"Dies ist meine Schwester. Sie ist von zu Hause weggelaufen und ich bin ihr gefolgt, um sie zurückzuholen. Sie haben mich mit ihr zusammen aufgegriffen und jetzt sitze ich auch hier."
Hohe, stacheldrahtbewehrte Mauern am Rande eines nackten Innenhofs. Daran angrenzend: ein zweiter Hof, hier allerdings mit Kochfeuern und Toiletten. Nur an der einen Seite ein geschlossener Raum mit Matten und Schlafstellen. Kinder laufen zwischen aufgehängter Wäsche hin und her - so sieht es im Frauengefängnis von Mazar-e Sharif aus.
Zwei Dutzend Insassinnen leben hier, zum Beispiel die etwa 20-jährige Sabra. Als ihre Schwester mit einem jungen Mann zusammen ausriss, folgte sie ihr, um sie zurückzuholen. Aber auch ihr Bruder kam hinterher, um sie anzuzeigen, sie alle drei. Der Mann, der Sabras Schwester zur Flucht überredet hat, ist längst wieder auf freiem Fuß. Die beiden Frauen aber sind noch immer im Gefängnis.
"Wie lange soll ich noch hier einsitzen? Ich weiß nicht, was ich verbrochen haben soll."
Vielleicht treffen die zwei Schwestern irgendwann auf Richter Shamsurrahman Momand, den Leiter des Provinzgerichts von Mazar- e Sharif, dem Sitz des deutsch geführten Regionalkommandos Nord.
Der Endfünfziger mit langem weißen Bart und Turban ist Absolvent einer Madrassa, einer Koranhochschule im ostafghanischen Jalalabad. Wenn es um Verstöße gegen die guten Sitten geht, so macht er klar, dann kennt er keine Kompromisse.
"Jedes Gesetz in Afghanistan entspricht der Scharia. Unser Gericht ist ein hundertprozentig islamisches."
Dass dies nicht nur bei Verstößen gegen die Sittlichkeit, sondern bei noch schwereren Fällen gilt, macht er an zwei Beispielen klar. Beispiel eins:
"Wenn wir einer Person einen Diebstahl hundertprozentig und ohne Zweifel nachweisen könnten, dann würden wir entscheiden, dem Betreffenden die Hand abschlagen zu lassen."
Beispiel zwei:
"Nach unseren islamischen Regeln wird eine Person, die den Islam verlässt und zu einer anderen Religion übertritt mit dem Tod bestraft."
Wer sich in die Blaue Moschee in Mazar-e Sharif begibt, Afghanistans höchstes islamisches Heiligtum und die Geistlichen dort auf diese Art von Rechtsauslegung anspricht, stößt auf Kopfschütteln. Nafi Khan, ehemals leitender Mullah der Moschee:
"Die Scharia sollte unsere Grundlage bleiben, aber wir dürfen sie nicht den Fundamentalisten überlassen. Wir wollen, dass die Scharia die Grundlage für demokratische Entscheidungen wird."
Ist die Scharia also das, worauf die sich Fundamentalisten beziehen oder eher eine Argumentationsgrundlage für Demokraten? Beides scheint möglich, denn Islam ist nicht gleich Islam - und Scharia nicht gleich Scharia.
In Afghanistan allein gibt es eine Fülle unterschiedlicher Traditionen und Herangehensweisen an die Religion - beispielsweise den Sufismus, die mystisch inspirierte Gottsuche des Individuums. Unter den Taliban war der Sufismus streng verboten. Heute versammeln sich die Sufibruderschaften wieder allfreitäglich in der Blauen Moschee rund um das Grab, in dem Ali, der Schwiegersohn des Propheten Mohammed, beigesetzt sein soll. Auch das islamische Recht ist kein monolithischer Block. Tillmann Röder, Jurist bei der Max-Planck-Gesellschaft, ist einer der europäischen Justizberater in Afghanistan. Am Beispiel der Todesstrafe wegen angeblichen Glaubensabfalls zeigt er, dass die Rechtsauffassung am Provinzgericht von Mazar-e Sharif in Wirklichkeit keine traditionell-afghanische ist.
