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Tatort Gehirn

Neurologie. - Was mag nur im Gehirn eines Verbrechers vorgehen? Warum begeht er Taten, an die andere allenfalls heimlich denken? Eine Frage, die sich Kriminalisten und Juristen viel zu selten stellen, nach Ansicht des Hirnforschers Hans J. Markowitsch und des Wissenschaftsjournalisten Werner Siefer.

Von Michael Lange | 14.10.2007
    Heute ist es möglich, in das Innere des Gehirns zu schauen mit modernen, bildgebenden Techniken. Und wer in das Gehirn eines Menschen blickt, kann im Prinzip vorhersagen, ob ein Mensch zum Täter wird oder nicht. Die Autoren wissen, dass ihre Idee umstritten und keineswegs neu ist.

    Zu Beginn zitieren sie unter anderem den italienischen Gelehrten Cesare Lombroso, der vor über 100 Jahren schrieb, dass man Verbrecher an ihrer Kopfform und den zusammengewachsenen Augenbrauen erkennen könne. Um die Jahrhundertwende war es in der Wissenschaft modern, aus Äußerlichkeiten oder aus der Form von Gehirnen weitreichende Schlüsse zu ziehen. Einer objektiven Überprüfung hielt keine der damals ernsthaft unter Fachleuten diskutierten Theorien stand. Es bleibt ein Kopfschütteln.

    Hans J. Markowitsch und Werner Siefer glauben, dass nun, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, genug Wissen besteht, um das Verbrechergehirn zu erklären. Manchmal sind es Tumoren oder Verletzungen, die aus einem gesunden Gehirn ein Verbrechergehirn machen; häufiger Erlebnisse und Lebensumstände in der Jugend, die sich im Gehirn eines Menschen niederschlagen und schließlich im Verbrechen enden. Das belegen die Autoren mit vielen Einzelbeispielen und wissenschaftlichen Studien.

    Ihre These: Umwelt, brutale Erziehung, Missbrauch, Verletzungen oder Tumoren schädigen das empfindliche Denkorgan. Das Gehirn ist nicht mehr in der Lage, das Verhalten zu kontrollieren. Verbrecher sind folglich Kranke. Sie brauchen Heilung, keine Strafe. Siefer und Markowitsch fordern in ihrem Buch die Justiz mehrfach auf, diese neuen Erkenntnisse zu berücksichtigen.

    Tatort Gehirn ist ein interessantes Buch zu einem brisanten Thema. Die Autoren haben viele spannende Geschichten zusammengetragen, schon deshalb ist es lesenswert. Leider stellt Markowitsch seine eigene Forschung allzu gern in den Vordergrund, und die gewählten Beispiele sind nicht immer leicht verständlich. Außerdem neigen die Autoren, wie manche ihrer Vorgänger vor hundert Jahren, zur Überinterpretation moderner Hirnforschung. Vielleicht schütteln unsere Nachfahren in 100 Jahren genauso den Kopf über ihre Ideen, wie wir über die Kopfvermessungsexperimente vor 100 Jahren.

    Hans J. Markowitsch und Werner Siefer: Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens
    ISBN 978-3-593-38294-4
    Campus Verlag, 260 Seiten, 22,00 Euro