Cartier-Bresson wurde vor 90 Jahren als Sproß einer Textilfabrikantendynastie geboren. Nicht gerade begeistert vom Wunsch des Sohnes, Maler zu werden, schickte seine Familie den Zwanzigjährigen nach Cambridge in der Hoffnung, in ihm doch noch das Bewußtsein für seine gesellschaftliche Stellung zu wecken. Dieser jedoch verkehrte bereits seit seinem 16. Lebensjahr im Pariser Surrealistenkreis und ging nun, zurück in Paris, in die Lehre beim Maler André Lhote. 1930 reiste Cartier-Bresson - wie viele zeitgenössische Künstler - nach Afrika, wo er zu fotografieren begann. Bald nach der Rückkehr kaufte er seine erste Leica, die ihn in der Folge nach Italien, Spanien, Mexiko und New York begleitete. Erst 1936 kehrte er nach Frankreich zurück und wurde Regieassistent von Jean Renoir. Die Entscheidung für die Fotografie fiel erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als er, zusammen mit Robert Capa, "Chim" Seymour und George Rodger, die Fotoagentur Magnum gründete. In der Folge hielt er sich vor allem in Asien auf, seiner spirituellen Heimat, Heimat auch seiner ersten Frau, einer javanischen Tänzerin und Dichterin. Mit ihr beteiligte er sich am indonesischen Unabhängigkeitskampf, fotografierte den Machtwechsel dort und in China 1949. 1968 sollte er sich an der Studentenrevolte in Paris beteiligen, den Fotoapparat immer dabei.
Cartier-Bresson nähert sich seinem Gegenstand mit Sympathie, trotz genauer Komposition wirken seine Fotografien spontan. So zeigt ein Bild in "Tête à tête" Pablo Picasso, offenbar im Begriff, sich anzuziehen. Die Hand noch am Hosenbund, mit entblößtem Oberkörper, blickt der Maler direkt in die Kamera, die Andeutung eines Lächelns im Gesicht. Das ungemachte Bett links von ihm und der Papierturm auf der Kommode im Hintergrund verstärken den Eindruck der Überraschung. Es ist eines der ungekünstelsten Fotos des Malers überhaupt. Was Cartier-Bresson im Bezug auf die Portraitkunst eines Freundes sagt, gilt auch für ihn selbst: "Wenn man jemanden zum ersten Mal sieht, hat man immer einen Eindruck, der meistens stimmt. Später, im Laufe der Bekanntschaft, korrigiert man diesen Eindruck. So ist das auch bei seinen Portraits, beides ist da. Das intuitive Erkennen der Person und das Unmittelbare des Zeichenstifts."
Viele der von ihm Porträtierten scheinen den Apparat gar nicht wahrzunehmen, blicken am Fotografen vorbei, wie etwa William Faulkner, den er im Profil festhält, in einer konzentriert-abwartenden Haltung, seine Hunde neben sich. Indem sie sich auf etwas Unbekanntes außerhalb des Bildrandes richten, beziehen diese Bilder den Umraum mit ein, während zugleich der Ausschnitt ganz bewußt gewählt wurde. In Bezug auf seine Fotografie entwickelte Cartier-Bresson die Philosophie des entscheidenden Moments. Sie beinhaltet das sofortige Erkennen einer Situation in all ihren Facetten: Bewegung, Ausdruck, Licht, Komposition. Eine spätere Korrektur erlaubt sein Anspruch an die Fotografie nicht. Seine Bilder sind konsequent schwarz-weiß und gewissermaßen kunstlos: Cartier-Bresson ist das Gegenteil eines Technik-Fetischisten, benutzt weder Filter noch Blitz und meistens nur ein Objektiv. Wenn er erst lange mit Apparatur herumfuchteln müßte, könnte er den richtigen Augenblick verpassen. Es gehört zu Cartier-Bressons Begabungen, sich als Fotograf unsichtbar zu machen. Dementsprechend gibt es nur ein fotografisches Selbstporträt. Es zeigt den Blick entlang seines auf einem Mäuerchen ausgestreckten Körpers bis zu seinem nackten rechten Fuß, rechts ein Olivenhain, links ein italienisches Dörfchen. Der Fotograf als Wanderer, der in der Welt zu Hause ist: das ist das Bild, das er von sich gibt. Zum Globetrotter eignet er sich aber, laut eigener Aussage, nicht. Nach seinen Reisen gefragt korrigiert er sofort: Er sei nicht gereist, sondern habe an verschiedenen Orten gelebt. Mit Exotismus-Fotografie haben seine Bilder denn auch nichts zu tun: Sie sind zumeist die Frucht einer langen Bekanntschaft. Mit der für ihn charakteristischen Bescheidenheit stellt er in Frage, ob er überhaupt als Fotograf gelten könne: als Fotojournalist, vielleicht. Den Zusammenhang zwischen Fotografie und Kunst sieht er nicht. Fotografie ist für ihn eine Lebensart, der Fotoapparat ein Skizzenblock. In seiner Wohnung ist keine einzige Fotografie zu sehen, Zeichnungen von Freunden schmücken die Wände. Henri Cartier-Bresson selbst kehrte vor rund zwanzig Jahren zur Zeichenkunst zurück.
