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Terrorismus
Leben im Ausnahmezustand

Seit den Terroranschlägen der RAF in den 70er Jahren sind Leibwächter eine fast zwingende Selbstverständlichkeit, wenn die höchsten Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Justiz in der Öffentlichkeit auftreten. Die Historikerin Maren Richter hat untersucht, wie der Personenschutz das Leben von Politikern und deren Familien verändert hat.

Von Otto Langels |
    Sicherheitsbeamte schirmen die Bundeskanzlerin Angela Merkel und Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich auf einer CDU Wahlkampfveranstaltung in Oschatz (Sachsen) ab
    Immer an ihrer Seite - Sicherheitsbeamte schützen Kanzlerin Merkel (picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
    Ausschnitt aus der Tagesschau:
    "Guten Abend, meine Damen und Herren, fünf Wochen nach der Ermordung des Bankiers Ponto ist am Abend auf den Vorsitzenden der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber-Verbände Hanns-Martin Schleyer in Köln ein Attentat verübt worden. Schleyer wurde offenbar verletzt, möglicherweise entführt."
    Als am 5. September 1977 ein Kommando der Roten Armee Fraktion das Auto des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer stoppte, um ihn zu entführen, starben sein Fahrer und drei Sicherheitsbeamte im Kugelhagel. Sechs Wochen später erschossen die Terroristen Schleyer. Er war das dritte prominente Todesopfer der RAF innerhalb kurzer Zeit, nach den Morden an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und Jürgen Ponto. Die Anschlagserie setzte die Sicherheitsbehörden, allen voran das Bundeskriminalamt, in höchste Alarmbereitschaft, sollten sie doch Anschläge auf politische und wirtschaftliche Repräsentanten der Bundesrepublik verhindern, zum damaligen Zeitpunkt eine völlig neue Herausforderung.
    Personenschutz war auch eine Statusfrage
    Die Historikerin Maren Richter konnte als Erste Akten des BKA zum Personenschutz einsehen. Den Unterlagen entnahm sie, dass sich Art und Umfang der Sicherheitsmaßnahmen nach der Position und der konkreten Gefährdung des Einzelnen richteten. Für einige Politiker waren die ständige Begleitung oder eine gepanzerte Limousine aber nicht nur eine Frage der Sicherheit.
    "Es gibt Hinweise darauf oder einige Fälle in den Akten, die zeigen, dass es tatsächlich für einige Politiker eine Statusfrage war, Personenschutz zu haben. Und zwar gerade vor allem die Minister, die nicht im Rampenlicht standen. Und das war für das Bundeskriminalamt nicht einfach, das zu entscheiden, ob man jetzt Personenschutz gibt oder nicht."
    Für ihre fundierte Studie hat sich Maren Richter nicht nur auf die Auswertung von Akten beschränkt, sondern auch eine Reihe von Politikern befragt. Ihr gelang es, ausführliche Gespräche u.a. mit Helmut Schmidt, Hans-Jochen Vogel, Gerhart Baum sowie dem ehemaligen BKA-Chef Hans-Ludwig Zachert zu führen. Da auch einige Ehefrauen und Kinder an der Befragung teilnahmen, gewährt ihre Darstellung neben allgemeinen Sicherheitsaspekten aufschlussreiche Einblicke, wie einzelne Personen auf die extreme Situation reagierten.
    "Viele haben mir erzählt, dass der Beginn des Personenschutzes wirklich eine völlige Umstellung war, eine völlige Umwälzung ihres täglichen und ihres privaten Lebens. Alle Bereiche im Privatleben haben sich verändert, dass z.B. Gerhart Baum, der ehemalige Bundesinnenminister mir erzählte, dass auf Veranstaltungen sich Leute teilweise wunderten, dass sich noch eine andere Person mit ihm in den Toilettenbereich drängte und ihn dorthin begleitete."
    Angst wurde als Schwäche ausgelegt
    Trotz der massiven Eingriffe in das Alltagsleben betrachteten die meisten den Personenschutz als unvermeidlich. Vor allem Angehörige der Kriegsgeneration wie Helmut Schmidt oder Hans-Jochen Vogel nahmen die ständige Begleitung scheinbar gelassen hin, zumal Angst, so die Autorin, im politischen Betrieb als Schwäche ausgelegt wurde. Auf dem Umschlag des Buches ist ein Foto abgedruckt, das den FDP-Politiker Gerhart Baum mit seiner kleinen Tochter bei einem Spaziergang im Kölner Stadtwald zeigt, umgeben von vier Personenschützern. Ein weiteres Foto zeigt Willy Brandt mit seiner Ehefrau während eines Bootsausflugs im Urlaub, im Hintergrund der BKA-Mann.
