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Terrorexperte: Strategie gegen radikale Muslime falsch

Nach Ansicht des Terrorismusexperten Udo Ulfkotte trägt der Westen eine Mitschuld an der Radikalisierung von Muslimen. Die Kriege im Irak und in Afghanistan nach den Anschlägen vom 11. September 2001 seien ein Fehler gewesen, sagte Ulfkotte. Noch schneller als durch einen Krieg könne man Muslime nicht zu radikalen Ansichten bringen.

Moderation: Dirk Müller |
    Dirk Müller: Der Krieg im Libanon, Bürgerkrieg im Irak, Atomkonflikt mit dem Iran, Terroralarm in London. Ein ganzes Netz von Gewalt. Die Ursachen für die jeweiligen Konfliktherde sind vielfältig, aber aus Sicht des Westens hängt dies alles miteinander irgendwie zusammen. Und der neue gemeinsame Feind ist längst ausgemacht: der radikale Islamismus, vor allem das Terrornetzwerk Al Kaida. Und einiges deutet darauf hin, dass Al Kaida auch diesmal wieder in London die Finger mit im Spiel hatte. Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Terrorexperten Udo Ulfkotte von der Universität in Lüneburg. Guten Morgen!

    Udo Ulfkotte: Guten Morgen!

    Müller: Herr Ulfkotte, warum ist es offenbar so leicht für Al Kaida, Helfer zu rekrutieren?

    Ulfkotte: Nun, das hängt mit vielerlei zusammen, beispielsweise mit der Doppelzüngigkeit unserer Gesellschaft. Wenn ich etwa einen Student nehme oder einige von ihnen aus vergangen Jahren und mich mit ihnen unterhalte, dann haben sich manch einer von ihnen von früher friedfertigen Muslimen in Richtung des radikalen Islam entwickelt, weil sie sagen: Mein Gott, es gibt so viele Punkte, wo ihr nichts tut. Wenn ich sie dann frage: Was meint ihr? Dann sagen sie beispielsweise: Der Westen steht doch für Frieden, Freiheit, Gleichheit und Demokratie. Wenn es aber freie, gleiche und geheime Wahlen etwa in Palästina gibt und dann die Hamas gewinnt, nein, das wollt ihr nicht. Genauso wie in Algerien, wenn bei freien, gleichen und geheimen Wahlen die FIS gewonnen hat 1992, dann möchtet ihr, dass die Wahlen annulliert werden. Ihr tut nirgendwo auf dieser Welt etwas. Derzeit liefern die Amerikaner Medikamente etwa an die libanesische Zivilbevölkerung und gleichzeitig die Bomben an Israel - wie könnt ihr das rechtfertigen? Und so hält man mir stundenlang Vorträge, wo ich ehrlich sagen muss, auf viele dieser Fragen habe ich keine Antworten. Und die jungen Muslime sagen mir, sie finden eine Antwort im Islam. Und manche von ihnen lassen sich sogar radikalisieren.

    Müller: Herr Ulfkotte, etwas polemisch zugespitzt hört sich das dann so an für uns: Wir sind selbst schuld.

    Ulfkotte: Um ehrlich zu sein, nach langem, langem Nachdenken, tragen wir zumindest einen Teil Mitschuld an dieser Entwicklung, weil wir blind für diese Entwicklung gewesen sind. Ein Beispiel dafür: Auch heute noch schauen wir nur darauf, wie kann man Taten verhindern, Terrortaten. Unser einziges Augenmerk bei den Sicherheitsbehörden ist darauf gerichtet, in letzter Sekunde möglichst noch Terroranschläge zu verhindern. Aber niemand von uns kümmert sich darum: Wie können wir Täter verhindern? Wie können wir überhaupt dieses Rekrutierungspotenzial vor unserer eigenen Haustüre unter friedfertigen, gutwilligen Muslimen, die radikalisiert werden, wie können wir etwas dagegen tun, dass Täter entstehen? Das interessiert uns augenscheinlich nicht bis wenig. Und deshalb tragen wir sicherlich auch mit Schuld an dieser Entwicklung.

    Müller: Hat der Westen für diese Täterfindung, für diese Potenzialfindung, wie Sie es ausgedrückt haben, denn noch Zeit?