"In Afghanistan wurde vor der Taliban-Zeit, soweit bekannt, die Todesstrafe wegen Apostasie zuletzt in den 1920er-Jahren verhängt. Die Wandelung der Rechtsauffassung weist darauf hin, dass sich der afghanische Islam in den Jahrzehnten des Dschihad - gegen die Sowjets - und der islamistischen Herrschaft verändert hat."
Hin zu einer radikal fundamentalistischen Auffassung. Denn Quelle für die Entscheidungen am Provinzgericht von Mazar-e Sharif und anderswo ist weniger die Scharia an sich, als der Wahabismus: Die sektenartige Extremform des Islam wird von Saudi Arabien unterstützt und diente in den 80er-Jahren den afghanischen den Mudschaheddin als ideologische Waffe im Kampf gegen die Rote Armee.
Um sich vor den nächsten Wahlen im August die Unterstützung gerade der mächtigen Interessengruppe aus Alt-Mudschaheddin zu sichern, hat Präsident Karzai deren Vertreter auf wichtige Posten in Verwaltung und Justiz gehievt. Dort etablieren sie inzwischen einen Fundamentalismus, der mit den religiösen Traditionen Afghanistans kaum etwas zu tun hat - und insbesondere nichts mit dem Aufbau eines Rechtsstaates, zu dem die internationale Unterstützungstruppe ISAF ja eigentlich in Afghanistan stationiert wurde.
Frauenrechte werden eingeschränkt, Todesurteile wegen Gotteslästerung ausgesprochen, Prozesse ohne Beweisaufnahme und Anwälte geführt. Und immer mehr westliche Politiker fordern dafür Verständnis.
"Manchmal wird überlesen, dass in der afghanischen Verfassung steht: Es ist eine islamische Republik und alles, was dort vom Gesetz her nicht geregelt ist, orientiert sich nach den Vorgaben der Scharia. Das ist nachzulesen, das hat jeder gewusst - und deshalb sollte der eine oder andere jetzt nicht so überrascht tun","
sagt Niels Annen, Mitglied im SPD-Parteivorstand und im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages - offenbar in Unkenntnis darüber, um welche Auslegung der Scharia es sich da eigentlich handelt.
Für den afghanischen Journalisten Yaqub Ibrahimi sind solche Stimmen weniger Belege für interkulturelle Kompetenz - sondern Signale eines Paradigmenwechsels bei der NATO. Einerseits, so Ibrahimi, wolle man jetzt unnachgiebige Taliban noch härter bekämpfen mit Angriffen bis weit hinein ins pakistanische Kernland. Andererseits glaube man verhandlungsbereiten Gegnern mit Konzessionen in punkto Rechtstaat goldene Brücken bauen zu müssen. Ein Kurs, den Ibrahimi auf das Schärfste kritisiert:
""Deutschland und andere Länder sind nach Afghanistan gegangen, weil sie eine klare Mission vor Augen hatten, die sich in drei Punkten zusammenfassen lässt. Erstens: den Terrorismus bekämpfen. Zweitens: unsere Gesellschaft demokratisieren. Drittens: gegen den Drogenanbau und Drogenhandel kämpfen. Das war ihre Mission. Und als sie das Afghanistan-Mandat beschlossen, baten sie die Steuerzahler ihrer Länder um die nötigen Mittel. Sie sagten: Das ist unser Ziel, gebt uns das Geld dafür. Jetzt sagen sie den Steuerzahlern zwar immer noch, dass sie die Taliban bekämpfen. In Wahrheit fördern sie inzwischen längst den Talibanismus, all die Ideen, die hinter den Taliban stehen: den Fundamentalismus und den Extremismus."
Genau den gleichen Fehler, so Ibrahimi, habe der Westen in den 80er-Jahren schon einmal gemacht. Um eines kurzfristigen Erfolges willen, die Sowjets aus Afghanistan zu vertreiben. Doch dieser Erfolg war teuer erkauft. Der Westen unterstützte damals die Mudschaheddin. Und aus denen gingen Terror und Taliban hervor.
