Im Flugzeug nach El Hierro sitzen fast nur Einheimische. Wir fliegen in niedriger Höhe um die Insel Teneriffa herum, nahe am schneebedeckten Gipfel des Teide vorbei. Dann geht es hinaus auf den stürmischen Atlantik. Wir überfliegen die Nachbarinsel Gomera, dann kommt El Hierro in Sicht: ein abweisender, schwarzer Felsen im tosenden Meer. Wir landen auf einem schmalen Betonstreifen am Fuße eines Steilhangs.
Die Passagiere atmen auf. Sie sind wieder zu Hause.
Eine unwirkliche Landschaft empfängt uns: schroffe, dunkle Lavafelsen, ein paar Büsche krallen sich ins poröse Gestein. In engen Serpentinen geht es mit dem Auto hinauf bis auf 600 Meter Höhe, in die Inselhauptstadt Valverde. Durch die ausgestorben wirkende Kleinstadt ziehen Nebelfetzen. Schachtelartige Häuser verteilen sich auf mehreren steilen Hängen, dazwischen wächst eine üppige Vegetation. El Hierro fängt den stetig wehenden, feuchten Passatwind des Atlantiks ein, deshalb sind die Höhenzüge der Vulkaninsel oft in Wolken eingehüllt.
El Hierro ist der Außenseiter unter den kanarischen Inseln. Nur wenige Touristen verschlägt es hierher. Die meisten der knapp 10.000 Einwohner leben wie in alten Zeiten von der Schafzucht, vom Ackerbau und von der Fischerei. Einzigartige Traditionen sollen sich hier bewahrt haben, eine Kultur, die noch auf die Zeiten der Conquista, der Eroberung Lateinamerikas durch die Spanier, zurückgeht.
Hinter Valverde wabert Nebel durch eine in zartes Grün getauchte Gebirgslandschaft. Dazwischen: Bäume, Sträucher, eingezäunte Plantagen. An kahlen Vulkanhängen stehen einzelne, vom Wind gebeugte Wacholderbäume. Eine traumverlorene Landschaft.
Weiter im Süden reißt der Himmel plötzlich auf, die Sonne brennt. Das Dorf El Pinar liegt auf der Hochebene, am Rand eines dichten Kiefernwaldes. Mit seinen weiß getünchten spanischen Kolonialhäusern unter gleißender Sonne wirkt der Ort mediterran. Auf einer Mauer an der Hauptstraße sitzen die alten Männer und unterhalten sich lautstark. Aus der Bar tönt Gitarrenmusik.
Auf zwei klapprigen Stühlen sitzen Eugenio und Guillermo, zwei Rentner. Sie vertreiben sich den Nachmittag mit Musizieren, auch wenn ihnen kaum jemand zuhört. Das Liebeslied, das sie spielen, hat Eugenio aus Südamerika mitgebracht.
Mit seiner kräftigen Statur, dem schmalen Oberlippenbart und der getönten Brille wirkt er wie ein südamerikanischer Grundbesitzer. 40 Jahre lang hat Eugenio in Venezuela gelebt. Wie viele junge Männer von El Hierro ist er in den 1950er Jahren vor der Armut geflohen und nach Südamerika ausgewandert.
Er erzählt, wie sie mit kleinen Booten gen Westen aufgebrochen sind, wie sie dem Atlantik getrotzt haben und ohne jeden Besitz an der Küste der Neuen Welt gelandet sind. Eugenio hat sich in Venezuela ein neues Leben aufgebaut, hat geheiratet und Kinder gezeugt.
"Als mein Vater krank wurde, bin ich nach El Hierro zurück. Ich wollte eigentlich nur 45 Tage bleiben, aber dann hatte ich einen Autounfall. Acht Operationen waren es, ich wäre fast gestorben."
Seine venezolanische Frau kam mit den jüngsten Kindern nach - und blieb. Inzwischen ist seine Familie über den Erdball verstreut. Zwei Kinder sind gestorben, ein Sohn lebt in den USA, ein anderer ist ebenfalls nach El Hierro gezogen und betreibt eine Bar. Eine Tochter lebt noch drüben in Venezuela. Dort ist sein Besitz, sein Grundstück, sein Haus.
Adieu, meine geliebte Heimat, singt Eugenio. Er meint nicht El Hierro. Er meint Venezuela.
