Die beispiellosen Anschläge galten dem Lebensnerv Indiens: dem Finanzzentrum des Landes, der Millionenmetropole Bombay. Sie galten Luxushotels, Krankenhäusern, Restaurants, einer jüdischen Organisation – und offenbar besonders Ausländern. Die Anschlagsserie zielte auf die Stabilität Indiens ab – und auf den Weg in die Moderne westlicher Prägung.
Dahinter stecken ganz offensichtlich fanatische Islamisten vom Schlage der Indischen Mujaheddin, die in der Vergangenheit immer wieder für Terroranschläge verantwortlich gemacht wurden. Die Gruppe, die sich heute zu der Attentatsserie bekannte, nennt sich Deccan Mujaheddin – niemand kannte sie bislang, niemand weiß, wer dahinter steckt, wer die Drahtzieher sind, wer die Attentäter: Sie sollen Hindi oder Urdu sprechen, sie könnten also Inder sein aus Deccan, einer Region im Süden Indiens. Ministerpräsident Manmohan Singh vermutet die Hintermänner allerdings im Ausland – und das nicht ohne Grund: bei etlichen islamistischen Anschlägen der Vergangenheit wiesen die Spuren in Richtung Pakistan, Kaschmir oder Bangladesh. Ingrid Norbu schildert Indiens Probleme mit einer radikalisierten, schwierigen Nachbarschaft:
Indien, der Gigant Südasiens, mit über einer Milliarde Bewohnern, ist ein demokratisches, laizistisches Land, doch zu 80 Prozent hinduistisch. Moslems bilden die größte Minderheit mit 12 Prozent. Die Hauptstadt Neu Delhi liegt etwa 550 Kilometer vom pakistanischen Lahore entfernt. Riyaz Panjabi ist ein indischer Moslem aus Kaschmir und Friedensaktivist. Er unterrichtet Soziologie an der Jawarharlal-Nehru-Elite-Universität in Delhi.
"Obwohl ich im Fernsehen auftrete, im Radio spreche, für die nationale Presse Artikel schreibe und einen guten Ruf als Wissenschaftler habe, konnte ich lange kein Haus in Delhi finden, weil ich Moslem bin. Ich verschwieg also besser meine Religion. Als ich dann eines fand, gestand ich es meiner Vermieterin. An einen Moslem hätte sie nicht vermietet, meinte sie. Aber nach einiger Zeit lernten wir uns besser kennen und trafen uns sogar. So fand ich heraus, dass das Bild, dass Inder von Moslems haben, auf Stereotypen beruht: Ein Moslem ist rückständig, er ist ein Terrorist, ein Hardliner, jemand, der sich abschottet. Ich denke, dass die Menschen in Nordindien immer noch die Last der Teilung mit sich tragen. Die Erinnerungen daran sind teilweise noch lebendig."
Am 14. August 1947 endete die britische Kolonialherrschaft. Im Panjab und in Bengalen, die nach religiösen Kriterien geteilt worden waren, brachen blutige Kämpfe zwischen Hindus und Moslems aus. Es begann eine Massenvertreibung, eine Massenflucht, wie sie die Welt vorher nie erlebt hatte. Muslime aus Indien flohen nach Pakistan, Hindus aus den für Moslems abgeteilten Gebieten, im Panjab und in Bengalen, versuchten Indien zu erreichen. Über eine halbe Million Menschen überlebten die Flucht nicht. Jahrelanger Streit war der Teilung vorausgegangen.
Mit der Unabhängigkeit 1947 und der Aufteilung in zwei Staaten, Indien und Pakistan, begann der Kampf um Kaschmir. Kaschmir wurde bis dahin von einem selbständigen Hindufürsten regiert, der nun selbst entscheiden sollte, zu wem er gehören wolle. Pakistan machte geltend, dass mehrheitlich Moslems in Kaschmir leben und es deshalb Teil Pakistans werden müsse. Noch ehe sich der Maharadscha von Kaschmir als Hindu Indien anschließen konnte, rückten pakistanische Truppen in sein Land vor. Drei Kriege führten Indien und Pakistan um Kaschmir. Kaschmir ist seither geteilt in einen pakistanischen und einen indischen Teil.
Seit 1989 herrscht dort mit kurzen Phasen von Entspannung allgemein Ausgangssperre. Die Kaschmiris fordern ihr Selbstbestimmungsrecht, eine Abstimmung darüber, ob Kaschmir als ganzes von Indien oder Pakistan aus regiert werden sollte. Ein unabhängiges Kaschmir wollen beide Länder nicht.
Militante Separatisten versuchten erst dieser Tage, die Wahlen für das Regionalparlament im indischen Teil Kaschmirs mit Gewalt aufzuhalten, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Kaschmirfrage zu lenken.