    Vom "Leben im Ausnahmezustand" waren auch die Ehefrauen und Kinder der gefährdeten Personen betroffen, sie wurden in die Schutzmaßnahmen mit einbezogen, und sie litten häufig am stärksten darunter:
    "Jemand wie Loki Schmidt, die ständigen Personenschutz hatte, musste am Wochenende schon ihre Termine für die nächste Woche mitteilen, damit diese Schichten eingeteilt werden konnten. Kinder konnten teilweise nicht mehr alleine zur Schule gehen, sie wurden begleitet. Bei Hans-Jochen Vogel, dem ehemaligen Bundesjustizminister, saßen Polizisten auch vor den Klassenräumen der Kinder. Es gab Schwierigkeiten, auch Freunde zu finden, die mit dieser Situation klar kamen."
    Privatheit war unter diesen Umständen kaum noch möglich. Einige Kinder versuchten, dieses beklemmende Gefühl hinter sich zu lassen, indem sie nach der Schulzeit ins Ausland gingen. Und manche geschützte Person versuchte, wie Maren Richter schreibt, mitunter auszubrechen:
    "So wurde Generalbundesanwalt Rebmann zwar von einer Sicherheitseskorte unter Einsatz von Blaulicht und Martinshorn nach Hause gefahren, zog sich dann jedoch um und ging allein mit dem Dackel im Wald spazieren."
    Lange bevor Francois Hollande nachts mit dem Motorroller durch Pariser Straßen brauste, schüttelte Willy Brandt seine Personenschützer ab, indem er sich im Auto seines Sohnes auf der Rückbank versteckte und so unbemerkt das Grundstück verließ.
    Mancher wurde geradezu verrückt
    Nicht jeder konnte souverän mit der Situation umgehen. Maren Richter zitiert einen Personenschützer, dass die ständige Bedrohung durch den Terrorismus einige Politiker geradezu verrückt gemacht habe. Leider beschränkt sich die Verfasserin auf zwei Interviews mit BKA-Beamten. Eine umfangreichere Quellenbasis hätte sicherlich weitere Erkenntnisse über das "Leben im Ausnahmezustand" geliefert.
    Doch Personenschutz war kein Muss. Es gab auch Fälle, in denen sich Politiker strikt weigerten, sich von bewaffneten Männern ständig begleiten zu lassen.
    "Herbert Wehner ist so ein Beispiel. Er war eigentlich hoch gefährdet, war eingestuft in der Gefährdungsstufe 1 und sollte Personenschutz bekommen und hat das von Anfang an abgelehnt. Und dann war das für das Bundeskriminalamt nicht möglich, ihm Personenschutz zu geben."
    Wer jahrelang auf Schritt und Tritt von Leibwächtern begleitet wurde, genoss es, irgendwann die Herrschaft über die eigene Privatsphäre zurückzugewinnen.
    "Nur vier Wochen nach Ausscheiden aus seinem Amt ließ Gerhart Baum seinen Personenschutz einstellen, was er wie eine Befreiung von diesen beengenden Lebensverhältnissen empfand. Die Zacherts genossen das Höchstmögliche an Freiheit, als sie kurz nach der Pensionierung mit dem offenen Cabrio ohne Schutzbegleitung in den Urlaub fuhren."
    Die Geschichte des linksextremen Terrorismus der 1970er und 80er Jahre sowie die politischen Reaktionen sind in unzähligen historischen, literarischen und filmischen Darstellungen beschrieben worden. Maren Richter fügt dieser Geschichte eine weitere, originelle Seite hinzu. Auch wenn an manchen Stellen ihrer Arbeit der akademische Ton der zugrunde liegenden Dissertation durchkommt, so hat sie doch eine lesenswerte Studie vorgelegt, mit ungewöhnlichen Einsichten aus dem Innenleben der Macht.
    Maren Richter: "Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland 1970 - 1993". Campus, 368 Seiten, 34,90 Euro.