"Ich habe aufgehört zu fotografieren - das heißt, was die Fotoreportage betrifft, ich mache noch Portraits von Freunden - auf den Rat von Tériade, meinem Verleger. Er sagte: Du hast gesagt, was du zu sagen hattest, höre jetzt auf, hinterfrage dich - man sollte sich immer wieder hinterfragen - und zeichne! - Ich war ursprünglich Maler. Und Georg Eisler, Raymond Mason, Sam Szafran haben mich dabei sehr unterstützt, während die Fotografen sagten, das sei Verrat - aber was soll's, soll doch jeder machen, was er will."
In den Zeichnungen zeigt sich ein anderer Cartier-Bresson: Komposition scheint hier fast nebensächlich, mit vielen nervösen Strichen hält er seinen Gegenstand fest, ob es sich um ein Porträt, einen Akt oder um eine Landschaft handelt. Eines seiner ersten Motive waren die Tuilerien. Stolz zeigt Cartier-Bresson der Besucherin den Blick aus seinem Fenster auf die ehemals königlichen Gärten, eine Ansicht, die schon Manet festhielt, von der Wohnung eines Kunstsammlers ein Stockwert höher. Der Band "Tête à tête" enthält mehrere Portraitzeichnungen, eindringliche Köpfe ohne jeglichen Hintergrund. In seiner Einleitung zu diesem Buch verweist der Kunsthistoriker Ernst Gombrich auf das Problem der Ähnlichkeit beim Porträt. Gerade die Fotografie vermag nur einen von vielen möglichen Gesichtsausdrücken festzuhalten. Die subjektive Wahl des Fotografen entscheidet über unseren Eindruck jener Person, jenes historischen Moments. Henri Cartier-Bressons Bilder haben unsere Erinnerung an viele der wichtigen Ereignisse und Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts geprägt. Vor allem aber zeigen sie den Menschen in allen möglichen Lebenslagen und Stimmungen, vom verhungernden indischen Kind auf dem Arm der Mutter bis zum Bild jenes französischen Jungen, der mit einem glücklichen Lächeln daherstolziert kommt, eine große Flasche Wein in jedem Arm. Immer ist Cartier-Bressons Vitalität und Lebenslust spürbar, ob in den Fotografien oder Zeichnungen. Möge sie ihn noch lange zu neuen Taten antreiben.
Cartier-Bresson nähert sich seinem Gegenstand mit Sympathie, trotz genauer Komposition wirken seine Fotografien spontan. So zeigt ein Bild in "Tête à tête" Pablo Picasso, offenbar im Begriff, sich anzuziehen. Die Hand noch am Hosenbund, mit entblößtem Oberkörper, blickt der Maler direkt in die Kamera, die Andeutung eines Lächelns im Gesicht. Das ungemachte Bett links von ihm und der Papierturm auf der Kommode im Hintergrund verstärken den Eindruck der Überraschung. Es ist eines der ungekünstelsten Fotos des Malers überhaupt. Was Cartier-Bresson im Bezug auf die Portraitkunst eines Freundes sagt, gilt auch für ihn selbst: "Wenn man jemanden zum ersten Mal sieht, hat man immer einen Eindruck, der meistens stimmt. Später, im Laufe der Bekanntschaft, korrigiert man diesen Eindruck. So ist das auch bei seinen Portraits, beides ist da. Das intuitive Erkennen der Person und das Unmittelbare des Zeichenstifts."