Die beiden sind ein rührendes Paar. Der steinalt wirkende Guillermo an der Gitarre, mit Hut, kariertem Hemd und hellblauen Augen, daneben Eugenio an der Mandoline - die beiden alten Herren haben in El Pinar ihren eigenen Buena Vista Social Club gegründet und besingen in traurigen Liedern das Land jenseits des Ozeans.
Im Südwesten der Insel findet heute die Fiesta de los Pastores statt, das Schäferfest. Die Dehesa, wie diese Landschaft heißt, ist eine menschenleere Einöde. Die Vegetation besteht aus Sträuchern und anderen niedrig wachsenden Pflanzen, die sich Nischen in dem Lavagestein gesucht haben. Einzelne, vom Wind gebeugte Bäume trotzen der kargen Umgebung. Ein uralter Schäfer kreuzt den Weg. Er trägt nichts bei sich außer einem langen Schäferstock. Wie überlebt er in dieser Gegend ohne Wasser? Er deutet auf eine Kaktuspflanze mit lederartigen Blättern.
"Diese Pflanze kann man essen. Wenn man hier in den Bergen unterwegs ist und Durst hat, pflückt man sich die Blätter und kaut darauf herum. Sie schmecken nicht süß, nicht bitter, nach gar nichts. Aber man hält durch bis zur nächsten Wasserstelle."
Der steinige Pfad führt hinauf zu einer weiß getünchten Kapelle mit einem kleinen Garten. Die Passatwolken ziehen von der anderen Seite des Berges herunter und hüllen das Gebäude in Nebelschwaden. Immer wieder reißt der Nebel für kurze Momente auf, und die Sonne wirft ihr gleißendes Licht auf die weißen Mauern.
Das Fest findet einen kurzen Fußmarsch von hier entfernt auf einem Hochplateau statt. Es sieht aus, als hätte ein Riese eine halbrunde Ausbuchtung mit Höhlen in das Lavagestein gemeißelt. Von hier aus ziehen über hundert Menschen in einer langsamen Prozession den Pfad hinunter zur Kirche. Vier Männer tragen in einer Sänfte die Statue der Jungfrau. Den Zug führen weiß gekleidete Tänzer an. Sie drehen sich wie Derwische im Kreis und umtanzen die Prozession in einem wilden Reigen.
"Die Jungfrau, die Virgen des los Reyes, ist die Schutzpatronin von El Hierro. Im Jahr 1516 legte hier unten in der Bucht ein Schiff an, das Proviant brauchte. Schäfer haben die Marienstatue von der Besatzung im Austausch gegen Käse, Milch und Fleisch erhalten. Anschließend brachten die Schäfer die Jungfrau in diese Höhle. Die Kapelle, in der die Heilige heute steht, wurde erst später gebaut. Seitdem findet hier jedes Jahr dieses Fest statt."
Domingo Leon macht gerade Pause. Er stammt aus dem kleinen Dorf Sabinosa und tanzt auch in dieser Prozession mit. Die Tänzer werden von Fahnenträgern angeführt, auf dem Tuch prangen die Namen der Dörfer El Pinar und Sabinosa. Die Tänzer aus der Gruppe von Sabinosa tanzen vorneweg, die Konkurrenten aus El Pinar hinterher. Es ist ein Wettkampf darum, wer die Jungfrau mit dem schöneren, mit dem wilderen Tanz feiert. Der gleiche Tanz wird zur großen Prozession Bajada de la Virgen getanzt, die alle vier Jahre auf El Hierro stattfindet. Dann wird die Jungfrau in einer mehrwöchigen Prozession über die gesamte Insel getragen. Für die Tänzer ist das eine große Herausforderung.
"Das ist der Tanz der Jungfrau, ein traditioneller Tanz von El Hierro. Er wird nur auf religiösen Festen getanzt, zu Ehren der heiligen Jungfrau und anderen Heiligen. Sonst wird er nicht getanzt. Es gibt verschiedene religiöse Tänze dieser Art, und wir haben für jeden einen eigenen Namen: Santo Domingo, El Baile de la Virgen, also der Tanz der Jungfrau. El Redondo, El Taharaste, Paso Cumbre, La Gullona. Das sind alles verschiedene Lieder, aber sie werden immer mit den gleichen Instrumenten gespielt: mit der Flöte, die wir Píto nennen, der Tambór, der Trommel und den Chácaras. Das sind Kastagnetten wie auf dem spanischen Festland, aber wir nennen sie Chácaras."
