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Teamwork der Sinne

Neurologie. - Blinde Menschen kompensieren den Ausfall ihres Sehsinns vor allem dadurch, dass sie die Welt ertasten. Studien haben gezeigt, dass ihr Gehirn dafür teilweise sogar das Sehareal nutzt. Die Frage ist nur: Kann der Tastsinn den Sehsinn völlig ersetzen? Tübinger Wissenschaftler haben nun auf raffinierte Weise untersucht, wie Sehsinn und Tastsinn miteinander zusammenhängen.

Von Martin Hubert | 31.03.2009
    Plötzlich fällt abends der Strom im Haus aus. Sie tasten sich mühsam an der Wand zum Küchenschrank voran, stoßen dabei mehrmals an. Dann finden Ihre Hände endlich die Schublade, in der sich die Streichholzschachtel für die Kerzen befindet. Aber Sie brauchen lange, bis Sie die Schachtel unter all dem Krimskrams in der Schublade identifiziert haben. Jetzt können Sie sich vielleicht vorstellen, welche Tastleistungen Versuchspersonen am Tübinger Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik in einer Studie zum Gesichtserkennen zu vollbringen hatten. Sie mussten handtellergroße Gesichtsmasken allein über das Spiel mit ihren Hände identifizieren. Lisa Dopjans vom Tübinger Institut:

    "Die sitzen hinter einem Vorhang, können nur ihre Hand da durchstecken und da sehen die nichts, also es ist wirklich nur durch Tasten. Und so ein Gesicht zu betasten dauert so zehn bis 20 Sekunden, manche sind schneller, manche brauchen ein bisschen länger. Also am Anfang müssen die die Gesichter durch Betasten erlernen und dann unter ganz vielen verschiedenen Gesichtern müssen sie die erlernten wiedererkennen."

    Und das allein dadurch, dass die Versuchspersonen zehn bis 20 Sekunden lang die Form von Nase, Mund und Augenpartei und deren Abstände abgetastet haben. Das Experiment führten zum einen normal sehende Menschen durch, die nur geringe Fähigkeiten im Ertasten ihrer Umwelt besitzen. Eine zweite Gruppe von Versuchspersonen war von Geburt an erblindet. Sie sind Experten des Tastsinnes. Eine dritte Gruppe schließlich umfasste Erblindete, also Menschen, die ihr Augenlicht erst im Lauf des Lebens verloren. Sie haben die Welt zunächst hauptsächlich über den Sehsinn erkundet, sich dann aber auf ihre Tastfähigkeiten konzentriert. Ziel des Experimentes war die Frage: wie gut kann man mit Hilfe des Tastsinns unabhängig vom Sehsinn Gesichter erkennen? Dopjans:

    "Und was wir gefunden haben in den drei Gruppen ist, dass Geburtsblinde Gesichter durch Betasten zwar erkennen können, sie aber nicht besonders gut darin sind. Und im Vergleich dazu sind die Erblindeten fast schon ein bisschen besser als die Sehenden und beide, die Sehenden und die Erblindeten, sind wirklich wesentlich besser als die Geburtsblinden."

    Eigentlich sollte man meinen, dass geburtsblinde Menschen ganz generell Tastvirtuosen sind. Denn sie können die Blindenschrift lesen, also blitzschnell die Anordnung winzig kleiner Punkte auf kleinster Fläche erfassen. Die Tübinger Studie zeigt jedoch, dass die Tastfähigkeit Geburtsblinder an Grenzen stößt, wenn es um komplexe Objekte wie Gesichter geht. Wer keine visuelle Erfahrung mit Gesichtern hat, tut sich auch beim Ertasten schwer. Umgekehrt verbessert sich das haptische Gesichtserkennen noch einmal, wenn Expertentum im Tasten mit früheren Seherfahrungen gekoppelt ist – wie etwa bei den Späterblindeten. Dopjans:

    "Vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus ist für uns extrem interessant, zu sehen, dass wirklich Gehirnregionen und auch Strategien, die man durch einen Sinn, also wirklich durch Sehen zum Beispiel entwickelt hat, dass die von einem anderen Sinn benutzbar sind: also wie können wirklich haptische aus visuellen Erfahrungen – daraus profitieren."
    
Es scheint also so etwas wie eine Tendenz zur Teamwork zwischen Seh- und Tastsinn zu geben. Wer schon einmal Gesichter gesehen hat, kann die erworbenen visuellen Muster offenbar auch benutzen, wenn er Nase, Mund und Gesicht nur betastet. Die Tübinger Forscher wollen künftig dieses Zusammenspiel der Sinne noch genauer erkunden.