Die deutsche Forschung über den Zweiten Weltkrieg hat zunächst die Auffassung vertreten, die Wehrmacht habe im wesentlichen so gekämpft, wie man es unter Militärs als "anständig" bezeichnet; eventuelle Kriegsverbrechen seien auf das Konto der SS gegangen. Später ließ sich diese These nicht mehr halten.
Seit den siebziger Jahren wiesen deutsche und internationale Historiker nach, dass die Wehrmacht seit der Eroberung Jugoslawiens und dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 ebenfalls Kriegsverbrechen begangen hat. Die in den neunziger Jahren entstandene Wehrmachtsausstellung hat - bei allen Fehlern im Detail - für die Popularisierung dieser Erkenntnis viel geleistet. Jochen Böhlers Buch "Auftakt zum Vernichtungskrieg" zeigt: auch die Zäsur 1941 liegt noch zu spät. Der Zweite Weltkrieg war nicht nur ein deutscher Angriffskrieg, er begann mit einem Kriegsverbrechen.
Im Morgengrauen des 1. September 1939 bombardierten deutsche Stukas die schlafende Kreisstadt Wieluń, eine Stadt ohne militärische Bedeutung. Etwa 1.200 Tote waren die Folge. Der Terrorangriff war kein Einzelfall, er hatte System. Jochen Böhler:
"Wir haben zunächst die Bombardements der deutschen Luftwaffe auf nichtmilitärische und nichtstrategische Ziele, die hohe zivile Opfer forderten, wir haben die Erschießungen von Zivilisten im Rahmen der so genannten Partisanenbekämpfung, wobei es eine Partisanenbewegung in Polen 1939 nicht gegeben hat, und wir haben die Massenerschießungen von Kriegsgefangenen unmittelbar im Anschluss an ihre Gefangennahme. Das sind die drei großen Kapitel der Kriegsverbrechen, die die Wehrmacht im Herbst 1939 begangen hat."
Eine große Rolle zur Motivierung der deutschen Kriegsverbrechen spielte der Freischärlermythos. Die deutsche Propaganda heizte ihn hemmungslos an:
"Eine der ersten Aufgaben ist die Säuberung der Ortschaften von dem verhetzten polnischen Mob, der von der polnischen Regierung zum hinterhältigen Freischärlerkampf gegen die deutschen Soldaten aufgestachelt wurde."
Die Furcht vor Partisanen – Freischärlern, wie man damals sagte - war schon im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 entstanden. Während des Ersten Weltkriegs hatte sie sich vor allem in Belgien verschärft. Die deutsche Militärführung hielt es für ihr selbstverständliches Recht, in andere Länder einzufallen; sollte sich aber deren Zivilbevölkerung gegen diesen Einmarsch zur Wehr setzen, dann hatte sie nach deutscher Auffassung ihr Lebensrecht verwirkt und war blutigen Repressalien ausgesetzt. So wie deutsche Truppen 1914 das belgische Löwen niederbrannten, so zerstörten sie fünfundzwanzig Jahre später polnische Dörfer und Städte:
"Es war schrecklich. Wir waren in Kajetanowice, dort haben sie die Menschen aus den Häusern rausgetrieben. Aber eine Familie wollte nicht raus. Da haben die Soldaten sie einfach an einen Zaun gebunden, mit Benzin übergossen und angezündet. Die Menschen haben lebendig gebrannt. Alles hat gebrannt, alle Häuser. Viele sind in den Flammen gestorben."
Das besonders Zynische an diesen Blutbädern war, dass für den September 1939 ein organisierter polnischer Partisanenkampf nicht nachweisbar ist. Die vorgeblichen Partisanenüberfälle waren, wenn sie nicht überhaupt erfunden waren, in der Regel "friendly fire", also Schüsse deutscher Einheiten auf eigene Kameraden; vielfach ist dieses Durcheinander in deutschen Kriegstagebüchern auch festgehalten.
Die Wehrmachtsführung hatte noch kurz vor dem Angriff auf Polen in der Auswertung des Sommermanövers 1939 Mängel der Gefechtsausbildung und Neigung zur Panik in der Truppe festgestellt. Um dies nicht regimeintern zugeben zu müssen, wurde die polnische Zivilbevölkerung für das Chaos in den Rängen der Wehrmacht verantwortlich gemacht. Schon am 4. September erging der erste Armeebefehl, der das Wüten der Truppe sanktionierte.