Mittlerweile sehen sich Indien und Pakistan aber einer größeren Gefahr ausgesetzt, als die, die sie für sich selbst darstellen: Dem internationalen Terrorismus. Pakistan liegt direkt an der Front des Antiterrorkampfs östlich von Afghanistan - und Indien liegt nicht weit von dieser Front entfernt. Der Terror von Bombay wirkt wie ein weiteres Warnsignal, dass sie immer näher rückt.
Der indisch-pakistanische Grenzübergang von Wagah ist ein Symbol für die gespannten Beziehungen zwischen beiden Ländern. Und er ist Schauplatz eines allabendlichen skurrilen Rituals, das die tiefen Verwerfungen in eine militärische Formensprache übersetzt.
Die meisten Zuschauer haben schon auf den Tribünen Platz genommen, aber immer noch strömen Familien mit Kindern herbei, um an diesem Spektakel teilzunehmen: Indische und pakistanische Soldaten marschieren auf, kostümiert wie in einem Film, die Pakistanis in Schwarz, die Inder in khakifarbenen Anzügen, mit dreiviertel langen Hosen, unter denen weiße Gamaschen hervorgucken. Die Köpfe der schlanken Soldaten schmücken Kappen mit hoch aufragenden Fächern an einer Seite. Die Zuschauer, angeheizt durch einen Einpeitscher, feuern sie an wie Gladiatoren.
"Mutter Indien", brüllen die indischen Zuschauer, ein Schlachtruf aus Kriegszeiten. Sie versuchen, die Zuschauer auf der anderen Seite der Grenze zu übertönen – auch sie sitzen auf Tribünen und brüllen ihren Schlachtruf: "Pakistan Jindabad" rufen sie, "Sieg für Pakistan". Dort müssen Frauen und Männer getrennt sitzen, die Frauen tragen Kopftücher. Hüben wie drüben steht Angriffslust in den Gesichtern aller Beteiligten geschrieben – dieses Ritual spricht Bände, sagt Nighat Khan.
Am Abend wird die Grenze geschlossen, die Fahnen werden eingeholt, die Soldaten salutieren auf beiden Seiten. Dieser Teil ist freundlich gemeint, obwohl er sehr militärisch ist. Jeden Abend proben die beiden Seiten miteinander, wie sie aufeinander zumarschieren, wie sie die Fahne einholen und wie sie sie falten. Beide Seiten haben Symboltiere, wir Pakistanis haben Pferde, die indische Seite Tiger oder Löwen. So marschieren sie dann auch aufeinander zu und schnauben wie vor Wut. Dabei werfen sie die Köpfe zur Seite. Das ist keine freundliche Geste gegenüber einem Nachbarn.
Nighat Khan ist seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung in Pakistan aktiv. Sie lebt in Lahore, keine 20 Kilometer von der Grenze zu Indien entfernt. Geboren wurde sie vor über 60 Jahren in Indien, vor der Unabhängigkeit und der Teilung. Drei Kriege haben Indien und Pakistan seit 1947 gegeneinander geführt. Beide Staaten besitzen Atomwaffen.
Wegen eines Anschlags auf das indische Parlament im Jahr 2001 kam es fast zu einem vierten Krieg. Doch seit über drei Jahren führen die Regierungen Friedensgespräche und holen damit auf politischer Ebene nach, was es im kleinen Grenzverkehr schon lange gibt.
"Die Indische Armee hat einen hohen Zaun an der viele hundert Kilometer langen Grenze zwischen beiden Ländern errichtet, aber er liegt weit auf ihrem eigenen Territorium, so dass viele indische Bauern jenseits des Zaunes Land besitzen. Jeden Morgen öffnet sich ein Türchen im Grenzzaun und die Bauern gehen zu ihren Feldern, arbeiten dort quasi mit den pakistanischen Bauern zusammen, sie lachen zusammen, sie essen zusammen, weil sie Nachbarn sind. Sie teilen sich das Wasser, das Futter für die Tiere, die Weiden. Abends gehen die indischen Bauern dann wieder durch das Türchen im Grenzzaun zurück."
