Archiv


Testregion Ostsee

Diesen Winter ist das Eis im Hafen von Helsinki viel dünner als sonst. Poseidon, der kleine, starke Eisbrecher der Hafenverwaltung, wird für 24stündige Dauereinsätze gebraucht wie im letzten Jahr. Damals fror die Fahrrinne, die Poseidon hinter sich herzog, binnen einer halben Stunde wieder zu. Es ist fünf Uhr früh, die Großstadt schläft, und Poseidons Scheinwerfer beleuchtet eine Kulisse bizarrer Schönheit: Eisschollen, vielfach aufgerissen, scharfe Kanten werfend, dann wieder ineinander gefroren. Der Kapitän steht in seiner gewärmten Kajüte hoch über dem Eis, trinkt einen Kaffee aus einem Plastikbecher, und schaut hinaus in die weiße Wüste, die Poseidon in erstaunlichem Tempo durchschneidet.

Von Jan Pallokat |
    Er ist so, wie man sich in Mitteleuropa einen Finnen vorstellt: Einsilbig, ruhig, ein wenig mürrisch. Aber an manchem Morgen ist er nicht allein, auch heute nicht. Dann kommt Kari Nooroviita mit an Bord, der Chef des Hafens von Helsinki. Nooroviita sagt, er liebe diese frühmorgendliche Ruhe, den Anblick des Eises, das krachend an den Stahlwänden des Schiffes zerbricht.

    Eis und Schnee, das ist ein großer und vor allem unberechenbarer Kostenfaktor für den Hafen von Helsinki. Er besteht aus vier Einzelhäfen: Einem Ölhafen, zwei Frachthäfen, und einem Passagierhafen im Herzen der Stadt. Vor allem hier hat das Ende der Blockteilung zahlreiche Spuren hinterlassen, sagt Nooroviita.

    Die Frachtumsätze sind ein bisschen gestiegen. Aber vor allem bei den Passagierzahlen gab es in den 90er Jahren enorme Zuwächse, auch wenn es zuletzt etwas runter ging mit den Zahlen. Früher gab es nur ein einziges sowjetisches Schiff zwischen Tallinn und Helsinki. Nur wenige Menschen fuhren da, und praktisch niemand von Tallinn nach Helsinki. Jetzt ist hier viel los, im Sommer fahren Schnellboote und sogar Hubschrauber: Da gibt es 30 Abfahrten pro Tag, eine sehr dichte Frequenz. Überlegen Sie sich das mal: Wir hatten über sechs Millionen Passagiere zwischen Helsinki und Tallinn im letzten Jahr, und in ganz Finnland leben nur fünf Millionen. Die Leute fahren zum Einkaufen nach Tallinn und jetzt ändert sich die Lage völlig wegen der EU-Erweiterung. Da gibt es keinen zollfreien Einkauf mehr. Jetzt werden wir warten und schauen, was der Frühling bringen wird.

    Am Finnischen Meerbusen immerhin funktioniert, was sich andere auch für die ganze Ostsee erhofft haben: Die Vereinigung zweier Ostsee-Völker. Tallinn und Helsinki, die nur 80 Kilometer von einander entfernten Hauptstädte, sind für viele schon zu zwei Hälften einer Stadt verschmolzen, und Finnen wie Esten haben voneinander eine auffallend gute Meinung: In einer Umfrage des wirtschaftsnahen finnischen Forschungsinstituts "EVA" äußerten sich über 70 Prozent der befragten Finnen positiv zu estnischen Besuchern in ihrem Land, umgekehrt schätzte eine Mehrheit der Esten die Finnen als gute Partner vor allem im Wirtschaftsleben. Verwandte Sprachen und eine gemeinsame, schwierige geografische Position in Nähe des übermächtigen Nachbarn Russland schweißen zusammen. Doch weiter draußen in der Ostsee endet dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, glaubt Nooroviita.