Domingo Leon ist kein Schäfer, sondern Elektriker. Aber sein Vater verbrachte einen Gutteil des Jahres hier draußen in der Dehesa bei seinen Tieren. Die Schafzucht ist keine Liebhaberei auf El Hierro. Sie ist ein Beruf, von dem noch immer viele Familien auf der Insel leben.
Es sind jene tief verwurzelten Traditionen, die zwei Deutsche auf die Idee brachten, El Hierro zum Veranstaltungsort eines Musikfestivals zu machen. Die deutschen Auswanderer Sabine Willmann und Torsten de Winkel haben die faszinierende Musik El Hierros gesammelt und neu produziert; zusammen mit Musikern aus aller Welt. Die beiden leben im Tal des El Golfo, auf der Nordwestseite der Insel.
Alle paar Kilometer zeigt El Hierro ein anderes Gesicht. Nur wenig entfernt von der Dehesa weicht die Wüstenhitze einem stürmischen Nordseewetter. Hier brandet der Atlantik gegen die Breitseite der Insel. Die Küste ist zerklüftet, das Meer ist in Aufruhr. Baden wäre lebensgefährlich. Die Wut der Wellen hat bizarre Skulpturen aus der Lava geschlagen, Brücken und Gebilde, die Teufelsköpfen ähneln. Dazu hängt ein starker Schwefelgeruch über der Landschaft, die in ihrer Schroffheit unheimlich und faszinierend zugleich ist.
Immer wieder passiert man Löcher, die das Meer in die Felsen gebohrt hat. Aus ihnen schießen mit ungeheurem Druck Gischt- und Wasserfontänen in die Höhe.
Nur ein paar Kilometer weiter, unter der Wolkendecke, ist es wieder ruhig. Der steile Hang ist bewachsen mit der subtropischen Pflanzenwelt der Kanaren: Kiefern, Lorbeerbäume, Wolfsmilchgewächse und blühende Stauden. El Hierro besteht aus einer Hälfte eines jungen Vulkans. Der Gebirgszug zieht sich wie eine Mondsichel im Halbrund von Norden nach Süden. Nach Westen fallen die Berge steil ab in den ehemaligen Vulkankrater, der unter dem Meeresspiegel liegt. Am Fuß des Steilhangs liegt das flache, fruchtbare Tal des El Golfo. Unten glänzt eine Kapelle im Licht der tief stehenden Sonne, sie steht auf einem rötlich schimmernden Aschehügel. Neben der Kapelle liegt "El Sitio", zu Deutsch "Der Ort". Die aus Hamburg stammende Sabine Willmann hat hier ein halbes Dutzend alter Lavasteinhäuser renovieren lassen und eine Oase mit kleinen Apartmenthäusern geschaffen, die sich den steilen Hang hinaufziehen.
"Der Golfo hier ist eine Region gewesen, wo man eigenartigerweise nur zu bestimmten Zeiten des Jahres gewohnt hat. Und man ist hier nur hergekommen, um den Wein zu schneiden und im Sommer Fischfang zu machen. Deswegen gibt es ganz viele Wanderwege hier - ein ganz wunderbarer, der hier hochgeht - und bei diesem Hochgehen, da ist es so gewesen, dass die Leute an jeder Kurve ein anderes Lied gesungen haben."
Neben Sabine Willmann sitzt der Musiker Torsten de Winkel, auf dem Schoß eine Gitarre. Er lebt eigentlich in New York, wo er mit Jazzgrößen wie Herbie Hancock und Pat Metheny spielt. Wann immer er Zeit hat, kommt er nach El Hierro zu Sabine Willmann. Die ehemalige Lehrerin kam vor 30 Jahren zum ersten Mal nach El Hierro. Die Insel ließ sie nicht mehr los.
"Das ist natürlich zum einen die Natur, diese unglaublich kraftvolle Natur. Zum anderen sind es die Menschen, die sich eine tiefe Herzlichkeit bewahrt haben und ein ganz tiefes Miteinander. El Hierro hat so etwas gemacht wie einen Dornröschenschlaf."