So liegen immer noch Welten zwischen dem Vielvölkerstaat Indien und dem Vielvölkerstaat Pakistan mit seinen fünf Provinzen. Anders als Indien mit seiner mehrheitlich hinduistischen Bevölkerung ist Pakistan fast zu hundert Prozent muslimisch – im "Land der Reinen", wie Pakistan in der Landessprache Paschtu heißt, ist der Islam Staatsreligion. Und sieht sich im Zeichen von Krieg und Antiterrorkampf im benachbarten Afghanistan einem zunehmend militanten politischen Islam gegenüber. So nehmen gewaltbereite Islamisten Indien von drei Seiten in die Zange: Aus Pakistan, das der Terrororganisation al Quaida immer wieder als Operationsbasis dient; aus Kaschmir, wo immer wieder moslemische Separatisten zum Krieg aufrufen; und aus Bangladesh, dem ehemaligen Ostpakistan mit einer muslimischen Bevölkerung, dass sich nach einem krieg 1971 von Pakistan trennte. Mit dem Ende der Kolonialzeit und der Teilung des Subkontinents vor mehr als 60 Jahren hat die Feindschaft zwischen militanten Moslems und Hindus mit den Anschlägen in Bombay neue Dimension bekommen. Der lange Arm der Geschichte reicht bis in die Gegenwart – und macht Indien bis heute zu schaffen.
Die terroristische Bedrohung aus dem Ausland ist das eine – die labile innenpolitische Lage in Indien das andere: Die ethnischen und interreligiösen Konflikte sind auf dem Subkontinent allgegenwärtig. Das Zusammenleben zwischen Hindus, Muslimen und Christen war immer schwierig – doch in Indien wurden die Gegensätze noch durch das Kastenwesen und die damit verbundene soziale Ausgrenzung verstärkt. Im Zeichen des indischen Aufstiegs zur Wirtschaftsmacht werden die sozialen Gegensätze nun noch größer – das soziale Klima zwischen Arm und Reich, zwischen Mehrheiten und Minderheiten, zwischen Ethnien und Glaubensgemeinschaften wird immer rauer. Thomas Kruchem schildert das schwierige Zusammenleben am Beispiel der christlichen Minderheit im Nordosten
des Landes.
Raikia, ein verschlafen wirkendes Städtchen im Landesinnern des nordostindischen Bundesstaates Orissa, im Bezirk Kandhamal. Der weitläufige Garten des Katharinen-Klosters hier ist liebevoll angelegt. Rhododendren blühen zwischen den hellgelb getünchten Gebäuden, Obstbäume, Blumen in allen Farben. Auf dem Rasen genießen Schulmädchen in blau-weißer Uniform ihr Mittagessen. – Ein ganz anderes Bild auf dem abseits liegenden Sportplatz der Klosterschule:
Hier haben sich, inmitten großer grau-weißer Zelte und langer Leinen voller Wäsche einige hundert abgerissen wirkende Menschen zum Gottesdienst versammelt und machen tiefer Verzweiflung Luft. – Raikia sei eine Stadt, Kandhamal ein Bezirk im Ausnahmezustand, erklärt später Schwester Mary, eine schon etwas ältere Nonne. Unweit der Stadt wurden am 23. August 2008 der so genanntes "Swami" und vier seiner engsten Mitarbeiter umgebracht – ein 84-jähriger Hindu-Guru, der 40 Jahre lang gegen das Christentum agitiert hatte und dessen Ermordung seine Verehrer sofort den Christen anlasteten – dies, obwohl eine maoistische Guerilla ausdrücklich die Verantwortung übernahm.
Binnen zwei Wochen wurden in Kandhamal 60 Christen ermordet, hunderte Kirchen und tausende Häuser von Christen niedergebrannt. 50.000 Christen wurden infolge der Ausschreitungen obdachlos; viele sind in den Slums der Hauptstadt Bhubaneswar gestrandet; 15.000 vegetieren bis heute in Notlagern dahin, 1700 allein auf dem Sportplatz des Katharinen-Klosters. Verzweifelte Vertriebene wie die 30-jährige Menaki Digal, die mit ihren vier kleinen Kindern auf dem Boden eines Zeltes kauert.
"Einen Tag nach der Ermordung des Swami kamen sie in unser Dorf – 500 Männer mit Eisenstangen, Äxten und Pistolen. Bis tief in die Nacht brüllten sie Parolen gegen uns Christen; am nächsten Morgen stürmten sie in unser Haus. Sie ergriffen meinen Mann, schleppten ihn in den Garten und begannen, ihm Finger, Arme und Beine abzuschlagen."
Raikia – eine Stadt im Belagerungszustand. Überall Trupps schwer bewaffneter Polizisten, die jedes Fahrzeug misstrauisch beäugen. Dr. Krishan Kumar hat den undankbaren Job, diesen Belagerungszustand zu verwalten. Der elegant gekleidete 32-Jährige, der aus einer reichen Familie in Delhi stammt, ist "collector", Chef der Bezirksverwaltung. Kandhamal sei der ärmste Bezirk im ärmsten Bundesstaat Indiens, erklärt Kumar. Die meisten Bewohner sind Ureinwohner, sogenannte Adivasi, oder kastenlose Unberührbare, sogenannte Dalits. 90 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Da helfen auch gesetzliche Privilegien wie eine hohe Quote an Jobs in der Verwaltung wenig.