Hohe, stacheldrahtbewehrte Mauern am Rande eines nackten Innenhofs. Daran angrenzend: ein zweiter Hof, hier allerdings mit Kochfeuern und Toiletten. Nur an der einen Seite ein geschlossener Raum mit Matten und Schlafstellen. Kinder laufen zwischen aufgehängter Wäsche hin und her - so sieht es im Frauengefängnis von Mazar-e Sharif aus.
Zwei Dutzend Insassinnen leben hier, zum Beispiel die etwa 20-jährige Sabra. Als ihre Schwester mit einem jungen Mann zusammen ausriss, folgte sie ihr, um sie zurückzuholen. Aber auch ihr Bruder kam hinterher, um sie anzuzeigen, sie alle drei. Der Mann, der Sabras Schwester zur Flucht überredet hat, ist längst wieder auf freiem Fuß. Die beiden Frauen aber sind noch immer im Gefängnis.
"Wie lange soll ich noch hier einsitzen? Ich weiß nicht, was ich verbrochen haben soll."
Vielleicht treffen die zwei Schwestern irgendwann auf Richter Shamsurrahman Momand, den Leiter des Provinzgerichts von Mazar- e Sharif, dem Sitz des deutsch geführten Regionalkommandos Nord.
Der Endfünfziger mit langem weißen Bart und Turban ist Absolvent einer Madrassa, einer Koranhochschule im ostafghanischen Jalalabad. Wenn es um Verstöße gegen die guten Sitten geht, so macht er klar, dann kennt er keine Kompromisse.
"Jedes Gesetz in Afghanistan entspricht der Scharia. Unser Gericht ist ein hundertprozentig islamisches."
Dass dies nicht nur bei Verstößen gegen die Sittlichkeit, sondern bei noch schwereren Fällen gilt, macht er an zwei Beispielen klar. Beispiel eins:
"Wenn wir einer Person einen Diebstahl hundertprozentig und ohne Zweifel nachweisen könnten, dann würden wir entscheiden, dem Betreffenden die Hand abschlagen zu lassen."
Beispiel zwei:
"Nach unseren islamischen Regeln wird eine Person, die den Islam verlässt und zu einer anderen Religion übertritt mit dem Tod bestraft."
Wer sich in die Blaue Moschee in Mazar-e Sharif begibt, Afghanistans höchstes islamisches Heiligtum und die Geistlichen dort auf diese Art von Rechtsauslegung anspricht, stößt auf Kopfschütteln. Nafi Khan, ehemals leitender Mullah der Moschee:
"Die Scharia sollte unsere Grundlage bleiben, aber wir dürfen sie nicht den Fundamentalisten überlassen. Wir wollen, dass die Scharia die Grundlage für demokratische Entscheidungen wird."
Ist die Scharia also das, worauf die sich Fundamentalisten beziehen oder eher eine Argumentationsgrundlage für Demokraten? Beides scheint möglich, denn Islam ist nicht gleich Islam - und Scharia nicht gleich Scharia.
In Afghanistan allein gibt es eine Fülle unterschiedlicher Traditionen und Herangehensweisen an die Religion - beispielsweise den Sufismus, die mystisch inspirierte Gottsuche des Individuums. Unter den Taliban war der Sufismus streng verboten. Heute versammeln sich die Sufibruderschaften wieder allfreitäglich in der Blauen Moschee rund um das Grab, in dem Ali, der Schwiegersohn des Propheten Mohammed, beigesetzt sein soll. Auch das islamische Recht ist kein monolithischer Block. Tillmann Röder, Jurist bei der Max-Planck-Gesellschaft, ist einer der europäischen Justizberater in Afghanistan. Am Beispiel der Todesstrafe wegen angeblichen Glaubensabfalls zeigt er, dass die Rechtsauffassung am Provinzgericht von Mazar-e Sharif in Wirklichkeit keine traditionell-afghanische ist.
