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Tanz den Algo Rave!

Algorithmen sind sonderbare grafische Gebilde, die den allermeisten Menschen beim Ansehen rein gar nichts sagen. Diese nutzt eine kleine Musikerszene: Live Coder oder Algo Raver nennen sie sich und geben Algorithmen live auf der Bühne in ihre Computer ein, um Musik zu machen. Derzeit touren sie durch Europa.

Von Peter Backof |
    Die Musik holpert, plätschert, mäandert. Mal verändert sich der Rhythmus, mal kommt plötzlich etwas dazu, anderes verschwindet. Eine unendliche Metamorphose von Tonhöhen, Klangfarben, Sinus- und Sägezahnwellen.
    Der Brite Andrew Sorensen tippt das alles live in seinen Laptop ein. Schön anschaulich gemacht für das Publikum, als Großprojektion an die Wand: Eine kryptische Programmiersprache ist da zu sehen. Sorensen verändert per Live-Eingabe im Text einige Parameter-Werte seiner Musik, und schon klingt es plötzlich so:
    "Extempore" heißt die Programmiersprache, die Sorensen selbst entwickelt hat: Was man hört, ist, was man sieht. Dieser Aspekt hat Kurator Julian Rohrhuber vom Institut für Musik und Medien in Düsseldorf begeistert:

    "Wenn man mit nem Programm interagiert, ist natürlich ein Stück Text auch ne Handlung: die Idee, dass Worte nicht nur Beschreibungen sind, nicht unbedingt Beobachtungen repräsentieren, sondern was verändern. Also Worte sind nicht Handlungsanweisungen, sondern sie sind selbst die Handlung."

    Handlungsanweisung, Befehlszeile, fast zu spröde Bezeichungen, für die originellen Improvisationen beim Live Coding. Die Musiker "Holger", "Matthias" und "Shelly" – so heißen auch die drei nebeneinander angeordneten Textfenstern der Screenshot Projektion an der Wand – musizieren zu dritt. Jeder kann sehen, welche Algorithmen der andere eingibt und wie er sie verändert. Zusätzlich haben sie die Möglichkeit, sich via Text-Chat zu verständigen: "Wenn Du den Drone Klang machen willst, mach mal jetzt!" steht da plötzlich. Linguisten sowie Musikwissenschaftler würden jubeln, ob der Text-Ebenen: Das ist ja digitaler Jazz, denn die Musiker können so in Echtzeit ständig aufeinander reagieren, ihre Improvisation aufeinander abstimmen. Julian Rohrhuber:

    "Normalerweise werden ja Programme zuerst geschrieben, um sie dann zu benutzen. Das heißt, der Programmcode, die Sprache hinter dem Programm, ist normalerweise versteckt."

    Und man sieht, herkömmlicherweise beim elektronischen Musikmachen: eine Benutzeroberfläche, die wie ein Mischpult aussieht, Animationen von Reglern und Drehknöpfen, die man dann nutzen kann wie ein Instrument. Julian Rohrhuber:

    "Die Idee ist, das alles wegzulassen. Die algorithmische Beschreibung ist gleich der Klang. Man muss nur Systeme haben, die so flexibel sind, dass sie auch erlauben, das Programm während des Laufen zu verändern."

    Was das in der Praxis heißt, übersetzt ein Musiker des "Trio Brachiale": Er tritt auf mit verkabelten Händen und Armen. Bewegungssensoren sind so mit dem Programm auf dem Computer vernetzt. Wenn er also mit den Armen wedelt, verändert er einen Zahlenwert im Text der Musik. Das können dann Tonhöhen sein, Taktzahlen, es gibt unendliche Möglichkeiten.

    Mehrfach ineinander verschachtelte Improvisationskonzepte findet – wieder – Andrew Sorensen spannend: Jemand singt, ein Co-Musiker nimmt das auf, verändert es. Eine Art Ping Pong zwischen analoger und digitaler Ebene, das sich ins Unendliche fortsetzen ließe. Und das ist auch das Problem der so erzeugten Musik: eben, dass sie holpert, plätschert und mäandert. Der Konzertabend hat bisweilen Längen und klingt nach Tag der Offenen Tür an einer Musikakademie. Statt zuzuhören, wollte man manchmal lieber selbst interagieren: Selbst Codes ändern und sich überraschen lassen, was dann passiert. Aber:

    "Es ist nichts, was sich besonders hoch einstuft, als irgendwie Hoch-Kunst, sondern es ist eine sehr punkige Form, Abstraktion in den Vordergrund zu rücken."

    Julian Rohrhuber hat auch Ernesto Romero und Jorge Ramirez, die Zwei-Mann Band "Mico Rex" aus Mexico City, für die Algo Rave Tour engagiert.

    "Hier haben wir einen Joystick in einen alten Weinkarton montiert, unser Eingabegerät, auf dem wir rumhämmern und am Konzertende wird der auch mal zertrümmert"

    sagt Romero. Als Musikinformatiker sind die beiden Autodidakten und verorten sich eher in der Hip Hop Szene als in akademischen Zusammenhängen. In Mexico City sei Live Coding unter den Elektro-Punks derzeit Trend. Und man darf gespannt sein, wie man in nächster Zeit modifizierten Algorithmen auch in der internationalen Mainstream-Popmusik begegnen wird. Zum Beispiel mit einer Light Show, die nichts anderes ist als der buchstäbliche Text, den man hört.