"Wir müssen wissen, dass die Menschen in diesem Bezirk nur zwei Möglichkeiten besitzen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen: Sie können erstens im öffentlichen Dienst arbeiten, wenn dort Jobs frei werden und sie einen Anspruch darauf nachweisen können; sie können zweitens Landwirtschaft betreiben, wenn sie Land besitzen. Beide Ressourcen jedoch, staatliche Jobs und Land, werden seit Jahrzehnten stetig knapper – weshalb es immer mal wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Adivasi und Dalits kommt. Einen religiösen Charakter haben diese Konflikten dadurch, dass die meisten Adivasi Hindus sind und die meisten Dalits Christen."
"Collector" Kumar und die staatliche Verwaltung überhaupt ignorierten die wahren Ursachen der seit Jahren zunehmenden religiöser Konflikte in Indien, sagen in Orissas Hauptstadt Bhubaneswar prominente Christen wie der Soziologe Nabor Soreng. Bei diesen Konflikten zwischen Christen und Muslimen einerseits sowie Hindus andererseits handle es sich um einen Vernichtungsfeldzug höher kastiger Hindus gegen Kastenlose, die – als Muslime oder Christen – den Anspruch erheben, vollwertige Menschen zu sein; um einen Feldzug gegen Kastenlose, die es wagten, höher kastigen Geschäftsleuten wirtschaftlich Konkurrenz machen und dem Herrschaftsanspruch der Hindus eigene politische Ambitionen entgegen zu stellen.
In Kandhamal, wo das Kastenwesen noch besonders tief verwurzelt ist und die meisten Menschen in Armut leben, versuchen christliche Hilfsorganisationen vor allem, soziale Entwicklungen in Gang zu bringen – durch Bildung und Gesundheitsversorgung, durch die Vermittlung wirtschaftlicher Chancen, durch den Aufbau von Selbstwertgefühl unter den seit Jahrtausenden unterdrückten Ärmsten Indiens. – Das wahre Ziel aller Hilfe aber sei es, aus Hindus Christen zu machen, unterstellt Ashok Shahu, Chef einer nationalistisch ausgerichteten Hindu-Organisation in Bhubaneswar, die Mitglied ist im radikalen Hindu-Netzwerk "Sangh Parivar".
Sie betrügen die Menschen. Christliche Hilfsorganisationen vergeben, zum Beispiel, Kleinkredite. Und wenn die armen Kreditnehmer das Geld nicht zurückzahlen können, sagen sie: "Mach dir keine Sorgen. Die Kirche zahlt, wenn du Christ wirst." Und die Dalits in ihrer Not überlegen: "Was bedeutet es Christ zu werden? – Nichts eigentlich. Ich wechsle nur meinen Namen – zu Christopher Alfonso, zum Beispiel, oder zu Johannes Matthäus."
Eine ähnliche Haltung gegenüber Nicht-Hindus vermutet der katholische Erzbischof Raphael Cheenath in der Regierung des Staates Orissa, in der die hindu-nationalistische BJP als kleinerer Koalitionspartner mitwirkt. Erst zwei Wochen nach Beginn der Ausschreitungen in Kandhamal, klagt Cheenath, beendete der bis heute andauernde Einsatz von 50 Kompanien paramilitärischer Bundespolizei die Unruhen vorläufig. 600 Verdächtige wurden verhaftet, aber keiner der Drahtzieher, die auf Pressekonferenzen weiter zur Gewalt gegen Christen aufrufen. – Als drastisches Beispiel für das Versagen der Staatsgewalt nennt der Erzbischof den Fall einer Nonne, die unter den Augen der Polizei vergewaltigt wurde.
Die Polizei wusste von Anfang an, dass die Aufrührer die Nonne aus dem Gemeindehaus entführt hatten. Das hatten viele Polizisten beobachtet. Nach der Vergewaltigung wurden die Nonne und ein Priester dann halbnackt durchs Dorf paradiert – ebenfalls unter den Augen der Polizei.
Und als die Nonne sich verzweifelt an zwei Polizisten klammerte, zog die Menge sie von ihnen weg, ohne dass die Polizisten reagierten. Schließlich machte der Mob Anstalten, die Nonne und den Priester zusammenzubinden und zu verbrennen. Dann aber tauchte, gerade noch rechtzeitig, ein Trupp der Bundespolizei auf, schaffte die beiden zu einer Polizeistützpunkt und rettete sie so.