    Die meiste Zeit in meiner Seefahrer-Karriere war ich auf der Ostsee unterwegs, nicht in tiefen Gewässern, nur hier. Man entdeckt in den Ostsee-Häfen viele Unterschiede. Nehmen sie die Umweltproblematik: Das ist hier ein vieldiskutiertes Thema. Aber im Baltikum gibt es da ganz andere Zustände als etwa in Schweden, wo man sich auch viele Gedanken macht. Jedes Ostsee-Land geht seinen eigenen Weg, die Dinge zu gestalten. Das Gemeinsame: Das ist die See.

    Nach dem Ende der Blockteilung waren viele überzeugt, dass da mehr ist, das verbindet. Von einer Wiederkehr der Hanse war die Rede, von einer gemeinsamen Region, dynamisch, modern, technologieorientiert, wachstumsstark. Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt zwischen Lübeck und Tallinn, Stockholm und Danzig: Noch immer trennt die Ostsee-Staaten mehr, als sie verbindet.

    Zwar schossen Ostsee-Initiativen wie Pilze aus dem Boden. Hafenchefs treffen sich regelmäßig wie auch die Bürgermeister der Ostsee-Städte. Gewerkschaften und Bürgerinitiativen formten eine institutionalisierte Ostsee-Zusammenarbeit. Doch all dieses vordergründige Engagement kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass an den Küsten der Ostsee Widersprüche und Gegensätze in großer Zahl aufeinander treffen, und dass diese Gegensätze eher zugenommen haben.

    Die Ostsee verbindet Orthodoxe, Katholiken und Lutheraner, die Ostsee-Sprachen unterscheiden sich fundamental. Und auch die Tagespolitik offenbart: Während Deutsche und Skandinavier dem Irak-Krieg eher reserviert gegenüberstanden, fochten Dänen, Polen und Balten mit. Während Finnland mit dem Euro gute Erfahrungen gemacht hat, haben sich die Schweden zuletzt mit großer Mehrheit gegen den Euro ausgesprochen. Armin von Ungern-Sternberg von der Frankfurter Hertie-Stiftung ist ein Kenner des Kulturgeschehens längs der Ostseeküsten.

    Wenn man nach einer gemeinsamen Ostsee-Identität sucht, dann war es im Grunde genommen so, dass 1989 und davor, sprich zu Zeiten des Kalten Krieges, eine solche Identität viel stärker gegeben war. Da gab es auf der einen Seite den Ostblock, hauptsächlich an der Südküste, es gab zwei kleine westliche Anrainer, Dänemark und West-Deutschland, das sind ja keine besonders dominierenden Territorien in diesem Raum, und an der Nordküste einige neutrale Staaten. Wenn ich die Identität eines Raumes so definiere, dass Bewohner sich insgesamt ähnlich sind, oder ähnlichen Lebenszusammenhängen ausgesetzt sind, dann war das sicherlich zu Zeiten des Kalten Krieges, als die Welt geradezu eingefroren war, viel stärker als heute. Jetzt erleben wir eher eine Renationalisierung des Raumes. Das ist sehr leicht nachzuvollziehen. Alle diese Länder Estland, Lettland, Litauen, Polen, also ehemals dem Ostblock zugerechnete Länder, müssen sich erst einmal selbst finden. Das wird die EU in den kommenden Jahren auch ganz stark spüren.

    Dass Initiativen wie Ostsee-Rat, Ostsee-Parlamentarier-Konferenz oder NGO-Kooperativen nie großes Gewicht bekommen haben, liegt auch daran, dass für wichtige Anrainer-Staaten die Ostsee am Rand liegt, vor allem für Russland und Deutschland. Aber auch Polen ist, trotz seiner langen Ostsee-Küste, eher zentral organisiert. Die Region braucht eine Führungsmacht, fordert Dietmar Albrecht von der Lübecker Academia Baltica:

    Die eigentliche dynamische Macht an der Ostsee ist Schweden, Deutschland und Polen sind nicht Ostsee-orientiert. Die meisten Deutschen wissen gar nicht, was die Ostsee ist und wo sie ist, und das gleiche gilt für die Polen. Und Russland hat weitere Interessen als nur die Zugänge zur Ostsee.