Mitte der 90er Jahre gab sie ihren Job auf und ging endgültig nach El Hierro. In jener Zeit drohte die Insel aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen zu werden. Als Entlastung für den europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Südamerika plante die spanische Regierung, auf El Hierro eine Raketenabschussrampe zu bauen. Mit dem Widerstand der Einwohner hatte man offenbar nicht gerechnet. Die Einwohner von El Hierro organisierten auf Teneriffa die größte Demonstration, die jemals auf den Kanaren stattfand - und die Pläne wurden fallengelassen. Der Widerstand gegen das Projekt hat die Einwohner zusammengeschweißt. El Hierro wurde endgültig zum Naturschutzgebiet erklärt und entwickelte das Konzept für einen sanften Kulturtourismus. Aus dieser Zeit stammt auch Sabine Willmanns Idee zu dem internationalen Musikfestival. Sie kannte Torsten de Winkel bereits und wollte ihn unbedingt als Musiker anheuern.
"Und als ich dann 2005 ein Angebot hatte, mit einer europäischen Besetzung auf einem Festival in Fuerteventura, einer Nachbarinsel, zu spielen, rief ich hier bei Sabine an und sagte: Komm, jetzt sind wir hier. Wenn du was machen willst - jetzt oder nie. Und ich musste fast lachen: Sabine sagte: Dann machen wir nächste Woche ein Festival."
Es war der Beginn des Bimbache-Festivals, benannt nach den Ureinwohnern von El Hierro. Bei ihren Forschungen über die traditionelle Musik auf der Insel haben die beiden Deutschen ein komplexes Beziehungsgeflecht freigelegt. Der kulturelle Austausch war seit jeher viel ausgeprägter, als man auf der abgelegenen Insel vermuten würde.
Nach der Eroberung durch die Spanier im 14. Jahrhundert lag El Hierro strategisch wichtig zwischen Europa und Amerika; sogar Christoph Kolumbus lag hier schon vor Anker. Seit jener Zeit gibt es einen regen kulturellen Austausch mit der Neuen Welt, Tänze wie der inseltypische "Tango Herreno" entstanden, der eine durchaus südamerikanische Anmutung hat.
"Der Tango Herreno, das kommt aus dieser Feldtradition. Tango, Tangillo, diese Begriffe, das taucht alles auf, hat aber nicht die Bedeutung, die wir aus Deutschland kennen. Tango im spanischen Raum heißt einfach: Eins, zwo, drei, vier."
Jeden Sommer reisen inzwischen Hunderte Besucher zu dem Festival auf die Insel. Die kanarische Zentralregierung unterstützt die Veranstaltung, und die erste CD ist auch schon veröffentlicht. Darauf sind viele Lieder aus El Hierro zu hören, die von einheimischen und internationalen Musikern eingespielt wurden. Auf die Zusammenarbeit legt Torsten de Winkel besonderen Wert.
"Unser Stolz ist, hier ein Festival geschaffen zu haben, das sich von anderen Multikulturfestivals essentiell unterscheidet: Nämlich dadurch, dass es keinen Zirkus von Weltmusikern bietet, die aber eigentlich keinen Kontakt miteinander haben, sondern dass das Wesentliche hier der Prozess miteinander ist. Soll heißen, dass die Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen zehn Tage miteinander leben, den gemeinsamen Nenner suchen und entwickeln und die schließlich gemeinsam erarbeitete Musik auf den Festivalkonzerten spielen."
Es geht zurück über den tausend Meter hohen Berg und in den sonnigen Süden der Insel. Das Küstendorf La Restinga ist 1960 erst von Fischern gegründet worden, ein künstlicher Ort inmitten karger Lavalandschaft. Hier hat die Fischereikooperative ihren Sitz, und zahlreiche Tauchbasen haben sich angesiedelt. La Restinga ist der einzige Ort auf der Insel, wo ein nennenswerter Tourismus stattfindet.
Im Windschatten der Insel wird der tosende Atlantik zum Mar de las Calmas, zum Meer der Stille. Ein paar Dutzend Neubauten, eine haushohe Kaimauer. Eine überdimensionierte Hafenpromenade, ein paar Palmen: La Restinga ist der letzte Vorposten. Dahinter: Über 4.000 Kilometer Wasser. Und eine Sonne, die langsam ihre Kraft verliert und ins Meer sinkt.