Bombay an diesem Abend: Auch 24 Stunden nach Beginn der Terrorangriffe wird noch gekämpft - noch immer sind Geiseln in der Gewalt von Terroristen.
Dahinter stecken ganz offensichtlich fanatische Islamisten vom Schlage der Indischen Mujaheddin, die in der Vergangenheit immer wieder für Terroranschläge verantwortlich gemacht wurden. Die Gruppe, die sich heute zu der Attentatsserie bekannte, nennt sich Deccan Mujaheddin – niemand kannte sie bislang, niemand weiß, wer dahinter steckt, wer die Drahtzieher sind, wer die Attentäter: Sie sollen Hindi oder Urdu sprechen, sie könnten also Inder sein aus Deccan, einer Region im Süden Indiens. Ministerpräsident Manmohan Singh vermutet die Hintermänner allerdings im Ausland – und das nicht ohne Grund: bei etlichen islamistischen Anschlägen der Vergangenheit wiesen die Spuren in Richtung Pakistan, Kaschmir oder Bangladesh. Ingrid Norbu schildert Indiens Probleme mit einer radikalisierten, schwierigen Nachbarschaft:
Indien, der Gigant Südasiens, mit über einer Milliarde Bewohnern, ist ein demokratisches, laizistisches Land, doch zu 80 Prozent hinduistisch. Moslems bilden die größte Minderheit mit 12 Prozent. Die Hauptstadt Neu Delhi liegt etwa 550 Kilometer vom pakistanischen Lahore entfernt. Riyaz Panjabi ist ein indischer Moslem aus Kaschmir und Friedensaktivist. Er unterrichtet Soziologie an der Jawarharlal-Nehru-Elite-Universität in Delhi.
"Obwohl ich im Fernsehen auftrete, im Radio spreche, für die nationale Presse Artikel schreibe und einen guten Ruf als Wissenschaftler habe, konnte ich lange kein Haus in Delhi finden, weil ich Moslem bin. Ich verschwieg also besser meine Religion. Als ich dann eines fand, gestand ich es meiner Vermieterin. An einen Moslem hätte sie nicht vermietet, meinte sie. Aber nach einiger Zeit lernten wir uns besser kennen und trafen uns sogar. So fand ich heraus, dass das Bild, dass Inder von Moslems haben, auf Stereotypen beruht: Ein Moslem ist rückständig, er ist ein Terrorist, ein Hardliner, jemand, der sich abschottet. Ich denke, dass die Menschen in Nordindien immer noch die Last der Teilung mit sich tragen. Die Erinnerungen daran sind teilweise noch lebendig."
Am 14. August 1947 endete die britische Kolonialherrschaft. Im Panjab und in Bengalen, die nach religiösen Kriterien geteilt worden waren, brachen blutige Kämpfe zwischen Hindus und Moslems aus. Es begann eine Massenvertreibung, eine Massenflucht, wie sie die Welt vorher nie erlebt hatte. Muslime aus Indien flohen nach Pakistan, Hindus aus den für Moslems abgeteilten Gebieten, im Panjab und in Bengalen, versuchten Indien zu erreichen. Über eine halbe Million Menschen überlebten die Flucht nicht. Jahrelanger Streit war der Teilung vorausgegangen.
Mit der Unabhängigkeit 1947 und der Aufteilung in zwei Staaten, Indien und Pakistan, begann der Kampf um Kaschmir. Kaschmir wurde bis dahin von einem selbständigen Hindufürsten regiert, der nun selbst entscheiden sollte, zu wem er gehören wolle. Pakistan machte geltend, dass mehrheitlich Moslems in Kaschmir leben und es deshalb Teil Pakistans werden müsse. Noch ehe sich der Maharadscha von Kaschmir als Hindu Indien anschließen konnte, rückten pakistanische Truppen in sein Land vor. Drei Kriege führten Indien und Pakistan um Kaschmir. Kaschmir ist seither geteilt in einen pakistanischen und einen indischen Teil.
Seit 1989 herrscht dort mit kurzen Phasen von Entspannung allgemein Ausgangssperre. Die Kaschmiris fordern ihr Selbstbestimmungsrecht, eine Abstimmung darüber, ob Kaschmir als ganzes von Indien oder Pakistan aus regiert werden sollte. Ein unabhängiges Kaschmir wollen beide Länder nicht.
Militante Separatisten versuchten erst dieser Tage, die Wahlen für das Regionalparlament im indischen Teil Kaschmirs mit Gewalt aufzuhalten, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Kaschmirfrage zu lenken.