Viele der von ihm Porträtierten scheinen den Apparat gar nicht wahrzunehmen, blicken am Fotografen vorbei, wie etwa William Faulkner, den er im Profil festhält, in einer konzentriert-abwartenden Haltung, seine Hunde neben sich. Indem sie sich auf etwas Unbekanntes außerhalb des Bildrandes richten, beziehen diese Bilder den Umraum mit ein, während zugleich der Ausschnitt ganz bewußt gewählt wurde. In Bezug auf seine Fotografie entwickelte Cartier-Bresson die Philosophie des entscheidenden Moments. Sie beinhaltet das sofortige Erkennen einer Situation in all ihren Facetten: Bewegung, Ausdruck, Licht, Komposition. Eine spätere Korrektur erlaubt sein Anspruch an die Fotografie nicht. Seine Bilder sind konsequent schwarz-weiß und gewissermaßen kunstlos: Cartier-Bresson ist das Gegenteil eines Technik-Fetischisten, benutzt weder Filter noch Blitz und meistens nur ein Objektiv. Wenn er erst lange mit Apparatur herumfuchteln müßte, könnte er den richtigen Augenblick verpassen. Es gehört zu Cartier-Bressons Begabungen, sich als Fotograf unsichtbar zu machen. Dementsprechend gibt es nur ein fotografisches Selbstporträt. Es zeigt den Blick entlang seines auf einem Mäuerchen ausgestreckten Körpers bis zu seinem nackten rechten Fuß, rechts ein Olivenhain, links ein italienisches Dörfchen. Der Fotograf als Wanderer, der in der Welt zu Hause ist: das ist das Bild, das er von sich gibt. Zum Globetrotter eignet er sich aber, laut eigener Aussage, nicht. Nach seinen Reisen gefragt korrigiert er sofort: Er sei nicht gereist, sondern habe an verschiedenen Orten gelebt. Mit Exotismus-Fotografie haben seine Bilder denn auch nichts zu tun: Sie sind zumeist die Frucht einer langen Bekanntschaft. Mit der für ihn charakteristischen Bescheidenheit stellt er in Frage, ob er überhaupt als Fotograf gelten könne: als Fotojournalist, vielleicht. Den Zusammenhang zwischen Fotografie und Kunst sieht er nicht. Fotografie ist für ihn eine Lebensart, der Fotoapparat ein Skizzenblock. In seiner Wohnung ist keine einzige Fotografie zu sehen, Zeichnungen von Freunden schmücken die Wände. Henri Cartier-Bresson selbst kehrte vor rund zwanzig Jahren zur Zeichenkunst zurück.
"Ich habe aufgehört zu fotografieren - das heißt, was die Fotoreportage betrifft, ich mache noch Portraits von Freunden - auf den Rat von Tériade, meinem Verleger. Er sagte: Du hast gesagt, was du zu sagen hattest, höre jetzt auf, hinterfrage dich - man sollte sich immer wieder hinterfragen - und zeichne! - Ich war ursprünglich Maler. Und Georg Eisler, Raymond Mason, Sam Szafran haben mich dabei sehr unterstützt, während die Fotografen sagten, das sei Verrat - aber was soll's, soll doch jeder machen, was er will."
In den Zeichnungen zeigt sich ein anderer Cartier-Bresson: Komposition scheint hier fast nebensächlich, mit vielen nervösen Strichen hält er seinen Gegenstand fest, ob es sich um ein Porträt, einen Akt oder um eine Landschaft handelt. Eines seiner ersten Motive waren die Tuilerien. Stolz zeigt Cartier-Bresson der Besucherin den Blick aus seinem Fenster auf die ehemals königlichen Gärten, eine Ansicht, die schon Manet festhielt, von der Wohnung eines Kunstsammlers ein Stockwert höher. Der Band "Tête à tête" enthält mehrere Portraitzeichnungen, eindringliche Köpfe ohne jeglichen Hintergrund. In seiner Einleitung zu diesem Buch verweist der Kunsthistoriker Ernst Gombrich auf das Problem der Ähnlichkeit beim Porträt. Gerade die Fotografie vermag nur einen von vielen möglichen Gesichtsausdrücken festzuhalten. Die subjektive Wahl des Fotografen entscheidet über unseren Eindruck jener Person, jenes historischen Moments. Henri Cartier-Bressons Bilder haben unsere Erinnerung an viele der wichtigen Ereignisse und Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts geprägt. Vor allem aber zeigen sie den Menschen in allen möglichen Lebenslagen und Stimmungen, vom verhungernden indischen Kind auf dem Arm der Mutter bis zum Bild jenes französischen Jungen, der mit einem glücklichen Lächeln daherstolziert kommt, eine große Flasche Wein in jedem Arm. Immer ist Cartier-Bressons Vitalität und Lebenslust spürbar, ob in den Fotografien oder Zeichnungen. Möge sie ihn noch lange zu neuen Taten antreiben.