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Tennis
Andre Agassi verrät den "Becker-Code"

In seiner aktiven Zeit fand Tennisprofi Andre Agassi einst einen Weg, das scheinbar unbezwingbare Aufschlagspiel seines Rivalen Boris Becker zu entzaubern. Nun hat der Amerikaner seinen Trick verraten.

Von Jürgen Kalwa | 29.01.2017
    Boris Becker und Andre Agassi bei den all England Championships 1995.
    In zahlreichen Spielen besiegte Andre Agassi seinen Rivalen Boris Becker. Der vermutete, dass sein Gegner unerlaubte Tipps vom Trainer bekam. (imago)
    Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace hat in seinem berühmt gewordenen Essay über "Roger Federer als religiöse Erfahrung” der Sportart Tennis ein faszinierendes Denkmal gesetzt. Oder sagen wir besser, dem differenzierten Nachdenken über Tennis und seinen ästhetischen Qualitäten. Das war in dem Jahr, in dem die Rivalität zwischen dem Schweizer und dem Spanier Rafael Nadal aufblühte und Foster Wallace anhand des Kontrasts zwischen beiden reizvolle Detailbeobachtungen ablieferte. Beim Aufschlag etwa nestelte der Spanier immer wieder an seinen damals langen Hosen herum und wirkte, so der Schriftsteller, wie ein Sträfling im Knast, der damit rechnet, dass ihn ein Mithäftling abstechen könnte. Und Federer hantierte auf eine seltsam repetitive Weise mit dem Ball.
    Erstklassige Gegner sehen so etwas natürlich auch und versuchen daraus, irgendwelche Erkenntnisse zu gewinnen. Aber bislang wissen wir nur von einem Fall, in dem dies wirklich gelang. Denn der Mann, der so gerne darüber redet - Andre Agassi-, ist auch heute noch, Jahrzehnte später, ziemlich stolz auf den Coup.
    Ein Körperteil verriet die Strategie
    "Boris Becker hat mich in unseren ersten drei Begegnungen besiegt. Mit einem Aufschlag, den man bis dahin noch nie gesehen hatte. Ich habe mir immer wieder Videos angeschaut und entdeckt, dass er eine seltsame Angewohnheit hatte. Ohne Witz. Wenn er den Ball hochwarf, streckte er jedes Mal seine Zunge heraus. Aber mit einer Besonderheit. Wenn er sie geradeaus herausstreckte, schlug er den Ball in die Mitte oder auf deinen Körper. Zeigte sie nach links, bedeutete dies etwa von der rechten Seite des Spielfelds aus, dass er den Ball so nahe wie möglich an die Seitenfeldbegrenzung setzte."
    Was fängt ein Tennis-Crack mit einer solchen Entdeckung an? Reagiert er konsequent mit perfekten Returns und verrät dem Gegner so, dass er seine geheimen inneren Reflexe entschlüsselt hat? Das Problem hatten schon die Alliierten im Zweiten Weltkrieg, nachdem sie den Code für den Funkverkehr der deutschen Wehrmacht dechiffriert hatten. Ein Dilemma, an das der Film "The Imitation Game” über die Codebrecher in England und den Mann an ihrer Spitze, Alan Turing, neulich erinnerte.
    "Was werden die Deutschen denken? Die Deutschen werden wissen, dass wir den Enigma-Code gebrochen haben und den Code in ein paar Tagen ändern."
    Das war Agassi, kein Militärstratege, eher ein schlitzohriger und gewitzter Tennistaktiker, natürlich auch klar.
    "Es war schwer. Ich musste der Versuchung widerstehen, jedes Mal den Ball zu retournieren und mir die Augenblicke im Spiel heraussuchen, in denen das Match auf der Kippe stand."
    Das genügte. Becker hatte keine Ahnung, warum er von da an neun der elf Partien gegen Agassi verlor. Er glaubte, dass sein Gegner unerlaubte Tipps vom Trainer bekam, wie im Halbfinale der US Open 1995, das er in vier Sätzen verlor und in dem er sich – vergeblich – beim Schiedsrichter beschwerte.
    Becker: "He is talking with his crew, is there something like coaching too?”.
    Späte Auflösung des Rätsels
    Er warf Agassis damaliger Ehefrau Brooke Shields in den Rängen Küsse zu und brachte den Ehemann so tatsächlich auf 180. Aber unterm Strich nützte das wenig. Agassi biss sich auf die sprichwörtlich eigene Zunge und verriet Becker erst nach dessen Karriere beim Bier in München sein Geheimnis:
    "Ich konnte mich nicht länger zurückhalten und fragte ihn: 'Wusstest du, dass du selbst deinen Aufschlag verraten hast?' Er wäre fast vom Stuhl gekippt und sagte: 'Ich bin damals immer nach Hause gekommen und habe meiner Frau gesagt, das ist so, als er ob meine Gedanken liest'. Ich hatte keine Ahnung, dass du meine Zunge liest."
    Und der Rest der Welt schon gar nicht. Dafür sorgt nun Agassi auf einer Videoplattform namens Unscriptd, die er mit kurzen Schnipseln und Anekdoten füllt. Warum gerade da? Weil er und seine Frau Steffi Graf eine ordentliche Summe in diese Internetfirma gesteckt haben. Sie soll vor allem bekannten Sportlern dazu dienen, sich selbst zu inszenieren. Hoffentlich haben die, die das tun, soviel Witz wie Agassi und geben Einblick – vor allem in die wirklichen Geheimnisse ihrer Sportarten. Denn dann haben wir alle auch etwas davon.