Mittlerweile sehen sich Indien und Pakistan aber einer größeren Gefahr ausgesetzt, als die, die sie für sich selbst darstellen: Dem internationalen Terrorismus. Pakistan liegt direkt an der Front des Antiterrorkampfs östlich von Afghanistan - und Indien liegt nicht weit von dieser Front entfernt. Der Terror von Bombay wirkt wie ein weiteres Warnsignal, dass sie immer näher rückt.
Der indisch-pakistanische Grenzübergang von Wagah ist ein Symbol für die gespannten Beziehungen zwischen beiden Ländern. Und er ist Schauplatz eines allabendlichen skurrilen Rituals, das die tiefen Verwerfungen in eine militärische Formensprache übersetzt.
Die meisten Zuschauer haben schon auf den Tribünen Platz genommen, aber immer noch strömen Familien mit Kindern herbei, um an diesem Spektakel teilzunehmen: Indische und pakistanische Soldaten marschieren auf, kostümiert wie in einem Film, die Pakistanis in Schwarz, die Inder in khakifarbenen Anzügen, mit dreiviertel langen Hosen, unter denen weiße Gamaschen hervorgucken. Die Köpfe der schlanken Soldaten schmücken Kappen mit hoch aufragenden Fächern an einer Seite. Die Zuschauer, angeheizt durch einen Einpeitscher, feuern sie an wie Gladiatoren.
"Mutter Indien", brüllen die indischen Zuschauer, ein Schlachtruf aus Kriegszeiten. Sie versuchen, die Zuschauer auf der anderen Seite der Grenze zu übertönen – auch sie sitzen auf Tribünen und brüllen ihren Schlachtruf: "Pakistan Jindabad" rufen sie, "Sieg für Pakistan". Dort müssen Frauen und Männer getrennt sitzen, die Frauen tragen Kopftücher. Hüben wie drüben steht Angriffslust in den Gesichtern aller Beteiligten geschrieben – dieses Ritual spricht Bände, sagt Nighat Khan.
Am Abend wird die Grenze geschlossen, die Fahnen werden eingeholt, die Soldaten salutieren auf beiden Seiten. Dieser Teil ist freundlich gemeint, obwohl er sehr militärisch ist. Jeden Abend proben die beiden Seiten miteinander, wie sie aufeinander zumarschieren, wie sie die Fahne einholen und wie sie sie falten. Beide Seiten haben Symboltiere, wir Pakistanis haben Pferde, die indische Seite Tiger oder Löwen. So marschieren sie dann auch aufeinander zu und schnauben wie vor Wut. Dabei werfen sie die Köpfe zur Seite. Das ist keine freundliche Geste gegenüber einem Nachbarn.
Nighat Khan ist seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung in Pakistan aktiv. Sie lebt in Lahore, keine 20 Kilometer von der Grenze zu Indien entfernt. Geboren wurde sie vor über 60 Jahren in Indien, vor der Unabhängigkeit und der Teilung. Drei Kriege haben Indien und Pakistan seit 1947 gegeneinander geführt. Beide Staaten besitzen Atomwaffen.
Wegen eines Anschlags auf das indische Parlament im Jahr 2001 kam es fast zu einem vierten Krieg. Doch seit über drei Jahren führen die Regierungen Friedensgespräche und holen damit auf politischer Ebene nach, was es im kleinen Grenzverkehr schon lange gibt.
"Die Indische Armee hat einen hohen Zaun an der viele hundert Kilometer langen Grenze zwischen beiden Ländern errichtet, aber er liegt weit auf ihrem eigenen Territorium, so dass viele indische Bauern jenseits des Zaunes Land besitzen. Jeden Morgen öffnet sich ein Türchen im Grenzzaun und die Bauern gehen zu ihren Feldern, arbeiten dort quasi mit den pakistanischen Bauern zusammen, sie lachen zusammen, sie essen zusammen, weil sie Nachbarn sind. Sie teilen sich das Wasser, das Futter für die Tiere, die Weiden. Abends gehen die indischen Bauern dann wieder durch das Türchen im Grenzzaun zurück."