Es muss die Ferne sein, die Wehmut erzeugt in der Musik dieser abgelegenen Insel. Sie dringt auch aus diesem Lied, das Torsten de Winkel mit Maria Mérida eingespielt hat, der großen alten Sängerin von El Hierro.
International Bimbache OpenArt Festival
Die Passagiere atmen auf. Sie sind wieder zu Hause.
Eine unwirkliche Landschaft empfängt uns: schroffe, dunkle Lavafelsen, ein paar Büsche krallen sich ins poröse Gestein. In engen Serpentinen geht es mit dem Auto hinauf bis auf 600 Meter Höhe, in die Inselhauptstadt Valverde. Durch die ausgestorben wirkende Kleinstadt ziehen Nebelfetzen. Schachtelartige Häuser verteilen sich auf mehreren steilen Hängen, dazwischen wächst eine üppige Vegetation. El Hierro fängt den stetig wehenden, feuchten Passatwind des Atlantiks ein, deshalb sind die Höhenzüge der Vulkaninsel oft in Wolken eingehüllt.
El Hierro ist der Außenseiter unter den kanarischen Inseln. Nur wenige Touristen verschlägt es hierher. Die meisten der knapp 10.000 Einwohner leben wie in alten Zeiten von der Schafzucht, vom Ackerbau und von der Fischerei. Einzigartige Traditionen sollen sich hier bewahrt haben, eine Kultur, die noch auf die Zeiten der Conquista, der Eroberung Lateinamerikas durch die Spanier, zurückgeht.
Hinter Valverde wabert Nebel durch eine in zartes Grün getauchte Gebirgslandschaft. Dazwischen: Bäume, Sträucher, eingezäunte Plantagen. An kahlen Vulkanhängen stehen einzelne, vom Wind gebeugte Wacholderbäume. Eine traumverlorene Landschaft.
Weiter im Süden reißt der Himmel plötzlich auf, die Sonne brennt. Das Dorf El Pinar liegt auf der Hochebene, am Rand eines dichten Kiefernwaldes. Mit seinen weiß getünchten spanischen Kolonialhäusern unter gleißender Sonne wirkt der Ort mediterran. Auf einer Mauer an der Hauptstraße sitzen die alten Männer und unterhalten sich lautstark. Aus der Bar tönt Gitarrenmusik.
Auf zwei klapprigen Stühlen sitzen Eugenio und Guillermo, zwei Rentner. Sie vertreiben sich den Nachmittag mit Musizieren, auch wenn ihnen kaum jemand zuhört. Das Liebeslied, das sie spielen, hat Eugenio aus Südamerika mitgebracht.
Mit seiner kräftigen Statur, dem schmalen Oberlippenbart und der getönten Brille wirkt er wie ein südamerikanischer Grundbesitzer. 40 Jahre lang hat Eugenio in Venezuela gelebt. Wie viele junge Männer von El Hierro ist er in den 1950er Jahren vor der Armut geflohen und nach Südamerika ausgewandert.
Er erzählt, wie sie mit kleinen Booten gen Westen aufgebrochen sind, wie sie dem Atlantik getrotzt haben und ohne jeden Besitz an der Küste der Neuen Welt gelandet sind. Eugenio hat sich in Venezuela ein neues Leben aufgebaut, hat geheiratet und Kinder gezeugt.
"Als mein Vater krank wurde, bin ich nach El Hierro zurück. Ich wollte eigentlich nur 45 Tage bleiben, aber dann hatte ich einen Autounfall. Acht Operationen waren es, ich wäre fast gestorben."
Seine venezolanische Frau kam mit den jüngsten Kindern nach - und blieb. Inzwischen ist seine Familie über den Erdball verstreut. Zwei Kinder sind gestorben, ein Sohn lebt in den USA, ein anderer ist ebenfalls nach El Hierro gezogen und betreibt eine Bar. Eine Tochter lebt noch drüben in Venezuela. Dort ist sein Besitz, sein Grundstück, sein Haus.
Adieu, meine geliebte Heimat, singt Eugenio. Er meint nicht El Hierro. Er meint Venezuela.
Die beiden sind ein rührendes Paar. Der steinalt wirkende Guillermo an der Gitarre, mit Hut, kariertem Hemd und hellblauen Augen, daneben Eugenio an der Mandoline - die beiden alten Herren haben in El Pinar ihren eigenen Buena Vista Social Club gegründet und besingen in traurigen Liedern das Land jenseits des Ozeans.
