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Tanz der Gegenwart

Der belgische Choreograf Alain Platel versteht den menschlichen Körper als ein emotionales Werkzeug. Sein neuestes Werk "Out of Context" könnte nicht klarer zeigen, dass den Tänzern von heute nichts als die Stücke fehlen. Das ist das Beklemmende, das Verstörende dieses Abends.

Von Wiebke Hüster |
    Der Beginn von Alain Platels neuer Choreografie ist schrecklich spröde, unerwartet trocken. Ganz hinten auf der leeren schwarzen Bühne liegt ein Stapel Decken in ausgewaschenem Rot. Weiter vorne warten zwei verkabelte Mikrofone auf ihren Einsatz. Stille. Niemand zu sehen.

    Nichts geschieht. Endlich nähert sich eine Frau im grauen Mantel aus der Tiefe des Zuschauerraums der Bühne. Die Tänzerin Rosalba Torres Guerrero überquert die Spielfläche und beginnt, sich neben dem Stapel Wolldecken bedächtig auszuziehen. Alle Kleider faltet sie zu einem ordentlichen Haufen. Schließlich steht sie in Unterwäsche da, eine Decke um die Schultern gehängt.

    Die anderen acht Tänzer der Compagnie – zwei Frauen und sechs Männer folgen ihr nach und nach aus dem Publikum und ziehen sich mit ähnlich ritueller Langsamkeit aus, wobei sie dem Publikum den Rücken zuwenden. Endlich stehen alle in ihren Wolldecken barfuß auf dem schwarzen Tanzteppich. Aus den Lautsprechern muht es. Ein Löwe brüllt, eine Antilope galoppiert in Panik davon. Die Tänzerherde erhebt sich auf halbe Spitze, wie prüfend, wie um die Nase besser in den Wind halten zu können.

    Noch immer ist ganz unklar, welcher Fährte dieses Stück folgen wird. Der Titel "Out of Context" - aus dem Zusammenhang – ist vieldeutig. Zuvörderst muss man ihn auf die Abwesenheit von Musik beziehen. In seinen berühmtesten Stücken hat sich der flämische Regisseur Platel seit 1984 mit ganzen musikalischen Welten auseinandergesetzt. "Iets op Bach" kontrastierte geistliche Musik von Johann Sebastian Bach mit dem Leben in den Hochhäusern einer Trabantensiedlung. Seltsame Vorstadtcowboys gestatteten einen Einblick in ihr Leben unter Satellitenschüsseln und Wäsche verhangenen Hochhaus-Balkonen. Es war zugleich ergreifend und komisch, wie das Singen von Vergebung, Liebe und Erlösung zu den Alltagsdramen dieser Figuren ein neues Verständnis der Musik entwickelte.

    Platels Grundidee, die er in verschiedene musikalische und szenische Formen goss, beruhte auf der Konfrontation von musikalischer Hochkultur mit einem virtuosen, aber rauen Tanz in einer Szenerie von Drop-outs, von verlorenen Existenzen, die sich vor den geschlossenen Gittertoren von Ladengalerien herumdrücken, wilde Hunde dressieren oder sinnlose Kunststücke einstudieren. Das Leben ist eine nächtlich ausgestorbene Fußgängerzone, in der sich die Einsamen treffen, die keine Lust haben nach Hause zu gehen – oder kein Zuhause. So war das in seinem Mozart-Stück "Wolf" in seiner Monteverdi-Choreografie "Vespers" oder in "Pitié".

    Was sich in der Tanzsprache Platels lange andeutete, formuliert "Out of context" jetzt ohne musikalisch bindende Bezüge aus: Hier wird fast nur noch mit den Armen geschlenkert, hier knicken ständig Knie ein, kippen Köpfe weg. Zehen spreizen sich, Finger krallen, Augen verdrehen sich, Zungen schieben sich aus den Mündern. Gesichtsausdrücke verrutschen plötzlich, Gier, Verzückung, Abwesenheit wechseln schneller, als sich Motive dafür finden lassen. Körper schieben sich aneinander auf der Suche nach Wärme, Nähe und Lust. All dies geschieht, wie der Titel sagt, vollkommen ohne jeden Zusammenhang.

    Es gibt keinen Text, keine Logik, keine Vergangenheit oder Zukunft von Beziehungen, nur den Moment, den Instinkt, einen Geruch, ein Geräusch, eine schweigende, körperliche Reaktion auf etwas in der Luft, etwas vom Wetter oder von den Geistern Eingeflüstertes. Es ist enorm befremdend, wie diese Tänzer in einem Augenblick wie ein Tier in der Herde agieren, ruhig, aber wachsam, und im nächsten von Zuckungen und Tics besessen eine Art Anfall erleiden. Es geht Platel um einen rein bewegungsimmanenten Kontrast von Virtuosität einerseits und einem vollkommen unkontrollierten, unbewussten, einem abwesenden Verstand geschuldeten Agieren andererseits. Eine lange Darstellung von tänzerischer Ekstase zu einem Computerbeat, der das Ensemble wie ein Herzschlag vorwärtstreibt, steht im Zentrum.

    Abwechselnd singen die Tänzer hinter dem Mikrofon einen Hit nach dem anderen an und tanzen sich dazu die Seele aus dem Leib. Das Material der MTV-Clips tragen sie mit einer wundervollen Ironie vor. Was für ein Irrsinn, wie die Welt der Musikindustrie einer Horde Wahnsinniger vorgaukelt, sie könnten alle Stars werden – und darin läge auch die größte denkbare menschliche Erfüllung, die Möglichkeit, alle Gefühle in XXL auszudrücken.

    Das ist der Tanz der Gegenwart. Platel hat seine Szenen der aus der Stück-Welt Gefallenen der verstorbenen Pina Bausch gewidmet. "Out of Context" könnte nicht klarer zeigen, dass den virtuosen Tänzern von heute und ihrer unglaublichen Ausdrucksfähigkeit und technischen Perfektion nichts als die Stücke fehlen. Das ist das Beklemmende, das Verstörende dieses Abends.

    Dass Platel am Ende eine Jazz-Version von "Nothing compares to you" einspielt, zu der sich die Tänzer wieder ankleiden, ist eigentlich unnötig und eher pathetisch als ergreifend.

    Infos:

    Das Kaaitheater in Brüssel