"In Afghanistan wurde vor der Taliban-Zeit, soweit bekannt, die Todesstrafe wegen Apostasie zuletzt in den 1920er-Jahren verhängt. Die Wandelung der Rechtsauffassung weist darauf hin, dass sich der afghanische Islam in den Jahrzehnten des Dschihad - gegen die Sowjets - und der islamistischen Herrschaft verändert hat."
Hin zu einer radikal fundamentalistischen Auffassung. Denn Quelle für die Entscheidungen am Provinzgericht von Mazar-e Sharif und anderswo ist weniger die Scharia an sich, als der Wahabismus: Die sektenartige Extremform des Islam wird von Saudi Arabien unterstützt und diente in den 80er-Jahren den afghanischen den Mudschaheddin als ideologische Waffe im Kampf gegen die Rote Armee.
Um sich vor den nächsten Wahlen im August die Unterstützung gerade der mächtigen Interessengruppe aus Alt-Mudschaheddin zu sichern, hat Präsident Karzai deren Vertreter auf wichtige Posten in Verwaltung und Justiz gehievt. Dort etablieren sie inzwischen einen Fundamentalismus, der mit den religiösen Traditionen Afghanistans kaum etwas zu tun hat - und insbesondere nichts mit dem Aufbau eines Rechtsstaates, zu dem die internationale Unterstützungstruppe ISAF ja eigentlich in Afghanistan stationiert wurde.
Frauenrechte werden eingeschränkt, Todesurteile wegen Gotteslästerung ausgesprochen, Prozesse ohne Beweisaufnahme und Anwälte geführt. Und immer mehr westliche Politiker fordern dafür Verständnis.
"Manchmal wird überlesen, dass in der afghanischen Verfassung steht: Es ist eine islamische Republik und alles, was dort vom Gesetz her nicht geregelt ist, orientiert sich nach den Vorgaben der Scharia. Das ist nachzulesen, das hat jeder gewusst - und deshalb sollte der eine oder andere jetzt nicht so überrascht tun","
sagt Niels Annen, Mitglied im SPD-Parteivorstand und im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages - offenbar in Unkenntnis darüber, um welche Auslegung der Scharia es sich da eigentlich handelt.
Für den afghanischen Journalisten Yaqub Ibrahimi sind solche Stimmen weniger Belege für interkulturelle Kompetenz - sondern Signale eines Paradigmenwechsels bei der NATO. Einerseits, so Ibrahimi, wolle man jetzt unnachgiebige Taliban noch härter bekämpfen mit Angriffen bis weit hinein ins pakistanische Kernland. Andererseits glaube man verhandlungsbereiten Gegnern mit Konzessionen in punkto Rechtstaat goldene Brücken bauen zu müssen. Ein Kurs, den Ibrahimi auf das Schärfste kritisiert:
""Deutschland und andere Länder sind nach Afghanistan gegangen, weil sie eine klare Mission vor Augen hatten, die sich in drei Punkten zusammenfassen lässt. Erstens: den Terrorismus bekämpfen. Zweitens: unsere Gesellschaft demokratisieren. Drittens: gegen den Drogenanbau und Drogenhandel kämpfen. Das war ihre Mission. Und als sie das Afghanistan-Mandat beschlossen, baten sie die Steuerzahler ihrer Länder um die nötigen Mittel. Sie sagten: Das ist unser Ziel, gebt uns das Geld dafür. Jetzt sagen sie den Steuerzahlern zwar immer noch, dass sie die Taliban bekämpfen. In Wahrheit fördern sie inzwischen längst den Talibanismus, all die Ideen, die hinter den Taliban stehen: den Fundamentalismus und den Extremismus."
Genau den gleichen Fehler, so Ibrahimi, habe der Westen in den 80er-Jahren schon einmal gemacht. Um eines kurzfristigen Erfolges willen, die Sowjets aus Afghanistan zu vertreiben. Doch dieser Erfolg war teuer erkauft. Der Westen unterstützte damals die Mudschaheddin. Und aus denen gingen Terror und Taliban hervor.