Im Südwesten der Insel findet heute die Fiesta de los Pastores statt, das Schäferfest. Die Dehesa, wie diese Landschaft heißt, ist eine menschenleere Einöde. Die Vegetation besteht aus Sträuchern und anderen niedrig wachsenden Pflanzen, die sich Nischen in dem Lavagestein gesucht haben. Einzelne, vom Wind gebeugte Bäume trotzen der kargen Umgebung. Ein uralter Schäfer kreuzt den Weg. Er trägt nichts bei sich außer einem langen Schäferstock. Wie überlebt er in dieser Gegend ohne Wasser? Er deutet auf eine Kaktuspflanze mit lederartigen Blättern.
"Diese Pflanze kann man essen. Wenn man hier in den Bergen unterwegs ist und Durst hat, pflückt man sich die Blätter und kaut darauf herum. Sie schmecken nicht süß, nicht bitter, nach gar nichts. Aber man hält durch bis zur nächsten Wasserstelle."
Der steinige Pfad führt hinauf zu einer weiß getünchten Kapelle mit einem kleinen Garten. Die Passatwolken ziehen von der anderen Seite des Berges herunter und hüllen das Gebäude in Nebelschwaden. Immer wieder reißt der Nebel für kurze Momente auf, und die Sonne wirft ihr gleißendes Licht auf die weißen Mauern.
Das Fest findet einen kurzen Fußmarsch von hier entfernt auf einem Hochplateau statt. Es sieht aus, als hätte ein Riese eine halbrunde Ausbuchtung mit Höhlen in das Lavagestein gemeißelt. Von hier aus ziehen über hundert Menschen in einer langsamen Prozession den Pfad hinunter zur Kirche. Vier Männer tragen in einer Sänfte die Statue der Jungfrau. Den Zug führen weiß gekleidete Tänzer an. Sie drehen sich wie Derwische im Kreis und umtanzen die Prozession in einem wilden Reigen.
"Die Jungfrau, die Virgen des los Reyes, ist die Schutzpatronin von El Hierro. Im Jahr 1516 legte hier unten in der Bucht ein Schiff an, das Proviant brauchte. Schäfer haben die Marienstatue von der Besatzung im Austausch gegen Käse, Milch und Fleisch erhalten. Anschließend brachten die Schäfer die Jungfrau in diese Höhle. Die Kapelle, in der die Heilige heute steht, wurde erst später gebaut. Seitdem findet hier jedes Jahr dieses Fest statt."
Domingo Leon macht gerade Pause. Er stammt aus dem kleinen Dorf Sabinosa und tanzt auch in dieser Prozession mit. Die Tänzer werden von Fahnenträgern angeführt, auf dem Tuch prangen die Namen der Dörfer El Pinar und Sabinosa. Die Tänzer aus der Gruppe von Sabinosa tanzen vorneweg, die Konkurrenten aus El Pinar hinterher. Es ist ein Wettkampf darum, wer die Jungfrau mit dem schöneren, mit dem wilderen Tanz feiert. Der gleiche Tanz wird zur großen Prozession Bajada de la Virgen getanzt, die alle vier Jahre auf El Hierro stattfindet. Dann wird die Jungfrau in einer mehrwöchigen Prozession über die gesamte Insel getragen. Für die Tänzer ist das eine große Herausforderung.
"Das ist der Tanz der Jungfrau, ein traditioneller Tanz von El Hierro. Er wird nur auf religiösen Festen getanzt, zu Ehren der heiligen Jungfrau und anderen Heiligen. Sonst wird er nicht getanzt. Es gibt verschiedene religiöse Tänze dieser Art, und wir haben für jeden einen eigenen Namen: Santo Domingo, El Baile de la Virgen, also der Tanz der Jungfrau. El Redondo, El Taharaste, Paso Cumbre, La Gullona. Das sind alles verschiedene Lieder, aber sie werden immer mit den gleichen Instrumenten gespielt: mit der Flöte, die wir Píto nennen, der Tambór, der Trommel und den Chácaras. Das sind Kastagnetten wie auf dem spanischen Festland, aber wir nennen sie Chácaras."
