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Tenor liebt Sopran

Neue Operngesamtaufnahmen auf CDs sind keine Selbstverständlichkeit mehr: Vieles erscheint inzwischen auf DVDs, manches wird wegen Marktübersättigung gar nicht mehr aufgenommen. Wenn Opern-CDs heute gemacht werden, dann muss entweder ein ganz großer Sängername draufstehen - oder das Werk möglichst außergewöhnlich sein. Letzteres ist der Fall bei zwei aktuellen Ersteinspielungen: Beide Opern kommen aus Frankreich, beide sind Komödien. Die eine stammt von Jules Massenet und ist hundert Jahre alt, die andere von Etienne-Nicolas Méhul und ist zweihundert Jahre alt.

Von Olaf Wilhelmer |
    So unbekannt die Werke, so altbekannt ihr Thema: es geht um die Liebe. Was sie bedeutet und wie man sie erfährt, verrät Méhul:

    * Musikbeispiel: Etienne-Nicolas Méhul - Air "Mais que dis-je?" (Ausschnitt)

    Verführen, Betrügen, Küssen und Kneifen: Miljenko Turk singt die virtuose Baritonpartie in Etienne-Nicolas Méhuls Oper "L'Irato ou l'Emporté". Dieser Titel ist eine italienisch-französische Doppelung, er bedeutet so viel wie "Der Hitzkopf". Zwei Sprachen in einem Titel: Méhul saß zwischen vielen Stühlen, als er dieses Stück 1801 schrieb. Frankreich hatte gerade die schlimmsten Jahre der Revolution überstanden, Napoleon die Macht übernommen, und die Theater genug vom Freiheitspathos. Leichtes musste her, und es fand sich in Italien. In dieser Zeit war Méhul einer der erfolgreichsten Komponisten. Bisher hatte er die revolutionären Kräfte mit Hymnen unterstützt. Nun lief er Gefahr, den Anschluss zu verpassen. Napoleon persönlich legte ihm nahe, sich an italienischen Meistern zu orientieren. Dieser Wunsch war ihm Befehl: Méhul widmete seine "opéra comique" dem kleinen Mann aus Korsika und feierte so ein großes Comeback.

    Sonderlich tiefschürfend ist die Handlung nicht: Tenor liebt Sopran, Bass will Heirat verhindern, Bariton wendet alles zum Guten. Ein Muster, wie es einige Jahre später Rossini und Donizetti raffinierter auf die Bühne bringen sollten. Méhul ist da eher als Pionier in die Musikgeschichte eingegangen. Mehr von historischer Bedeutung ist auch das zentrale Quartett aus "L'Irato ou l'Emporté", in dem die Pläne der "hitzköpfigen" Titelfigur durchkreuzt werden:

    * Musikbeispiel: Etienne-Nicolas Méhul - Quartetto "O ciel, que faire?" (Ausschnitt)

    Für zweihundert Jahre war Méhuls komische Oper "L'Irato ou l'Emporté" in Vergessenheit geraten, bis sie durch den Musikwissenschaftler Michael Stegemann und den Dirigenten Werner Ehrhardt beim Bonner Beethovenfest 2005 wieder zur Aufführung gebracht werden konnte. Dort entstand für die Plattenfirma Capriccio ein hochwertiger Mitschnitt: ausführlich kommentiert, mit einem inspirierten Sängerensemble und dem frischen Spiel des l'arte del mondo-Orchesters.

    Lassen wir das befreite Lachen der ersten französischen Republik hinter uns und kosten stattdessen das süße Gift der dritten französischen Republik: 1903 blickte Jules Massenet nicht wie Méhul nach Italien, sondern ließ sich von Mozart inspirieren - vor allem vom Cherubino aus der "Hochzeit des Figaro". Der "Chérubin" in der gleichnamigen Oper von Massenet ist für diesen Virtuosen des Sentimentalen eher untypisch:

    * Musikbeispiel: Jules Massenet - "Lorsque vous n'aurez rien à faire"

    Carmela Remigio singt Nina, eine von Chérubins Angebeteten. Ihr Lied rettet ihm die Haut. In diesem unbekannten Spätwerk Massenets geht es in Sachen Liebe drunter und drüber. Im Gegensatz zu Mozarts Cherubino hat der von Massenet - gleichfalls eine Hosenrolle - schon etliche Liebesabenteuer bestanden. Er tritt sogar als Nebenbuhler des spanischen Königs auf! Ensoleillad heißt das Subjekt seiner Begierde, doch die Kurtisane lässt Chérubin nach einigen Spielchen schnöde abblitzen. Wie praktisch, dass es da noch Nina gibt: Chérubin angelt sich das naive Mädchen. Doch wir ahnen schon, dass diese Verbindung nicht lange halten wird.

    Massenets Komödie treibt ein munteres Spiel mit musikalischen und literarischen Motiven aus Mozarts da-Ponte-Opern. Doch diese Bearbeitung des Sujets wird schon wenige Jahre später von einem großen Konkurrenten verdrängt: dem "Rosenkavalier" von Strauss und Hofmannsthal. Allerdings wäre Strauss wohl kaum in der Lage gewesen, Liebesnächte in spanischen Gärten so zu komponieren: Von Eifersüchtigen verfolgt, besingen Chérubin und Ensoleillad die Macht des Eros:

    * Musikbeispiel: Jules Massenet - "Eh bien? - Personne? - Non, personne!"

    Massenets Oper "Chérubin" spiegelt die Liebeswirren seiner Figuren schon in der Besetzung wider: Soprane, wohin man hört. Die Ersteinspielung dieser "comédie chantée" ist ein Live-Mitschnitt des Opernhauses von Cagliari auf Sardinien. Die Partie des Chérubin gestaltet Michelle Breedt, es dirigiert Emmanuel Villaume. Diese Doppel-CD ist bei Dynamic erschienen.

    Etienne-Nicolas Méhul: "L'Irato ou l'Emporté"
    Miljenko Turk, Cyril Auvity, Pauline Courtin, Alain Buet u.a.
    Bonner Kammerchor
    Orchester: l'arte del mondo
    Leitung: Werner Ehrhardt
    Label: Capriccio
    Labelcode: LC 08748
    Bestellnr.: 60128

    Jules Massenet: "Chérubin"
    Michelle Breedt, Patrizia Ciofi, Carmela Remigio u.a.
    Coro del Teatro Lirico di Cagliari
    Orchestra del Teatro Lirico di Cagliari
    Leitung: Emmanuel Villaume
    Label: Dynamic / Vertrieb: Klassik Center Kassel
    Labelcode: LC 02654
    Bestellnr.: CDS 508/1-2