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Telefonieren für die Wissenschaft

Individuelle Mobilitätsmuster zu verstehen und vorherzusagen, das ist seit langem der Traum vieler Statistiker, zum Beispiel in den Verwaltungen. Es ließe sich etwa durch Verkehrsoptimierung eine Menge Geld sparen, doch ist auch Missbrauch denkbar. US-Forscher nutzten jetzt Verbindungsdaten und nutzten dabei erstaunliche Forschungswerkzeuge.

Von Klaus Herbst |
    "Es ist uns gelungen, zu messen und mathematisch zu modellieren, wie heterogen sich die Bevölkerung bewegt. Wir wollten wissen, wie wahrscheinlich es ist, dass bestimmte Personen in einem bestimmten Umkreis sozusagen gefangen sind. Wir haben festgestellt, dass sich die meisten Menschen innerhalb eines Radius von fünf Kilometern bewegen. Nur etwa ein Prozent reist täglich mehr als 500 Kilometer. Außerdem haben wir eine Statistik über typische Reiseentfernungen angefertigt. Dabei fanden wir eine Formel, mit der wir vorhersagen können, in welche Richtungen sich Menschenmassen bewegen werden..."

    … sagt die Physikerin Doktor Marta Gonzalez. Sie forscht an der Northeastern University in Boston und wollte herausfinden, wie sich Menschen bewegen. Von einem nicht genannten Mobilfunkbetreiber bekam sie die Daten von 100.000 Handybesitzern, wertete sie statistisch aus und beobachtete so, wie Menschen sich zwischen den einzelnen Netzknoten bewegen, von Mobilfunkzelle zu Mobilfunkzelle. Das Ergebnis war überraschend: Die meisten Menschen bewegen sich in einem Radius von nur fünf Kilometern. Sie sind also gar nicht sonderlich mobil – trotz der hohen Verbreitung von Mobiltelefonen und anderen mobilen Datengeräten.

    "Das eröffnet ganz neue Anwendungen, zum Beispiel die Vorhersage von Epidemien. Oder es stellt der Stadtplanung digitale Karten zur Verfügung, die zeigen, in welche Stadtteile Menschen voraussichtlich ziehen werden. Besonders in Ländern, die unter Malaria oder anderen Infektionskrankheiten leiden, ist es sinnvoll, Migration zu messen und vorherzusagen. Das gelingt unabhängig von der Region auf einer dynamischen, einer täglichen Basis, sogar Stunde für Stunde. Mit herkömmlichen Befragungen würde man so genaue Daten nicht erhalten. Die Informationen, die wir bekommen haben, waren relativ preiswert."

    Wichtig sind solche Bewegungsdaten also für Stadt- und Verkehrsplanung sowie für die Prävention und Behandlung von Epidemien. Wer bei einer Grippe-Epidemie die Bewegungsmuster analysiert, der bekommt auch wertvolle Hinweise über die Verbreitung der Epidemie und wo Medikamente beziehungsweise Impfungen am nötigsten sind und den stärksten Effekt haben. Bewegungsmuster von Menschenmassen zu erstellen und in mathematischen Modellen darzustellen – das ist abseits vom Nutzen ein heikles Thema. Das weiß auch Marta Gonzalez, die in Stuttgart promoviert hat.

    "Selbstverständlich sind private Informationen immer sensitiv und können auf undemokratische Weise missbraucht werden. Die Privatsphäre von Individuen ist gefährdet. Wir haben mit unserer Studie Anwendungen aufgezeigt, von denen die Gesellschaft profitiert. Wir haben keinerlei Kontakt mit Geheimdiensten, und unsere Algorithmen würden diesen auch gar nichts nutzen. Missbrauch ist für uns selbstverständlich kein Forschungsziel. Wir suchen nun weiter nach neuen Anwendungen. Smartphones, MDAs und PDAs werden immer populärer. Die Nutzer dieser Geräte haben starke Kommunikationsinstrumente in der Hand, zum Beispiel für E-Mail oder über Blue Tooth. Auch diese relativ neuen Übertragungswege wollen wir nun erforschen."

    Im Rahmen der Studie sind persönliche Daten über den Aufenthalt von Personen genutzt worden, ohne dass die Handynutzer davon erfahren haben. Das ist sehr fragwürdig, auch wenn die individuellen Daten in diesem Fall für rein wissenschaftliche Zwecke verwendet worden sind. In Deutschland und vielen europäischen Ländern werden solche Daten im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung langfristig gespeichert. Grundsätzlich müsse es aber jedem Handynutzer rechtzeitig mitgeteilt werden, wenn seine Bewegungen für irgendwelche Zwecke erfasst und beobachtet werden – zumindest per SMS. Doktor Verena Meyer ist Sprecherin des Bundesbeauftragten für Datenschutz in Bonn:

    "Das ist aber aus Datenschutzsicht ein etwas unbefriedigendes Ergebnis, denn eine reine SMS ersetzt eigentlich keine wirksame Einwilligung."

    Leicht sei es, eine SMS-Benachrichtigung zu unterlaufen. Der Ortungsdienst könne beispielsweise die obligatorische SMS zwar an die Dienst-Handys schicken, dann aber sofort wieder löschen und die Geräte erst dann dem Nutzer aushändigen. Völlig offen bleibt, wie stark Datenschutz überhaupt noch greift, wenn Handybesitzer psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt sind.

    "Vor dem Hintergrund fordern eben Datenschützer, dass es eine fälschungssichere Variante der Einwilligung geben muss, wobei das tatsächlich sehr schwierig ist darzustellen. Es gibt allerdings einige Ortungsdienste, die immer dann, bevor so eine Ordnungsmaßnahme einsetzt, noch mal eine SMS schicken an das jeweilige Handy, das überwacht wird, also größere Sicherheitsmaßnahmen installiert haben in ihren Dienst, der sicherstellt, dass der Betroffene, der überwacht wird, auch tatsächlich davon erfährt."

    Aber die richtige technische Lösung ist den Datenschützern auch noch nicht eingefallen. Denkbar sind zum Beispiel eine Rück-SMS mit einer TAN oder die Verwendung digitaler Signaturen.