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Teodoras Cetrauskas: Als ob man lebte. Ein heroisches Märchen

Seit der Scheidung vom Kreml steuert Litauen Westkurs - Kurs EU, Kurs NATO, beschreitet den Weg zurück nach Europa. Das ist nicht einfach, schafft neue Probleme. Nicht zuletzt im Verhältnis zum großen Nachbarn Rußland - liegt doch zwischen Rußland und Rußland ein Stück Litauen. Die ungelöste Königsberg-Frage - die Frage des Zugangs zur künftigen Insel im EU-Meer Kaliningrad - belastet nicht nur das Verhältnis zwischen Moskau und Brüssel, sondern wirft zugleich Schatten auf die russisch-litauischen Beziehungen. Außenpolitik Litauens muss Außenpolitik mit Fingerspitzengefühl sein, stets darauf bedacht den "Bären" nicht zu reizen. Bisher haben die Litauer nicht ungeschickt agiert auf der internationalen Bühne. Leitlinien der litauischen Außen- und Sicherheitspolitik skizziert Eitvydas Bajarunas, Chef des Planungsstabes im Außenministerium in Vilnius, in dem von Georg Klöcker herausgegebenen Sammelband "Ten Years after the Baltic States re-entered the International Stage", Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2001. Optimistischer Ausblick des Autors:

Henning von Löwis |
    "Der Ostseeraum, in dem sich Litauen befindet, gehört zu den sich besonders dynamisch entwickelnden, zukunftsorientierten und außerordentlich vielversprechenden Regionen Europas."

    "Was die ehemaligen Studienfreunde betraf, so war ein nicht geringer Teil von ihnen im Wald, die Mehrzahl arbeitete und unterstützte auf die eine oder andere Art diejenigen, die im Wald waren. Und nur ein paar aus der von Juozas verbrannten Aktivistenliste arbeiteten mit den Bratoks zusammen, waren gleichsam deren Augen, Ohren und Zungen. Wussten doch die Bratoks nicht so recht, mit wem sie es zu tun hatten im Tannenberg-von-Meer-zu-Meer-Land. Sie waren hier ohne Hilfe blind, stumm und taub. Deshalb schätzten sie diejenigen sehr, die ihnen zuarbeiteten, tranken mit ihnen Wodka, umarmten und küssten sie, sangen gemeinsam mit ihnen Lieder über die Umformung der Menschheit und der Natur. Und wie man die ganze Welt zu einem Land machte wie dem ihren, wo man das Proletariat ehrte, Rekorde erzielte, phantastische Projekte durchführte, aber sich nicht sehr für die Resultate interessierte. Wichtig war der Prozess selbst, und vor allem der Enthusiasmus. Aber sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn ihre Pläne tatsächlich durchgeführt, die Rekorde tatsächlich zu Rekorden geworden wären und man mehr bewirkt hätte, als diese Länder mit fehlerhaften Gesellschaftsordnungen vermochten - das konnten sie nicht so recht. Deshalb ließen all diese ambitionierten Pläne gewöhnlich das Wunder vermissen, das man zeigen wollte. Sämtliche Pläne blieben irgendwann irgendwo stecken, und das Riesenland der Bratoks, das alle in Angst und Schrecken versetzte mit seiner Militärmacht, blieb zugleich das Land der Wattejacken und klobigen Soldatenstiefel, der Grütze und des billigen Branntweins. Vielleicht deshalb, weil man insgeheim ahnte, was man anrühren, welche Suppe man der Welt servieren müsste, würde man die propagierten Ziele tatsächlich erreichen. Wer konnte wissen, was in den Köpfen der Bratoks vorging, was sie meinten und was sie nicht meinten, diese Wodkatrinker und Liebhaber sehnsuchtsvoller Lieder, warum ihnen wirtschaftlich rein gar nichts gelang, während sie militärisch nicht schlecht dastanden. Wer konnte das sagen, solange sie es selbst nicht wussten."

    Der litauische Schriftsteller Teodoras Cetrauskas in seinem rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse erschienenen Buch "Als ob man lebte". Der Autor ist gottlob lebendig - ich begrüße ihn an unserem Mikrofon. Teodoras Cetrauskas, "Als ob man lebte - Ein heroisches Märchen". Ihr Märchen ist ein sehr politisches Märchen. Vergangenheitsbewältigung auf Litauisch sozusagen, trifft das den Kern?



    Teodoras Cetrauskas: Ja, richtig, Sie haben das richtig verstanden. Ich habe das Buch geschrieben als Vergangenheitsbewältigung. Und es fiel mir schwer, es zu schreiben, denn ich musste in mir diese Vergangenheit immer bewältigen, und ich fühlte immer den Druck der Zeit. Und das wiederspiegelt sich zum Beispiel in der Schilderung von Juozas, wie er sich als Patriot benahm.

