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"Tastenvirtuose" Alexis Weissenberger geboren

Es sind die Klänge eines Musicals, die hier – übrigens mit der Stimme von Julia Migenes - zu hören sind. 1992 erlebte "Nostalgia" in Darmstadt seine Uraufführung. Es geht in der surrealen Science-Fiction Story mit tragikomischen Zügen um unglückliche Verwirrungen der Gefühle, unter anderem zu einem weiblichen Elektronengehirn. Das zwiespältig aufgenommene Werk stammt von Alexis Weissenberg. Schon als Zehnjähriger, so berichtet der Meisterpianist stolz, wagt er sich mit eigenen kompositorischen Versuchen aufs Podium. Dennoch macht er nicht als Tonsetzer, sondern als Tastenvirtuose seinen Weg – und steht heute der Arbeit zeitgenössischer Komponisten eher reserviert gegenüber.

Von Stefan Zednik | 26.07.2004
    ... ich finde meistens das, was man heute schreibt, furchtbar schlecht und absolut arm ist. Es gibt sehr wenige Werke, die ich interessant finde ...

    Die Schärfe und Klarheit seiner Worte entspricht von jeher dem Charakter seiner pianistischen Kunst. 1929 in Sofia geboren, erhält er bereits als Vierjähriger durch die Mutter die ersten Klavierstunden, bald ergänzt durch Unterricht in Komposition. Der Krieg trennt und vertreibt die Familie: Glücklich entkommt er mit der Mutter einer dreimonatigen Lagerhaft, es gelingt die illegale Flucht über Istanbul nach Haifa. In Tel Aviv setzt er seine Studien fort, mit 14 Jahren debutiert er mit dem Jerusalem Radio Orchestra. Es folgt eine Tournee durch Südafrika, eine große Karriere kündigt sich an. Bei Konzerten mit dem Israel Philharmonic Orchestra trifft er mit Leonhard Bernstein auf den ersten einer Reihe von großen Dirigenten – und beschließt die Übersiedlung nach New York. An der Juilliard School of Music setzt er seine Studien fort, zu seinen Lehrern zählen Artur Schnabel und die legendäre Cembalistin Wanda Landowska. Er gewinnt den wichtigen Leventritt-Wettbewerb, alle Türen für eine internationale Laufbahn stehen offen. Doch Weissenberg zieht sich 1957 überraschend zur Selbstfindung zurück und entsagt fast zehn Jahre weitgehend dem Konzertleben.

    Der Vergleich mit dem Kanadier Glenn Gould, dem drei Jahre jüngeren vermeintlichen Exzentriker, drängt sich auf. Auch Gould zog sich aus dem Konzertsaal zurück, beide eint eine äußerste Rationalität in musikalischer Analyse und pianistischer Wiedergabe, beide verfügen über eine manchmal unfassbare Präzision. Doch während Gould unter einem sensationslüsternen Publikum physisch litt und niemals auf das Podium zurückkehrte, liebt Weissenberg seine Zuhörer, hat einen emotionalen Kontakt zu ihnen. Sein Comeback in den Konzertsaal schien nur eine Frage der Zeit, und es ist Herbert von Karajan, der ihn 1967 zurückholt.

    Weissenberg wird ein gefeierter internationaler Star, Gast bei den bedeutendsten Festspielen, Partner der besten Orchester. Er liebäugelt mit anderen Medien, macht Filme mit Karajan, bekommt in Frankreich, für lange Zeit seine neue Wahlheimat, eine eigene Fernsehsendung. Und dennoch scheiden sich an seiner Kunst die Geister, vom Publikum umjubelt, ist die Kritik oft gespalten. Der häufige Vorwurf: eine rationale, durch Technik bestimmte interpretatorische und pianistische Kälte.

    Ich finde dass alles muss kontrolliert sein, sonst ist die Musik in kleine Stücke nicht wahr, man muss (trotzdem) ein Werk in ein einziges Stück immer präsentieren, damit es logisch sein soll, da muss man natürlich dabei Musikologie kennen und Phänomenologie kennen, sehr gut kennen, damit man diese Konstruktion ganz klar macht und damit das Publikum, auch wenn es ein ganz kompliziertes Werk ist, ein einziges Stück kriegt.

    So ist es seine mathematisch-artistische Ästhetik, die ihn ebenso angreifbar wie beliebt macht. Heute lebt Alexis Weissenberg in der Schweiz und gibt seine musikalische Erfahrung vornehmlich in internationalen Meisterkursen weiter. Neben Beethoven, Schumann, Tschaikowsky und Rachmaninoff hat er als Interpret vor allem mit den Werken Chopins Aufsehen erregt. Ihn sieht er in einer Linie mit Johann Sebastian Bach, den Weissenberg als wahrhaft romantischen Revolutionär deutet.