So liegen immer noch Welten zwischen dem Vielvölkerstaat Indien und dem Vielvölkerstaat Pakistan mit seinen fünf Provinzen. Anders als Indien mit seiner mehrheitlich hinduistischen Bevölkerung ist Pakistan fast zu hundert Prozent muslimisch – im "Land der Reinen", wie Pakistan in der Landessprache Paschtu heißt, ist der Islam Staatsreligion. Und sieht sich im Zeichen von Krieg und Antiterrorkampf im benachbarten Afghanistan einem zunehmend militanten politischen Islam gegenüber. So nehmen gewaltbereite Islamisten Indien von drei Seiten in die Zange: Aus Pakistan, das der Terrororganisation al Quaida immer wieder als Operationsbasis dient; aus Kaschmir, wo immer wieder moslemische Separatisten zum Krieg aufrufen; und aus Bangladesh, dem ehemaligen Ostpakistan mit einer muslimischen Bevölkerung, dass sich nach einem krieg 1971 von Pakistan trennte. Mit dem Ende der Kolonialzeit und der Teilung des Subkontinents vor mehr als 60 Jahren hat die Feindschaft zwischen militanten Moslems und Hindus mit den Anschlägen in Bombay neue Dimension bekommen. Der lange Arm der Geschichte reicht bis in die Gegenwart – und macht Indien bis heute zu schaffen.
Die terroristische Bedrohung aus dem Ausland ist das eine – die labile innenpolitische Lage in Indien das andere: Die ethnischen und interreligiösen Konflikte sind auf dem Subkontinent allgegenwärtig. Das Zusammenleben zwischen Hindus, Muslimen und Christen war immer schwierig – doch in Indien wurden die Gegensätze noch durch das Kastenwesen und die damit verbundene soziale Ausgrenzung verstärkt. Im Zeichen des indischen Aufstiegs zur Wirtschaftsmacht werden die sozialen Gegensätze nun noch größer – das soziale Klima zwischen Arm und Reich, zwischen Mehrheiten und Minderheiten, zwischen Ethnien und Glaubensgemeinschaften wird immer rauer. Thomas Kruchem schildert das schwierige Zusammenleben am Beispiel der christlichen Minderheit im Nordosten
des Landes.
Raikia, ein verschlafen wirkendes Städtchen im Landesinnern des nordostindischen Bundesstaates Orissa, im Bezirk Kandhamal. Der weitläufige Garten des Katharinen-Klosters hier ist liebevoll angelegt. Rhododendren blühen zwischen den hellgelb getünchten Gebäuden, Obstbäume, Blumen in allen Farben. Auf dem Rasen genießen Schulmädchen in blau-weißer Uniform ihr Mittagessen. – Ein ganz anderes Bild auf dem abseits liegenden Sportplatz der Klosterschule:
Hier haben sich, inmitten großer grau-weißer Zelte und langer Leinen voller Wäsche einige hundert abgerissen wirkende Menschen zum Gottesdienst versammelt und machen tiefer Verzweiflung Luft. – Raikia sei eine Stadt, Kandhamal ein Bezirk im Ausnahmezustand, erklärt später Schwester Mary, eine schon etwas ältere Nonne. Unweit der Stadt wurden am 23. August 2008 der so genanntes "Swami" und vier seiner engsten Mitarbeiter umgebracht – ein 84-jähriger Hindu-Guru, der 40 Jahre lang gegen das Christentum agitiert hatte und dessen Ermordung seine Verehrer sofort den Christen anlasteten – dies, obwohl eine maoistische Guerilla ausdrücklich die Verantwortung übernahm.
Binnen zwei Wochen wurden in Kandhamal 60 Christen ermordet, hunderte Kirchen und tausende Häuser von Christen niedergebrannt. 50.000 Christen wurden infolge der Ausschreitungen obdachlos; viele sind in den Slums der Hauptstadt Bhubaneswar gestrandet; 15.000 vegetieren bis heute in Notlagern dahin, 1700 allein auf dem Sportplatz des Katharinen-Klosters. Verzweifelte Vertriebene wie die 30-jährige Menaki Digal, die mit ihren vier kleinen Kindern auf dem Boden eines Zeltes kauert.
"Einen Tag nach der Ermordung des Swami kamen sie in unser Dorf – 500 Männer mit Eisenstangen, Äxten und Pistolen. Bis tief in die Nacht brüllten sie Parolen gegen uns Christen; am nächsten Morgen stürmten sie in unser Haus. Sie ergriffen meinen Mann, schleppten ihn in den Garten und begannen, ihm Finger, Arme und Beine abzuschlagen."
Raikia – eine Stadt im Belagerungszustand. Überall Trupps schwer bewaffneter Polizisten, die jedes Fahrzeug misstrauisch beäugen. Dr. Krishan Kumar hat den undankbaren Job, diesen Belagerungszustand zu verwalten. Der elegant gekleidete 32-Jährige, der aus einer reichen Familie in Delhi stammt, ist "collector", Chef der Bezirksverwaltung. Kandhamal sei der ärmste Bezirk im ärmsten Bundesstaat Indiens, erklärt Kumar. Die meisten Bewohner sind Ureinwohner, sogenannte Adivasi, oder kastenlose Unberührbare, sogenannte Dalits. 90 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Da helfen auch gesetzliche Privilegien wie eine hohe Quote an Jobs in der Verwaltung wenig.