Domingo Leon ist kein Schäfer, sondern Elektriker. Aber sein Vater verbrachte einen Gutteil des Jahres hier draußen in der Dehesa bei seinen Tieren. Die Schafzucht ist keine Liebhaberei auf El Hierro. Sie ist ein Beruf, von dem noch immer viele Familien auf der Insel leben.
Es sind jene tief verwurzelten Traditionen, die zwei Deutsche auf die Idee brachten, El Hierro zum Veranstaltungsort eines Musikfestivals zu machen. Die deutschen Auswanderer Sabine Willmann und Torsten de Winkel haben die faszinierende Musik El Hierros gesammelt und neu produziert; zusammen mit Musikern aus aller Welt. Die beiden leben im Tal des El Golfo, auf der Nordwestseite der Insel.
Alle paar Kilometer zeigt El Hierro ein anderes Gesicht. Nur wenig entfernt von der Dehesa weicht die Wüstenhitze einem stürmischen Nordseewetter. Hier brandet der Atlantik gegen die Breitseite der Insel. Die Küste ist zerklüftet, das Meer ist in Aufruhr. Baden wäre lebensgefährlich. Die Wut der Wellen hat bizarre Skulpturen aus der Lava geschlagen, Brücken und Gebilde, die Teufelsköpfen ähneln. Dazu hängt ein starker Schwefelgeruch über der Landschaft, die in ihrer Schroffheit unheimlich und faszinierend zugleich ist.
Immer wieder passiert man Löcher, die das Meer in die Felsen gebohrt hat. Aus ihnen schießen mit ungeheurem Druck Gischt- und Wasserfontänen in die Höhe.
Nur ein paar Kilometer weiter, unter der Wolkendecke, ist es wieder ruhig. Der steile Hang ist bewachsen mit der subtropischen Pflanzenwelt der Kanaren: Kiefern, Lorbeerbäume, Wolfsmilchgewächse und blühende Stauden. El Hierro besteht aus einer Hälfte eines jungen Vulkans. Der Gebirgszug zieht sich wie eine Mondsichel im Halbrund von Norden nach Süden. Nach Westen fallen die Berge steil ab in den ehemaligen Vulkankrater, der unter dem Meeresspiegel liegt. Am Fuß des Steilhangs liegt das flache, fruchtbare Tal des El Golfo. Unten glänzt eine Kapelle im Licht der tief stehenden Sonne, sie steht auf einem rötlich schimmernden Aschehügel. Neben der Kapelle liegt "El Sitio", zu Deutsch "Der Ort". Die aus Hamburg stammende Sabine Willmann hat hier ein halbes Dutzend alter Lavasteinhäuser renovieren lassen und eine Oase mit kleinen Apartmenthäusern geschaffen, die sich den steilen Hang hinaufziehen.
"Der Golfo hier ist eine Region gewesen, wo man eigenartigerweise nur zu bestimmten Zeiten des Jahres gewohnt hat. Und man ist hier nur hergekommen, um den Wein zu schneiden und im Sommer Fischfang zu machen. Deswegen gibt es ganz viele Wanderwege hier - ein ganz wunderbarer, der hier hochgeht - und bei diesem Hochgehen, da ist es so gewesen, dass die Leute an jeder Kurve ein anderes Lied gesungen haben."
Neben Sabine Willmann sitzt der Musiker Torsten de Winkel, auf dem Schoß eine Gitarre. Er lebt eigentlich in New York, wo er mit Jazzgrößen wie Herbie Hancock und Pat Metheny spielt. Wann immer er Zeit hat, kommt er nach El Hierro zu Sabine Willmann. Die ehemalige Lehrerin kam vor 30 Jahren zum ersten Mal nach El Hierro. Die Insel ließ sie nicht mehr los.
"Das ist natürlich zum einen die Natur, diese unglaublich kraftvolle Natur. Zum anderen sind es die Menschen, die sich eine tiefe Herzlichkeit bewahrt haben und ein ganz tiefes Miteinander. El Hierro hat so etwas gemacht wie einen Dornröschenschlaf."