    Doch Schweden nimmt nur zögernd seine mögliche Rolle im Ostsee-Raum ein. Monika Sieradzka, polnische Fernsehkorrespondentin in Stockholm, illustriert es mit einem Beispiel: Die Schweden sagten, "in Europa regnet es", und meinten Deutschland oder Polen. Politisch neutral, hätten es sich viele Verantwortliche in Schweden gemütlich gemacht in diversen internationalen Projekten etwa der Entwicklungshilfe, und die Arbeit vor der eigenen Haustür vernachlässigt. Schweden und Deutsche haben den Ostsee-Raum in Jahrhunderten stark geprägt, die einen unter König Gustav Adolph, die anderen seit der ins Mittelalter zurückreichenden Ost-Kolonisation. Heute aber sei in Deutschland wie in Schweden – aus unterschiedlichen Gründen – Geschichtsvergessenheit zu beklagen, sagt Dietmar Albrecht. Was aber könnte ein gemeinsames Interesse der Ostsee-Staaten sein? Die Umweltthematik fällt als erstes ins Auge, auch Kari Nooroviita, der Chef des Hafens von Helsinki, denkt an Bord des Eisbrechers Poseidon vor allem daran, wenn er an die ganze Ostsee denkt.

    In Finnland gab es im letzten Winter viele Diskussionen zum Öltransport aus Russland und zu diesen einwandigen Tankern. Früher wurde russisches Öl in Lettland und Litauen verladen, heute kommt es aus Primorsk, direkt am finnischen Meerbusen, und da herrschen ziemlich heikle Eis-Bedingungen. Ich mache mir schon Sorgen. Es wird derzeit ein gemeinsames Informations-System für den Seetransport im finnischen Meerbusen aufgebaut. Aber natürlich: Wenn der Verkehr dicht ist, erhöht sich auch das Risiko. Aber ich glaube nicht, dass die große Katastrophe ganz nahe ist, aber man weiß ja nie.

    Eine andere denkbare Klammer, die seit den 90er Jahren viele Ostsee-Akteure verband, und doch auch wieder trennte, war die Sicherheitspolitik. Sicherheit und Frieden im Ostsee-Raum: Schon die Frage, worum es dabei geht, entzweit die Anrainerstaaten. Für Deutsche etwa, gewöhnt an eine passive Rolle im Ringen der Weltmächte, war Sicherheit noch in den 90er Jahren eher etwas Theoretisches.

    Je weiter man sich aber östlich im Ostsee-Raum bewegt, desto konkreter werden die Vorstellungen von Sicherheit: Die Balten haben noch die Rohre sowjetischer Panzer in Erinnerung, gegen die sie sich stellten während der "singenden Revolution". Eine Gefahr, die von Russland ausgeht, wird vor allem im Osten des Raumes noch immer konkret unterstellt, im Westen dagegen kaum noch ernst genommen. Hakan Wilberg, Sicherheitsexperte am Kopenhagener Friedensforschungsinstitut COPRI:

    Seit den 90er Jahren ist die Rhetorik der Balten erkennbar zurückgegangen, vor allem wegen des westlichen Rats: "Macht das nicht so lautstark zum Thema." Was dann einige nordische Staaten gemacht haben, war, mit Sachleistungen und Training beim Aufbau der baltischen Streitkräfte zu helfen. Aber in dem Moment, als ein schwedischer Premierminister andeutete, dass das auch mit Sicherheitsgarantien verbunden sein könnte, wurde das sofort kontrovers diskutiert, und er musste von dieser Position Abstand nehmen. Auch zwischen den nordischen Staaten selbst gibt es ja alle möglichen Kooperationen, aber keine Sicherheitsgarantien, außer nach dem 2. Weltkrieg Dänemark und Norwegen innerhalb des NATO-Verbundes.

    Russland wickelt ein Drittel seines Außenhandels mit der bestehenden, bald 50 Prozent mit der erweiterten Union ab, 30 Prozent des deutschen Erdgases kommt aus Russland: Die gegenseitige Abhängigkeit ist gestiegen und hat eine direkte Auseinandersetzung mit Russland unwahrscheinlicher gemacht, glaubt Wilberg.