    Juozas ist der Titelheld...

    Teodoras Cetrauskas: ...Titelheld. Und da er kein großer Held war, musste er sich immer wieder irgendwie winden. Und am Ende, als er nicht mehr wußte, wie er weiterleben konnte, suchte er selbst den Tod, um irgendwie sein Gesicht zu bewahren... In Litauen gibt es so eine Meinung, dass die Zeit der Partisanenkämpfe eine heroische und eine sehr schöne Zeit war - für mich, na ja, ich nenne sie auch heroisch, und darum heißt mein Buch auch "Ein heroisches Märchen", aber ich meine, dass jeder Frieden viel schöner ist als Krieg. Und darum habe ich gezeigt, dass diese heroische Zeit auch sehr grausame Seiten hat, zum Beispiel, wenn ich den Tod eines meiner Helden beschreibe, des Schusters. Er stirbt nur wegen seiner guten Angaben. Das war mein Ziel, Vergangenheitsbewältigung.

    Wie lang sind denn die Schatten der Geschichte in Litauen?

    Teodoras Cetrauskas: Die Schatten bleiben bis jetzt, glaube ich, und ich denke, dass dieses Buch in Litauen auch nicht so einfach verstanden oder bewältigt wird. Die Leute werden mir auch vorwerfen, dass ich diese Zeit entheroisiere.

    Das Märchen bedarf ja der Entschlüsselung. Da sind die Bratoks, da sind die Arier, da tauchen die Kriven auf und General Teufel...

    Teodoras Cetrauskas: Wissen Sie, ich wollte möglichst mehr sagen. Und gewöhnlich im Märchen, sagt man, ist alles irgendwie sehr konzentriert. Darum habe ich nicht die historischen Begebenheiten, die historische Umstände so beschrieben, wie sie waren. Ich erzählte nicht vom Ribbentrop-Molotow-Pakt, sondern habe einfach gesagt, dass die Außenminister der Bratoks und der Arier irgendeinen Pakt unterschrieben haben und dass das Land an die Bratoks fiel.

    Bratoks sind die Brüderchen, die Arier die Deutschen.

    Teodoras Cetrauskas: Die Deutschen, sie haben sich so genannt, Arier, also habe ich sie auch so genannt. Und die Bratoks, also die Brüderchen, kamen mit der brüderlichen Idee zu uns, alle glücklich zu machen. Aber dieses Glück kostete die Litauer sehr viel. Etwa 600.000 Leute wurden verschleppt nach Sibirien, sind gestorben. Das Land Litauen verlor während des Krieges etwa eine Milionen Menschen, also jeden dritten. Und diese Familie, diese kleine Familie aus drei Menschen, symbolisiert auch das ganze Litauen, da verliert man einen von drei.

    Also das Buch ist im Grunde ein Buch über Okkupation und Freiheitskampf.

    Teodoras Cetrauskas: Freiheitskampf und Okkupation von beiden Seiten, aber da diese zweite Okkupation viel länger dauerte und zweimalig war, darum beschreibe ich mehr die bratokische, die russische Okkupation. Ich habe auch in dieser Zeit gelebt, die kenne ich viel besser. Die deutsche Okkupation habe ich nur zwei Tage erlebt. Ich war zwei Tage alt, als die Russen kamen.

    Wie lebendig ist denn der "homo sovieticus" heute noch in Litauen? Was ist geblieben von den Spuren der Okkupation?

    Teodoras Cetrauskas: Es ist sehr viel geblieben, man hat die Menschen entwöhnt, selbstständig zu handeln. Man musste überhaupt keine Ideen haben, nur verschiedene Befehle oder Anweisungen oder Instruktionen erfüllen. Und jetzt muss man irgendwie allein leben, allein den Weg suchen - auch in der Literatur. Und manche verirren sich in dieser neuen Welt. Es ist schwierig.

    In Deutschland vergeht ja kein Tag, an dem nicht Hitler irgendwo auftaucht - in den Medien, in der Politik. Hitler wird gnadenlos vermarktet. Wie ist das mit Hitler in Litauen und mit Stalin?

    Teodoras Cetrauskas: In meiner Generation, ich bin schon fast 60 Jahre alt, ist Hitler ziemlich vergessen. Diese zweite Okkupation haben wir live erlebt, wie man so schön sagt, und darum wird mehr geschimpft auf Stalin als auf Hitler, und viele sagen, dass Hitler schon ein kleiner Schüler von Stalin war. Es gibt solche Meinung.