Auf mindestens 25.000 schätzt Böhler die Zahl der zivilen Opfer allein während der ersten acht Wochen der deutschen Besatzung. Seine Darstellung ist quellengesättigt, wie es sich für eine Dissertation gehört, aber gleichwohl gut lesbar. Sie bestätigt das, was Marcel Reich-Ranicki, der die einmarschierenden Deutschen 1939 in Warschau erlebte, beschrieben hat:
"Die Soldaten, die immer wieder Wohnungen von Juden überfielen, wollten sich bereichern. Doch sollte man ein ganz anderes Motiv nicht unterschätzen: sie taten etwas, was ihnen augenscheinlich Freude bereitete. Hier hatten sie auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen, hier unterlagen sie keiner Aufsicht und keiner Kontrolle. Anders als am Rhein oder Main konnten sie endlich tun, wovon sie immer schon geträumt hatten: die Sau rauslassen."
Jochen Böhlers Studie erweitert nicht nur unser Wissen über den deutschen Angriff auf Polen, indem sie erstmals aus deutschen Quellen dokumentiert, was die polnische Geschichtsschreibung auf Grundlage von Augenzeugenberichten schon vor Jahrzehnten beschrieben hat. Sie schont dabei die deutsche Seite keinen Augenblick lang. Böhlers Arbeit ist über ihren unmittelbaren Gegenstand hinaus gleichwohl auch in einem fatalen Sinne lehrreich für das Verhalten von Eroberern und Besatzern bis in die heutige Zeit:
"Gesellt sich zu den äußeren Gegebenheiten der Kampfeinsätze noch eine Abwertung der gesamten Bevölkerung des eroberten Gebietes aufgrund von verinnerlichten rassenideologischen Überzeugungen, so entlädt sich die Gewaltbereitschaft in Massakern. Das Massaker, das amerikanische Truppen während des Vietnamkrieges an den Einwohnern von My Lai verübten, erschien ganz normalen amerikanischen ‚boys next door’ im Rückblick als ‚this Nazi kind of thing ... what the Germans did to the Jews." In Wirklichkeit sind Massaker seitens einer Invasionsarmee, die sich den Landeseinwohnern gegenüber in kultureller und ethnischer Hinsicht überlegen fühlt, kein auf die deutsche Kriegführung im Osten begrenztes Phänomen."
Kajetanowice und Tschenstochau liegen heute, so muss man befürchten, in Haditha und Falludscha. Der Irak beweist, wie dünn die Tünche demokratischer Instruktionen sein kann, wenn ein Militär erst einmal im Einsatz ist.
Jochen Böhler: "Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939", Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main. - 228 Seiten zum Preis von 12, 95 Euro.
Seit den siebziger Jahren wiesen deutsche und internationale Historiker nach, dass die Wehrmacht seit der Eroberung Jugoslawiens und dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 ebenfalls Kriegsverbrechen begangen hat. Die in den neunziger Jahren entstandene Wehrmachtsausstellung hat - bei allen Fehlern im Detail - für die Popularisierung dieser Erkenntnis viel geleistet. Jochen Böhlers Buch "Auftakt zum Vernichtungskrieg" zeigt: auch die Zäsur 1941 liegt noch zu spät. Der Zweite Weltkrieg war nicht nur ein deutscher Angriffskrieg, er begann mit einem Kriegsverbrechen.
Im Morgengrauen des 1. September 1939 bombardierten deutsche Stukas die schlafende Kreisstadt Wieluń, eine Stadt ohne militärische Bedeutung. Etwa 1.200 Tote waren die Folge. Der Terrorangriff war kein Einzelfall, er hatte System. Jochen Böhler:
"Wir haben zunächst die Bombardements der deutschen Luftwaffe auf nichtmilitärische und nichtstrategische Ziele, die hohe zivile Opfer forderten, wir haben die Erschießungen von Zivilisten im Rahmen der so genannten Partisanenbekämpfung, wobei es eine Partisanenbewegung in Polen 1939 nicht gegeben hat, und wir haben die Massenerschießungen von Kriegsgefangenen unmittelbar im Anschluss an ihre Gefangennahme. Das sind die drei großen Kapitel der Kriegsverbrechen, die die Wehrmacht im Herbst 1939 begangen hat."
Eine große Rolle zur Motivierung der deutschen Kriegsverbrechen spielte der Freischärlermythos. Die deutsche Propaganda heizte ihn hemmungslos an:
"Eine der ersten Aufgaben ist die Säuberung der Ortschaften von dem verhetzten polnischen Mob, der von der polnischen Regierung zum hinterhältigen Freischärlerkampf gegen die deutschen Soldaten aufgestachelt wurde."