    Auf der anderen Seite ist Russland eine Größe, die fast jeden Rahmen einer wie auch immer gearteten Ostsee-Identität sprengt. Das Land bringt ganz andere Voraussetzungen ein als andere Anrainerstaaten. Wer sich beispielsweise regionale Zusammenarbeit vor allem auf der Basis nicht-staatlicher Organisationen vorstellt, der scheitert in Russland schon an der geringen Zahl solcher NGOs, berichtet Eva Romanowska von der polnischen Initiative "Borussia", die sich der kommunalen Zusammenarbeit mit der russischen Region Kaliningrad verschrieben hat.

    Der Begriff ´Bürgergesellschaft’ wird in Russland ganz anders verstanden, negativ nämlich. Demokratie steht dort für Chaos. Wir haben einige Projekte angeschoben, aber meist kamen nur scheinbare Partnerschaften dabei heraus und Papiere, die ausgetauscht wurden. Wir treffen zum Beispiel bei Umweltthemen auf ein äußerst geringes Umweltbewusstsein im Kaliningrader Gebiet. Es gibt in Kaliningrad keine einzige Umweltorganisation, mit der man kooperieren könnte, abgesehen von einigen gewalttätigen Öko-Radikalen. Die grenznahe Wojwodschaft hat 116 Gemeinden, eine institutionalisierte Zusammenarbeit gibt es nur mit 18 davon, und keine einzige der direkt angrenzenden Gemeinden kooperiert mit den Kaliningradern.

    Auch an der finnisch-russischen Grenze halten sich Integrationsfortschritte in Grenzen, berichtet Cornelius Sommer, Ex-Botschafter der Bundesrepublik in Finnland. Immerhin würden Finnen und Russen sehr erfolgreich bei der Kontrolle der gemeinsamen 3.500 Kilometer langen Grenze kooperieren, aber in Russland würde nur wenig getan, um wohlhabende Finnen über die Grenze zu locken, nicht einmal fremdsprachliche Hinweisschilder seien dort zu finden.

    Wo der politische Wille zum Zusammenrücken fehlt, bleibt die Hoffnung auf die integrative Kraft von Wirtschaft und Handel. Sommer hofft dabei besonders auf den anstehenden Beitritt Russlands in die WTO, die Welthandelsorganisation, die zur weiteren Öffnung der Märkte zwingt. Schon heute haben viele Unternehmen die zahlreichen Grenzen im Ostsee-Raum überwunden; die estnische Hansabank operiert im ganzen Baltikum; der schwedische Stromriese Vattenfall in allen Ostsee-Staaten, finnische Holzverarbeiter haben ein Ostsee-Netzwerk aufgebaut.

    Der Warenaustausch über die Ostsee hat in den letzten Jahren so rasant zugenommen, dass einige Ökonomen die Ostsee schon zur dynamischsten Wachstumsregion des Kontinents erklärten. Doch Kurt Hübner, Ökonom an der Universität York, warnt davor, das Tempo der wirtschaftlich-sozialen Angleichung zu überschätzen: Länder wie die baltischen Staaten bräuchten noch bis zu 60 Jahre, um wirklich aufzuschließen.

    Schaut man sich die strukturellen Faktoren an, was ist notwendig, um dauerhaft Wachstum zu produzieren, vergleicht man es mit anderen Regionen in der Welt, dann ist ein Gesichtspunkt, den man sich anschauen muss: wie sieht eigentlich die Qualifikationsstruktur der Arbeitnehmer aus in diesen Ländern. Und wenn man das vergleicht mit der südosteuropäischen Peripherie, Griechenland, Portugal, Spanien, und das sind die unmittelbaren Konkurrenten jetzt der baltischen Länder, dann sieht man, dass die einige Jahrzehnte Vorsprung haben. Und wenn man die finanziellen Ressourcen in Rechnung stellt, die hier im Baltikum zur Verfügung gestellt werden, gerade in Richtung Upgrading der Qualifikation, dann sieht es relativ schwach aus. Das ist ein Engpass. Ein zweiter: Das sind sehr kleine Volkswirtschaften. Das interne Wachstum ist sicher begrenzt, dazu sind die Märkte zu klein, sie müssen also exportieren. Und da wird exportiert vor allem im arbeitsintensiven Bereich. Und das ist eine Linie, die viele andere Länder in der Welt auch verfolgen, die auch offene Marktbeziehungen mit Europa haben, ob man nun Mitglied Europas ist oder an südostasiatische Länder denkt, da spielen sich harte Konkurrenzen ab.