"Wir müssen wissen, dass die Menschen in diesem Bezirk nur zwei Möglichkeiten besitzen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen: Sie können erstens im öffentlichen Dienst arbeiten, wenn dort Jobs frei werden und sie einen Anspruch darauf nachweisen können; sie können zweitens Landwirtschaft betreiben, wenn sie Land besitzen. Beide Ressourcen jedoch, staatliche Jobs und Land, werden seit Jahrzehnten stetig knapper – weshalb es immer mal wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Adivasi und Dalits kommt. Einen religiösen Charakter haben diese Konflikten dadurch, dass die meisten Adivasi Hindus sind und die meisten Dalits Christen."
"Collector" Kumar und die staatliche Verwaltung überhaupt ignorierten die wahren Ursachen der seit Jahren zunehmenden religiöser Konflikte in Indien, sagen in Orissas Hauptstadt Bhubaneswar prominente Christen wie der Soziologe Nabor Soreng. Bei diesen Konflikten zwischen Christen und Muslimen einerseits sowie Hindus andererseits handle es sich um einen Vernichtungsfeldzug höher kastiger Hindus gegen Kastenlose, die – als Muslime oder Christen – den Anspruch erheben, vollwertige Menschen zu sein; um einen Feldzug gegen Kastenlose, die es wagten, höher kastigen Geschäftsleuten wirtschaftlich Konkurrenz machen und dem Herrschaftsanspruch der Hindus eigene politische Ambitionen entgegen zu stellen.
In Kandhamal, wo das Kastenwesen noch besonders tief verwurzelt ist und die meisten Menschen in Armut leben, versuchen christliche Hilfsorganisationen vor allem, soziale Entwicklungen in Gang zu bringen – durch Bildung und Gesundheitsversorgung, durch die Vermittlung wirtschaftlicher Chancen, durch den Aufbau von Selbstwertgefühl unter den seit Jahrtausenden unterdrückten Ärmsten Indiens. – Das wahre Ziel aller Hilfe aber sei es, aus Hindus Christen zu machen, unterstellt Ashok Shahu, Chef einer nationalistisch ausgerichteten Hindu-Organisation in Bhubaneswar, die Mitglied ist im radikalen Hindu-Netzwerk "Sangh Parivar".
Sie betrügen die Menschen. Christliche Hilfsorganisationen vergeben, zum Beispiel, Kleinkredite. Und wenn die armen Kreditnehmer das Geld nicht zurückzahlen können, sagen sie: "Mach dir keine Sorgen. Die Kirche zahlt, wenn du Christ wirst." Und die Dalits in ihrer Not überlegen: "Was bedeutet es Christ zu werden? – Nichts eigentlich. Ich wechsle nur meinen Namen – zu Christopher Alfonso, zum Beispiel, oder zu Johannes Matthäus."
Eine ähnliche Haltung gegenüber Nicht-Hindus vermutet der katholische Erzbischof Raphael Cheenath in der Regierung des Staates Orissa, in der die hindu-nationalistische BJP als kleinerer Koalitionspartner mitwirkt. Erst zwei Wochen nach Beginn der Ausschreitungen in Kandhamal, klagt Cheenath, beendete der bis heute andauernde Einsatz von 50 Kompanien paramilitärischer Bundespolizei die Unruhen vorläufig. 600 Verdächtige wurden verhaftet, aber keiner der Drahtzieher, die auf Pressekonferenzen weiter zur Gewalt gegen Christen aufrufen. – Als drastisches Beispiel für das Versagen der Staatsgewalt nennt der Erzbischof den Fall einer Nonne, die unter den Augen der Polizei vergewaltigt wurde.
Die Polizei wusste von Anfang an, dass die Aufrührer die Nonne aus dem Gemeindehaus entführt hatten. Das hatten viele Polizisten beobachtet. Nach der Vergewaltigung wurden die Nonne und ein Priester dann halbnackt durchs Dorf paradiert – ebenfalls unter den Augen der Polizei.
Und als die Nonne sich verzweifelt an zwei Polizisten klammerte, zog die Menge sie von ihnen weg, ohne dass die Polizisten reagierten. Schließlich machte der Mob Anstalten, die Nonne und den Priester zusammenzubinden und zu verbrennen. Dann aber tauchte, gerade noch rechtzeitig, ein Trupp der Bundespolizei auf, schaffte die beiden zu einer Polizeistützpunkt und rettete sie so.
Bombay an diesem Abend: Auch 24 Stunden nach Beginn der Terrorangriffe wird noch gekämpft - noch immer sind Geiseln in der Gewalt von Terroristen.