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Tanz in Genf

Zahlreiche internationale Organisationen haben ihren Sitz am Genfer See und jedes Jahr werden Tausende von Konferenzen dort abgehalten. Als kulturelle Metropole kennt man Genf hingegen weniger, außer in Sachen Tanz und Ballett. Denn pro Saison präsentiert die traditionsreiche Tanz-Compagnie hochklassige Uraufführungen. In dieser Woche war es wieder soweit. Dem Genfer Publikum haben sich gestellt: "Loin" vom Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui und "Black Rain" von Annabelle Lopez Ochoa.

Von Wiebke Hüster |
    Manche Tanzstücke lassen sich am trefflichsten von ihrem Ende her beschreiben. In Sidi Larbi Cherkaouis gefeierter Uraufführung "Loin" - fern - steht am Ende Manuel Vignolle auf den Rücken aller eng aneinander geschmiegter Tänzer des Genfer Balletts - wie ein Seemann auf einem Ausguck. Versucht er, noch fernere Gestade zu entdecken als jene, an die das Ensemble eben auf phantastische Weise sein Publikum entführt hatte? Erinnerte doch das Bühnenbild mit wehenden Seidenvorhängen und mauretanischen, durchbrochenen Wänden an einen Palast aus Tausendundeiner Nacht, die wunderschönen Kostüme mit ihren Kimonos, Kaftanen und weiten Hosen an orientalische oder asiatische Krieger, die Tänzer an ein Trüppchen Versprengter, das den strengen Geboten seiner Kunst folgt und dem Fremden, Fernen der Epochen, Stile und Nationalitäten mit Neugier, Respekt und Witz begegnet. Das tiefernste und konzentrierte Band um diese Szenenfolge aus Geschichten über ferne Länder und von einander faszinierte und amüsierte Fremde bildet Musik aus dem 17. Jahrhundert - Auszüge aus Heinrich Ignaz Franz Bibers "Rosenkranz-Sonaten". Ein solches Ende einer Choreographie aber ist für Cherkaouis "Loin" so passend wie schön - deutet es doch an, die eben entworfene Theaterwelt finde keineswegs mit dem fallenden Vorhang ihr Ende. Vielmehr ist von nun an das Tun und Treiben der Tänzer, sind ihr Empfinden und Kämpfen, sind ihre Gesänge und ihre Scherze dem Publikum verschlossen. Aber das Gefühl, in der Wiederholung liege das Geheimnis des Könnens und der Weisheit, hat sich während der Dreiviertelstunde tief eingeprägt. Während des ganzen Stücks knistert die Luft im Theater, soviel Energie und Konzentration strömt von der Bühne herab. Diese Kraft des Repetitiven und Meditativen kennt sonst nur die religiöse Praxis - als Gebot täglich mit Enthusiasmus zu wiederholender Übungen.

    In geradezu verräterischer Weise charakteristisch hingegen ist jenes Finale, mit dem Annabelle Lopez Ochoa die Uraufführung ihrer Choreographie "Black Rain" - "Schwarzer Regen" - beschließt. Während ein in hautfarbene Unterwäsche gekleidetes Paar einen mehr akrobatischen als erotischen Pas de deux ausklingen lässt, gibt der Inspizient im Verborgenen der Technik die letzte Anweisung vor dem Verlöschen der Bühnenbeleuchtung: "Wasser marsch". Und so bleiben Adam und Eva Hand in Hand im Regen stehen, bis Dunkelheit sie gnädig den Blicken des Publikums entzieht. Regen auf nackter Theaterhaut, wie poetisch. Charakteristisch für das gesamte Stück ist an seinem Ende das Gefühl, diesen Kitsch schon einmal irgendwo gesehen zu haben - nur schöner. Denn die hauptsächlich in den Niederlanden arbeitende Belgierin Annabelle Lopez Ochoa beweist in "Black Rain" von der ersten bis zur feuchten letzten Minute, dass bei ihr meist Klischees eigene Einfälle ersetzen müssen. Grant Aris als der geheimnisvolle Beherrscher der Szene im grauen Anzug vollführt eingangs Hiphop-ähnliche, rhythmisch zerrissene Bewegungen. Die rechte Hand hält er wiederholt an sein Ohr, als reiße eine Mobilfunkverbindung ihm ständig ab. Für das nasse Ende muss ebenso wie für diesen rätselhaften Beginn die Aria aus Johann Sebastian Bachs "Goldberg-Variationen" herhalten - elektronisch untermalt. Wen es da noch nicht schaudert, der warte auf den Einsatz des gesamten Ensembles von zweiundzwanzig Tänzern, die in mutwillig zerrissenen Leibchen vor ständig wechselnden Leinwandprojektionen durcheinander tanzen. Stacheldraht wechselt da mit multidimensionalen Computergraphiken ab, man weiß nicht, warum. Wenn man sich gerade darauf eingestellt hat, dass die armen Tänzer von dem Mann mit dem abreißenden Funkkontakt wahrscheinlich in irgendeinem Lager herumkommandiert werden, dann erscheinen Adam und Eva und tanzen, als seien sie eben aus einem Paradies-Ballettstudio vertrieben worden, in dem William Forsythe, Nacho Duato und Hans van Manen gleichzeitig das Kommando zu führen versuchten. Auch keine schöne Vorstellung. Aber der Abend fand ja noch sein gutes Ende - mit dem Stück des jungen Belgiers Cherkaoui. Mit "Loin" hat er ein weiteres Mal bewiesen, zu welchen erfinderischen, erstaunlichen Exkursionen in die Tanzwelt er einlädt.