    Seit Jahren streiten sich die Balten, die eigentlich eine Freihandelszone schaffen wollten, um Fischereirechte oder Fleischexporte, und statt die Interessen ihrer Ölhäfen zu bündeln, stechen sich Estland, Lettland und Litauen im Wettbewerb um russische Ölexporte gegenseitig aus. Estland entschied sich vor einigen Jahren, in der eigenen Außendarstellung nicht mehr als baltisches, sondern als nordisches Land erscheinen zu wollen. Der Kenner der Ostsee-Literatur, Arnim von Ungern-Sternberg:

    Was kommt zuerst, die Identität oder die Region? Im Augenblick, würde ich sagen, ist die Identität der Ostsee ein Konstrukt, was eine große historische Berechtigung hat, es gibt in diesem Raum sehr enge Beziehungen, aber es gibt noch kein gemeinsames Zusammengehörigkeitsgefühl.

    An der Ostsee spricht man nie über die Ostsee, beobachtet Ungern-Sternberg – und verweist auf die Literatur, in der sich ebenfalls keinerlei Ostsee-Zusammengehörigkeitsgefühl manifestiere.

    Man kann natürlich Belegstellen finden, wo die Ostsee in der Literatur erwähnt wird. Das ist aber Erbsenklauberei. Denn die pure Erwähnung von einer Sache drückt ja noch nicht besondere Funktionen aus. Man kann von einem Italien-Bild in der deutschen Literatur sprechen, meinetwegen auch von einem Frankreich-Bild. Ein Ostsee-Bild im Vergleich zu einem Italien-Bild gibt es nicht.

    Die Ostsee sei für viele, vor allem auch für Skandinavier und Russen, ein Tor zu Welt, etwas, durch das man hindurch geht, sagt der Literatur-Kenner. Die Ostsee und ihre Küsten – für viele Akteure in den Hauptstädten der Ostsee-Staaten sind die Landstriche Provinz, keiner eigenen Betrachtung wert, nicht ganz ernst zu nehmen. Und so landet, wer nach dem gemeinsamen Nenner des Ostsee-Raumes sucht, oft doch wieder bei der Geschichte, bei Hansebund und Backsteingotik. Doch die geschichtlichen Fäden wurden nach 1945 durchtrennt, Flucht und Vertreibung führten zu einem fast vollständigen Bevölkerungsaustausch praktisch die gesamte Südküste des Meeres entlang bis hinauf ins ehemalige Memelland - Dietmar Albrecht von der Academia Baltica:

    Ich wage mal eine vielleicht unwissenschaftliche These, dass das Gedächtnis in diesen Regionen schlummert unabhängig von den Menschen, die es seit der großen Völkerwanderung von `45 und danach bewohnen. Und diese Bewohner, die Polen, aber auch die Russen im Kaliningrader Gebiet, auch für Teile der drei baltischen Staaten, sie werden sich dieses Gedächtnisses bewusst werden und dann werden sie auch die Folgerungen aus diesem Gedächtnis treffen und die Ostsee-Zusammenarbeit beflügeln. Ich bin sicher, dass das kommt, aber es kommt nicht so schnell. Das fängt im eigenen Lande an, dass sich die in Norddeutschland Lebenden, auch dort hat sich die Bevölkerung ja verändert, sich dieser Orientierung bewusst werden. Die Dynamik wird nicht von Deutschland ausgehen, sondern von Dänen und Schweden, von der Dynamik im Kopenhagener-Malmöer Raum und von den Finnen.