Die Furcht vor Partisanen – Freischärlern, wie man damals sagte - war schon im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 entstanden. Während des Ersten Weltkriegs hatte sie sich vor allem in Belgien verschärft. Die deutsche Militärführung hielt es für ihr selbstverständliches Recht, in andere Länder einzufallen; sollte sich aber deren Zivilbevölkerung gegen diesen Einmarsch zur Wehr setzen, dann hatte sie nach deutscher Auffassung ihr Lebensrecht verwirkt und war blutigen Repressalien ausgesetzt. So wie deutsche Truppen 1914 das belgische Löwen niederbrannten, so zerstörten sie fünfundzwanzig Jahre später polnische Dörfer und Städte:
"Es war schrecklich. Wir waren in Kajetanowice, dort haben sie die Menschen aus den Häusern rausgetrieben. Aber eine Familie wollte nicht raus. Da haben die Soldaten sie einfach an einen Zaun gebunden, mit Benzin übergossen und angezündet. Die Menschen haben lebendig gebrannt. Alles hat gebrannt, alle Häuser. Viele sind in den Flammen gestorben."
Das besonders Zynische an diesen Blutbädern war, dass für den September 1939 ein organisierter polnischer Partisanenkampf nicht nachweisbar ist. Die vorgeblichen Partisanenüberfälle waren, wenn sie nicht überhaupt erfunden waren, in der Regel "friendly fire", also Schüsse deutscher Einheiten auf eigene Kameraden; vielfach ist dieses Durcheinander in deutschen Kriegstagebüchern auch festgehalten.
Die Wehrmachtsführung hatte noch kurz vor dem Angriff auf Polen in der Auswertung des Sommermanövers 1939 Mängel der Gefechtsausbildung und Neigung zur Panik in der Truppe festgestellt. Um dies nicht regimeintern zugeben zu müssen, wurde die polnische Zivilbevölkerung für das Chaos in den Rängen der Wehrmacht verantwortlich gemacht. Schon am 4. September erging der erste Armeebefehl, der das Wüten der Truppe sanktionierte.
Auf mindestens 25.000 schätzt Böhler die Zahl der zivilen Opfer allein während der ersten acht Wochen der deutschen Besatzung. Seine Darstellung ist quellengesättigt, wie es sich für eine Dissertation gehört, aber gleichwohl gut lesbar. Sie bestätigt das, was Marcel Reich-Ranicki, der die einmarschierenden Deutschen 1939 in Warschau erlebte, beschrieben hat:
"Die Soldaten, die immer wieder Wohnungen von Juden überfielen, wollten sich bereichern. Doch sollte man ein ganz anderes Motiv nicht unterschätzen: sie taten etwas, was ihnen augenscheinlich Freude bereitete. Hier hatten sie auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen, hier unterlagen sie keiner Aufsicht und keiner Kontrolle. Anders als am Rhein oder Main konnten sie endlich tun, wovon sie immer schon geträumt hatten: die Sau rauslassen."
Jochen Böhlers Studie erweitert nicht nur unser Wissen über den deutschen Angriff auf Polen, indem sie erstmals aus deutschen Quellen dokumentiert, was die polnische Geschichtsschreibung auf Grundlage von Augenzeugenberichten schon vor Jahrzehnten beschrieben hat. Sie schont dabei die deutsche Seite keinen Augenblick lang. Böhlers Arbeit ist über ihren unmittelbaren Gegenstand hinaus gleichwohl auch in einem fatalen Sinne lehrreich für das Verhalten von Eroberern und Besatzern bis in die heutige Zeit:
"Gesellt sich zu den äußeren Gegebenheiten der Kampfeinsätze noch eine Abwertung der gesamten Bevölkerung des eroberten Gebietes aufgrund von verinnerlichten rassenideologischen Überzeugungen, so entlädt sich die Gewaltbereitschaft in Massakern. Das Massaker, das amerikanische Truppen während des Vietnamkrieges an den Einwohnern von My Lai verübten, erschien ganz normalen amerikanischen ‚boys next door’ im Rückblick als ‚this Nazi kind of thing ... what the Germans did to the Jews." In Wirklichkeit sind Massaker seitens einer Invasionsarmee, die sich den Landeseinwohnern gegenüber in kultureller und ethnischer Hinsicht überlegen fühlt, kein auf die deutsche Kriegführung im Osten begrenztes Phänomen."
Kajetanowice und Tschenstochau liegen heute, so muss man befürchten, in Haditha und Falludscha. Der Irak beweist, wie dünn die Tünche demokratischer Instruktionen sein kann, wenn ein Militär erst einmal im Einsatz ist.
Jochen Böhler: "Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939", Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main. - 228 Seiten zum Preis von 12, 95 Euro.