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Telefonbuch

"Nachts ging das Telefon", heißt es im Schlager. Schön wär´s ja, aber das Telefon geht nicht nur nachts! Von früh bis spät sind wir von klingelnden, piependen und mozart-trällernden Telefonen umgeben.

Günter Beyer |
    Früher klingelte das Telefon nur dort, wo ein Kabel endete. Aber seitdem das Telefonieren mit den so genannten "Handies" billig geworden ist, gibt es kaum noch Zonen ohne Telekommunikation. Jeder hat das schon erlebt: Der Zug rollt in den Bahnhof; Reisende greifen in ihre Manteltaschen, schalten ihre Mobiltelefone ein. Die Gesprächspartner - oder Partnerinnen - am anderen Ende der Leitung erfahren, dass der Zug soeben angekommen ist, dass er fast pünktlich ist, und dass die Anrufer voraussichtlich dann und dann zu Hause eintreffen werden. Wann genau, verrät ein späterer Anruf.

    Das Telefon ist so untrennbar mit unserem Alltag verbunden, dass wir es kaum noch wahrnehmen und schon gar nicht Fragen stellen wie: Was ist das eigentlich, Telefonieren? Oder: Macht die Quasselstrippe süchtig? Diese vermeintliche Unauffälligkeit des Telefons hat nun die Buchautoren Stefan Münker und Alexander Roesler, zwei studierte Philosophen übrigens, auf den Plan gerufen. In der edition suhrkamp haben die beiden ihr eigenes "Telefonbuch" herausgegeben, das sie als "Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons" empfehlen. Münker und Roesler zählen das Telefon überraschenderweise zu den "unterschätztesten Kommunikationsmitteln". Denn es werde oft übersehen, dass das gute alte Telefon ein probates "Initiationsmedium" sei, also so etwas wie ein Anfänger-Apparat, um in virtuelle Welten einzutauchen. Wobei "virtuell" heisst: Der übrige Körper bleibt, wo er ist, aber die Stimme geistert scheinbar durch den Äther. Und das seit 140 Jahren. Ganze Generationen haben so den Umgang mit virtuellen Welten von der Pike auf gelernt. Der Gedanke, aus einer nächtlich-kalten Telefonzelle in Frankfurt mit einem Gesprächspartner in einem heißen, sonnendurchfluteten Hotel in Sidney "live" in Verbindung zu treten, löst heute weder Erstaunen noch Ängste aus. Vom souveränen Umgang, den die meisten Menschen mit dem Telefon pflegen, lässt sich deshalb für komplexere virtuelle Medien wie das Internet lernen, beruhigen Münker und Roesler.

    Nützlich ist allemal ein Blick zurück in die Flegeljahre des Mediums, als der schwarze Bakelitkasten noch in einer entfernten Ecke der Wohnung hing und vom "Fernsprechteilnehmer" aufrechte Haltung und lautes Brüllen verlangte. Telefonieren war Luxus und für besondere Gelegenheiten reserviert. Es ist erstaunlich, wie viele Erfindungen rund ums Telefon schon vor langer Zeit gemacht wurden. Aber erst heute, da das Telefon endlich ein demokratisiertes Medium geworden ist, stehen sie auch jedermann und überall zur Verfügung.

    Die ersten Münzfernsprecher gab es bereits 1885, und schon 1926 konnte man in Schnellzügen zwischen Hamburg und Berlin drahtlos telefonieren. Kunst und Kultur, darauf verweisen mehrere Beiträge im "Telefonbuch", haben sich von Anfang an mit dem "sprechenden Knochen" beschäftigt und an den Telefonmythen kräftig mitgewirkt. Joseph Beuys etwa installierte in den 60er Jahren sein "Erdtelefon", bestehend aus einem lehmverschmierten Stein in Telefongröße. Das Kino engagierte das Telefon sogar als Hauptdarsteller, denken wir nur an Hitchcocks "Bei Anruf Mord" oder die komödiantischen Szenen in Robert Altmans "Short Cuts", in denen eine Darstellerin ihr Baby wickelt und - bei laufendem Fernsehprogramm - gleichzeitig Kunden mit Telefonsex bedient.

    Das Telefon ist ein unerschöpflicher Forschungsgegenstand voller dialektischer Vertrackheiten! Es drängt sich oft störend in unser Leben, aber es schafft auch Distanz und ermöglicht Kommunikation, die ohne Anonymität nicht möglich wäre.

    Bei Münker und Roesler erfährt man auch, dass der so genannte Anrufbeantworter eine telefonitische Laus im Pelz ist und im Widerspruch zum Zweck des Telefonierens steht. Denn er gibt keine Antworten und verhindert Kommunikation. Statt den gewünschten Kontakt herzustellen, zögert er ihn hinaus, liefert ungewisse Vertröstungen.

    "Telefonbuch"- Herausgeber Stefan Münker und Alexander Roesler loten amüsant und geistreich das Telefon sogar bis in seine philosophischen Tiefen aus. Kronzeuge ist der Denker Sokrates, der zeitlebens geschriebenen Texten misstraute und leidenschaftlich für den lebendigen Dialog, für das Prinzip der Wörtlichkeit, focht. So gesehen, war Sokrates einer der ersten Telefonsüchtigen.

    Rund 140 Millionen Telefongespräche werden hierzulande jeden Tag allein im Festnetz geführt, und das größte Unglück, das einem leidenschaftlichen Fernsprechteilnehmer widerfahren kann, beginnt mit drei Tönen einer Tonleiter: "Kein Anschluss unter dieser Nummer".