gestus, den dort viele Menschen haben, dann bedeutet das auch eine neue Herausforderung.
Doch auch auf europäischer Ebene ist die Frage, ob sich der ökonomisch immer noch überlegene Westen herablassen wird, vom psychologisch überlegenen Osten zu lernen. Wahrscheinlich bleibt uns aber in nicht allzu ferner Zukunft gar nichts anderes mehr übrig.