    Ulfkotte: Der Westen hat kaum noch Zeit, etwas zu verhindern. Das zeigen vor allem die Anschläge seit September 2001. Statt während wir sagen, wir haben immer weniger Terror, weil wir den Terrorkrieg ja gewinnen - das ist das, was die Amerikaner sagen -, sehe ich, dass wir immer mehr junge Terroristen haben. Von einigen wenigen, die es in London im letzten Jahr waren oder in Madrid, haben wir jetzt offenbar Dutzende wieder in London. Das heißt, das Potenzial ist groß. Und jeden Tag entstehen neue. Ich erinnere daran, dass der ägyptische Staatspräsident Hosni Mubarak vor dem Irak-Krieg gesagt hat: Liebe Amerikaner, wenn ihr das tatsächlich macht und im Irak einmarschiert, dann werden jeden Tag 100 neue Osama bin Ladens entstehen. Und rückblickend muss ich sagen: Er hat offenkundig leider Recht gehabt.

    Müller: Gibt es dennoch - wir blicken mal auf beide Seiten der Medaille, Sie haben es ja genannt -, also einerseits ist es der Krieg, der vorangetrieben wird, der gemacht wird auch aus Selbstverteidigung und auch aus Überzeugung, und auf der anderen Seite geht es darum, den Sumpf trockenzulegen beziehungsweise das Entstehungspotenzial in irgendeiner Form zu flankieren, in den Griff zu bekommen. Wenn wir diese zweite Komponente einmal beiseitelassen und es geht jetzt darum, dass Sie westliche Regierung beraten müssten, beraten sollten: Gibt es da eine Alternative zu einem Krieg?

    Ulfkotte: Es gibt ganz sicher eine Alternative zu einem Krieg. Das hieße aber: Statt Krieg zu führen etwa in Afghanistan und im Irak - der im Übrigen längst verloren ist, das, was hier berichtet wird, halte ich nicht für richtig, dass dieser Krieg noch, dass diese Kriege noch zu gewinnen sind. Die Beratung dort hieße, in vielfältigen Punkten etwa Kompromisse zu machen und nicht rückhaltlos auf unseren Auffassung zu bestehen, auf Muslime viel offener zuzugehen. Ansonsten muss die Entwicklung eine fürchterlich verhängnisvolle sein. Denn sehen Sie selbst, die demografische Entwicklung in Europa deutet doch darauf hin - was nichts Negatives ist -, dass wir mehr und mehr Muslime haben werden. Und wir müssen aufpassen, dass nicht immer mehr davon radikalisiert werden. Bei einer Beratung würde ich sagen: um Himmels willen, alles andere, nur keinen Krieg! Denn noch schneller kann man Muslime nicht radikalisieren.

    Müller: Nehmen wir den Orient als Pendant zum Westen. Wie wichtig, wie bedeutsam ist denn die Doppelzüngigkeit im Orient für die Radikalen?

    Ulfkotte: Genauso wichtig. Also ein Beispiel dafür: Ich habe einmal erlebt, wie ein saudisches Regierungsmitglied bei einer europäischen Botschaftsparty in der saudischen Hauptstadt Riad in einer Schubkarre von der Botschaftsresidenz bis zu seinem Fahrzeug gefahren werden musste, weil er so betrunken war. Diese Doppelzüngigkeit - einerseits keinen Alkohol zu verkaufen, das ist jetzt zwar ein winziges Beispiel -, aber diese Doppelzüngigkeit grundsätzlich, auch die Zusammenarbeit von Saudi-Arabien und anderen Staaten mit dem vielen verhassten Westen, spielt selbstverständlich auch eine Rolle. Deshalb wäre einer der Punkte: Wir schauen - bei einer Beratung etwa -, wir schauen nur auf Geschäfte, wir gucken nur auf geschäftliche Interessen und setzen uns über viele Punkte bei der Moral hinweg. Wir machen Geschäfte auch mit Schurkenstaaten, nach wie vor. Wir sehen, wie die Menschenrechte in Ländern wie Saudi-Arabien mit Füßen getreten werden, und schicken gleichzeitig Delegationen dorthin, um gute Geschäfte zu machen. All das ist auch doppelzüngig.

    Müller: Der Terrorexperte Udo Ulfkotte war das. Vielen Dank für dieses Gespräch. Auf Wiederhören.

    Ulfkotte: Danke.