    Stichwort Kollaboration, ist das ein Thema heute in Litauen?

    Teodoras Cetrauskas: Ich glaube, es ist ein schwächeres Thema als früher. In den ersten Jahren war es sehr scharf, dieses Thema. Darum hat man keine ehemaligen Kommunisten gewählt ins Parlament. Und die wollten sich irgendwie weiß machen, diese Persilscheine kaufen, wie es auch in Deutschland mit den Nazis war, und sich immer wieder besser darstellen, als sie waren. Aber jetzt ist es nicht mehr so scharf, dieses Thema. Und, wie wir sehen, die Brazauskas-Partei ist schon wieder an der Macht. Sie nennen sich jetzt Sozialdemokraten. Und Brazauskas war früher Nummer eins der Kommunistischen Partei.

    Teodoras Cetrauskas, Litauen stand in der ersten Reihe des Freiheitskampfes der baltischen Völker. Was gab den Litauern die Kraft, zu widerstehen, sich zu erheben und die Besatzer schließlich los zu werden?

    Teodoras Cetrauskas: Na, ich glaube, für das litauische Volk und für die Litauer spielt immer die Vergangenheit eine große Rolle. Sogar in unserer Hymne haben wir eine solche Zeile: "Aus der Vergangenheit müssen Deine Söhne die Kraft schöpfen". Und diese Vergangenheit ist dieses "Von-Meer-zu-Meer-Land", wie ich in meinem Buch schreibe.

    ... das "Tannenberg-Land"...

    Teodoras Cetrauskas: Tannenberg-Land. Die Schlacht von Tannenberg, als die Litauer die Ordensritter geschlagen haben. Und dann die christliche Religion Einzug hielt. Bis dahin waren die Litauer Heiden, und dann wurde die neue Religion ganz langsam eingeführt, nicht so wie in eroberten Ländern, sagen wir in Lettland oder Estland. Darum sind die Leute so eigensinnig, und manchmal wählen sie auch in der Geschichte eher Tod als Versklavung. Zum Beispiel diese Pilenai-Geschichte. Als die Ritter die Burg von Pilenai stürmten, haben alle Selbstmord begangen, die Verteidiger und alle Bürger dieser Burg. Dasselbe wiederspiegelte sich, glaube ich, wie die Leute am Fernsehturm standen im Jahre ´91.

    Sie waren ja dabei, sie waren Augenzeuge, Tatzeuge.

    Teodoras Cetrauskas: Ja, ja, und das war sehr ähnlich. Sie standen vor den Panzern, als ob ihnen Tod überhaupt nichts bedeutet. Ich glaube, davon schöpfen sie diese Kraft, so scheint es mir - als Dichter...

    Kraft von den heidnischen Göttern immer noch ein bisschen...

    Teodoras Cetrauskas: Ich weiß nicht, ich glaube diese heidnischen Götter waren auch nicht so schlecht. Jede Religion, glaube ich, ist gut, und sie lehrt nichts Schlechtes. Man muss auf dieser Erde sich gut benehmen, es gibt keine Religion die irgendwie aggressiv wäre. Ich glaube die heidnische war nicht schlimmer als die christliche.

    Stichwort Fernsehturm, 13. Januar ´91. Welche Bedeutung hat dieses Datum für die litauische Geschichte, für die Wiedergeburt Litauens als unabhängige Nation?

    Teodoras Cetrauskas: Ich glaube eine sehr große, das Volk hat sich entschlossen gezeigt, und jeder versteht, dass die Litauer auch der Welt ein Beispiel gegeben haben. Sie haben gesagt, wir wollen eine neue Ordnung und dann haben sie - ich kenne keine Episode, wo jemand etwas Falsches gemacht hätte - ruhig gestanden und gezeigt: Wir wollen das nicht mehr. Ich will nicht sagen, dass woanders, wo man kämpft, dass die Leute dort schlecht sind, wo man irgendwelche Granaten sprengt, oder Autobusse. Das war für die Welt ein Beispiel. Man steht zusammen und sagt: Wir wollen nicht mehr. Das mußten alle verstehen. Und so ging es, glaube ich, auch schneller - die Befreiung Litauens, weil alle sehr diszipliniert waren.

    Der Titel des jüngsten Werkes von Teodoras Cetrauskas: "Als ob man lebte. Ein heroisches Märchen", ATHENA-Verlag, Oberhausen 2002. Und nicht minder lesenswert die Ironischen Stadtgeschichten von Teodoras Cetrauskas: "Irgendwas, irgendwie, irgendwo", ATHENA-Verlag, Oberhausen 2002. Schauplatz der meisten Geschichten: Sowjet-Litauen in den achtziger Jahren.