    Schon werden hier und da historische Begriffe reaktiviert, umgedeutet und positiv besetzt. Etwa im Baltikum: Ein Mineralwasser aus dem lettischen "Cesis" firmiert als "Wenden"-Wasser, es ist der alte deutsche Name der Stadt, berichtet Dzintra Lele-Rozentale, Germanistin an der Universität in der lettischen Hafenstadt Ventspils. Per Internet suchte sie - und fand in Lettland 111 Institutionen, Wirtschaftsunternehmen zumeist, die das Wort ‚Hanse’ im Namen trugen.

    Das ist die gemeinsame Lexik der Sprachen an der Ostsee und der Nordsee, die aus der Hansezeit stammt. Auf sie wird zurückgegriffen, wenn wir heute neue Begriffe und Vorstellungen bezeichnen wollen. Ich möchte das Beispiel ‚Hanse’ erwähnen, das in Lettland vielfach verwendet wird. Damit sind positive Konnotationen verbunden, Hoffnungen, in vielen Aspekten, in vielen Branchen, im Bankwesen, bei Versicherungen, Schifffahrt, Industrie, Lebensmittelindustrie – und im Bildungswesen.

    Der Ostsee-Raum ist eine Testregion für die großen Fragen Europas: Gelingt es, aus neun verschiedenen Ostsee-Sprachen eine gemeinsame Stimme zu bilden? Politisch wird der Raum selbst wohl Randregion bleiben, die Wellen bleiben flach. Aber wenn es hier nicht klappt mit Integration und Interessenausgleich, dann wohl auch nicht im größeren, gesamteuropäischen Rahmen.

    Selbst in ihren Zukunftsvorstellungen unterscheiden sich die Ostsee-Bewohner: In Deutschland trifft man häufig auf Skepsis, die Überzeugung, dass sich die EU der 25 mit ihren Integrationsabsichten überhebt. Weiter nördlich sieht man es pragmatischer, wie Martti Ahtisaari, ehemaliger finnischer Präsident:

    Meiner Meinung nach hat Finnland mit der EU positive Erfahrungen gemacht. Ich saß selber mit am Verhandlungstisch der EU zwischen 1994 und 2000. Meine Erfahrung ist, wenn man gute Lösungsvorschläge hat, werden die auch angenommen. Es ist eine ziemliche Herausforderung, Lösungen zu finden, die auch von anderen gebilligt werden.

    Im Idealfall lassen sich die Stärken der Ostsee-Völker irgendwann doch zu einem Ganzen vereinen: Der Pragmatismus und das Vertrauen in den Menschen, wie ihn die Skandinavier pflegen, deutsche Genauigkeit und polnischer Improvisationsgeist, die Reformbereitschaft und der Zusammenhalt der Balten, Geduld und Herzblut der Russen. Kari Nooroviita, der Hafenchef von Helsinki, hat seine Vorstellung von der Zukunft des Ostsee-Raumes nicht auf wissenschaftliche Grundlage gestellt. Er urteilt aus dem Bauch heraus, wenn er sagt:

    Das Hafengeschäft war immer ziemlich global ausgerichtet. Insofern ist das für uns alles nicht so neu. Aber im Allgemeinen, glaube ich, ist es eine große Chance für uns hier im Norden. Manche haben Angst, Jobs würden in Billiglohnländer abwandern. Aber die Unternehmen bekommen auch neue Spielräume. Der Handel intensiviert sich.

    Sachlich und kühl, das ist eine häufig zu findende Grundhaltung vieler Ostsee-Menschen, ob sie am Nord-Ostsee-Kanal oder am finnischen Meerbusen leben. Mehr Herzblut bringt ausgerechnet ein Schweizer ein: Bruno Kasper tauschte die Schweizer Berge gegen die Hügel von Vilnius, arbeitet in der litauischen Hauptstadt als eidgenössischer Generalkonsul.

    Die Integration in Europa ist ein Prozess, der die Länder so nahe aneinander gefügt hat, wie es über Jahrhunderte undenkbar war. Und das wird sich auch an der Ostsee abspielen. ... Das wird wirtschaftlich weitergehen, gesellschaftlich, nicht in Riesenschritten, aber es wird kommen.