Mitte der 90er Jahre gab sie ihren Job auf und ging endgültig nach El Hierro. In jener Zeit drohte die Insel aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen zu werden. Als Entlastung für den europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Südamerika plante die spanische Regierung, auf El Hierro eine Raketenabschussrampe zu bauen. Mit dem Widerstand der Einwohner hatte man offenbar nicht gerechnet. Die Einwohner von El Hierro organisierten auf Teneriffa die größte Demonstration, die jemals auf den Kanaren stattfand - und die Pläne wurden fallengelassen. Der Widerstand gegen das Projekt hat die Einwohner zusammengeschweißt. El Hierro wurde endgültig zum Naturschutzgebiet erklärt und entwickelte das Konzept für einen sanften Kulturtourismus. Aus dieser Zeit stammt auch Sabine Willmanns Idee zu dem internationalen Musikfestival. Sie kannte Torsten de Winkel bereits und wollte ihn unbedingt als Musiker anheuern.
"Und als ich dann 2005 ein Angebot hatte, mit einer europäischen Besetzung auf einem Festival in Fuerteventura, einer Nachbarinsel, zu spielen, rief ich hier bei Sabine an und sagte: Komm, jetzt sind wir hier. Wenn du was machen willst - jetzt oder nie. Und ich musste fast lachen: Sabine sagte: Dann machen wir nächste Woche ein Festival."
Es war der Beginn des Bimbache-Festivals, benannt nach den Ureinwohnern von El Hierro. Bei ihren Forschungen über die traditionelle Musik auf der Insel haben die beiden Deutschen ein komplexes Beziehungsgeflecht freigelegt. Der kulturelle Austausch war seit jeher viel ausgeprägter, als man auf der abgelegenen Insel vermuten würde.
Nach der Eroberung durch die Spanier im 14. Jahrhundert lag El Hierro strategisch wichtig zwischen Europa und Amerika; sogar Christoph Kolumbus lag hier schon vor Anker. Seit jener Zeit gibt es einen regen kulturellen Austausch mit der Neuen Welt, Tänze wie der inseltypische "Tango Herreno" entstanden, der eine durchaus südamerikanische Anmutung hat.
"Der Tango Herreno, das kommt aus dieser Feldtradition. Tango, Tangillo, diese Begriffe, das taucht alles auf, hat aber nicht die Bedeutung, die wir aus Deutschland kennen. Tango im spanischen Raum heißt einfach: Eins, zwo, drei, vier."
Jeden Sommer reisen inzwischen Hunderte Besucher zu dem Festival auf die Insel. Die kanarische Zentralregierung unterstützt die Veranstaltung, und die erste CD ist auch schon veröffentlicht. Darauf sind viele Lieder aus El Hierro zu hören, die von einheimischen und internationalen Musikern eingespielt wurden. Auf die Zusammenarbeit legt Torsten de Winkel besonderen Wert.
"Unser Stolz ist, hier ein Festival geschaffen zu haben, das sich von anderen Multikulturfestivals essentiell unterscheidet: Nämlich dadurch, dass es keinen Zirkus von Weltmusikern bietet, die aber eigentlich keinen Kontakt miteinander haben, sondern dass das Wesentliche hier der Prozess miteinander ist. Soll heißen, dass die Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen zehn Tage miteinander leben, den gemeinsamen Nenner suchen und entwickeln und die schließlich gemeinsam erarbeitete Musik auf den Festivalkonzerten spielen."
Es geht zurück über den tausend Meter hohen Berg und in den sonnigen Süden der Insel. Das Küstendorf La Restinga ist 1960 erst von Fischern gegründet worden, ein künstlicher Ort inmitten karger Lavalandschaft. Hier hat die Fischereikooperative ihren Sitz, und zahlreiche Tauchbasen haben sich angesiedelt. La Restinga ist der einzige Ort auf der Insel, wo ein nennenswerter Tourismus stattfindet.
Im Windschatten der Insel wird der tosende Atlantik zum Mar de las Calmas, zum Meer der Stille. Ein paar Dutzend Neubauten, eine haushohe Kaimauer. Eine überdimensionierte Hafenpromenade, ein paar Palmen: La Restinga ist der letzte Vorposten. Dahinter: Über 4.000 Kilometer Wasser. Und eine Sonne, die langsam ihre Kraft verliert und ins Meer sinkt.
Es muss die Ferne sein, die Wehmut erzeugt in der Musik dieser abgelegenen Insel. Sie dringt auch aus diesem Lied, das Torsten de Winkel mit Maria Mérida eingespielt hat, der großen alten Sängerin von El Hierro.
International Bimbache OpenArt Festival