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Teuer erkaufte Freiheit

Nach zehn Jahren tritt Irina Liebmann wieder mit einem Roman an die Öffentlichkeit. Ihr letzter kam 1994 heraus, hieß "In Berlin", ein Stimmungsbericht einer Grenzgängerin im neu vereinten Berlin. Berühmt wurde die Autorin mit ihren literarischen Reportagen, vor allem dem "Berliner Mietshaus", das zuerst 1982 erschienen war. 1997 beeindruckte sie mit einer romantischen Reisereportage "Letzten Sommer in Deutschland". Nun also ihr neuer Roman "Die freien Frauen", von manchen als ihr bester gefeiert - aber von allen ganz unterschiedlich gelesen.

Von Eva Pfister | 04.01.2005
    Elisabeth Schlosser fühlt sich fehl am Platz. Genauer gesagt: sie hat das Gefühl, sie sei die Falsche. Die falsche Frau im eigenen Leben. Jetzt hat auch noch ihr Sohn zu ihr gesagt, sie sei nicht seine Mutter, und dabei kann sie sich doch genau an die Geburt erinnern. Aber die ist gute 20 Jahre her, und nun sitzt der Sohn in der Küche, verweigert das Essen, das Reden, das Arbeiten sowieso.

    Elisabeth Schlosser ist die Hauptfigur in Irina Liebmanns Roman "Die freien Frauen". Der Titel ist bitter ironisch. Denn wenn auch die Freundinnen beim Sekt, mit dem sie die vorgezogene Rente feiern, auf ihr freies Leben anstoßen, sich nie mehr mit Männern herumplagen und auch die Verantwortung für ihre Sprösslinge abgeben wollen, so wird doch deutlich, dass sie ihre Freiheit teuer erkauft haben. Nicht nur um den Preis der Einsamkeit, wie die Autorin auf Nachfrage bestätigt:
    Ich meine, dass die erbitterte Suche nach einem eigenen, besonderen persönlichen Leben bei vielen Frauen sicherlich auf Kosten der Kinder ging. Das wird in dem Buch so nicht durchgeführt. Ich möchte aber einen zweiten, und wenn es mir gelingt, auch einen dritten Teil schreiben zu diesem Thema: Die freien Frauen. Ich meine, dass diese Emanzipierung, wie wir sie erlebt haben, meine Generation, sehr viele Fragen aufwirft, und auch unsern Kindern viele Dinge mitgegeben hat, die die dann wieder abarbeiten müssen, die wir sicherlich nur anreißen konnten und die nicht alle positiv sind. Es bleibt schon was auf der Strecke, und man braucht sehr viel Mut dazu, der Sache ins Gesicht zu sehen, glaube ich.

    Sie sei immer weggegangen, wirft der erbitterte Sohn der Mutter vor und fragt sie sarkastisch, ob sie sich denn nun genug verwirklicht habe. Ob sein Vorwurf trifft, bleibt im Roman offen, auch die Rolle von Ehemann und Sohnesvater wird nur am Rande erwähnt und scheint entsprechend marginal gewesen zu sein. Das Buch, so erzählt Irina Liebmann, nahm eine andere Wendung als vorgesehen. Die Vergangenheit drängte sich ins Zentrum. So wie Elisabeth Schlosser in ihrem Umfeld in Berlin Mitte immer deutlicher die verborgene Vergangenheit wahrnimmt, so sucht sie den Grund für ihr Gefühl, die Falsche zu sein, zunehmend in der familiären Vorgeschichte. Auf den ersten Blick mutet ihr intuitives Tappen im Dunkeln der Historie fantastisch, wenn nicht gar esoterisch an. Aber bei genauer Lektüre zeigt sich, dass die Frau keineswegs zu einer Fantasy-Tour, sondern ganz konkret zu einer Forschungsreise auf den Spuren ihrer Herkunft aufbricht.

    Es ist eine sehr unlogische, ganz realistische Spurensuche. Dieses Unlogische immer, erstens mal, sie weiß nicht weiter, da macht sie eine Hypnose, wie soll ihr das nun helfen? Und dass sie dann das, was sie in der Hypnose sieht, so ernst nimmt, dass sie dann wieder dort hinfährt, das ist das Unlogische, das Fantastische. Die Orte, die sie dann trifft, sind real.

    Elisabeth Schlosser fährt nach Polen, nach Katowice und Gliwice. Denn in Gleiwitz lebte die Familie ihres Vaters, und dort entdeckt sie auch seine Geschichte. Er war Jude und kämpfte als Kommunist gegen die Nazidiktatur. In jener Zeit hatte er eine große Liebe, die er aufgab, als er nach Russland emigrierte. Die Tochter beginnt zu ahnen, dass seine Ehe eine Ersatzehe und sie eine Ersatztochter für ein ungeborenes Kind gewesen sein könnte. Der Vater lebt noch, er liegt im Krankenhaus, aber er schweigt. So wie er immer geschwiegen hat, denn, wie Liebmann schreibt: Über diese Jahre sprach er niemals, tat nur so, als ob er in die kochende Schüssel der Weltgeschichte geblickt hatte und zum Schweigen verurteilt worden war.

    Das ist für mich immer mehr zu dem zentralen Thema des Buches geworden! Ich glaube, das erlebt jeder in seiner Umgebung, gerade in unserer Generation. Wir sind ja damit aufgewachsen, ohne zu wissen, dass es sich um ein Schweigen handelt. Wir dachten, die Welt besteht eben aus A, B, C, D, E und wussten nicht, dass da vielleicht A’, B’ und A’’, B’’ und sonst was alles hätte vorkommen können. Das muss man dann mit der Zeit entdecken, und dann die speziellen Leerstellen, die einen selbst betreffen.

    Die Suche nach diesen Leerstellen bestimmt den neuen Roman von Irina Liebmann. Ihre Generation ist geprägt vom Schweigen über die Vergangenheit und von der Arbeit gegen dieses Schweigen. Kaum jemand hat jedoch die Anstrengung dieser Aufklärung mit so großer Leichtigkeit beschrieben. Denn Liebmanns poetisches Verfahren hat selbst mit dem Durchdringen der Wirklichkeit zu tun. "Man kann nur von der Wirklichkeit lernen", ist ihre feste Überzeugung, aber wenn man die Wirklichkeit genau und lange genug betrachte, gebe sie ihre Geheimnisse preis, auch ihre irrealen Seiten. Darin wurde die Autorin von der Lektüre des Romans "Unsterbliche Geschichte" von Jiri Kratochvil bestärkt, in dem das Phantastische bei näherem Hinsehen auch im poetischen Blick auf die Wirklichkeit besteht. Also lässt Liebmann Elisabeth Schlosser ihre wundersame Reise in die Vergangenheit in Briefen an Sonja Trotzkij-Sammler berichten, der Hauptfigur von Kratochvils Roman, und dankt dem tschechischen Autor ausdrücklich für die Inspiration:

    Ich habe das ganz ernst gemeint, mit dem, dass ich mich darauf beziehe und dass es mir wirklich geholfen hat, weil: Dieses Buch von Jiri Kratochvil beschreibt 100 Jahre Lebenszeit seiner Familie in Böhmen mit extrem poetischen und subjektiven Ausdrucksformen. Und da habe ich gedacht: Ja, du kannst auch der Poesie dessen vertrauen, was du zu erzählen hast. Plötzlich wird das auch eine Welt für sich, mit Familie und mit dieser Stadt und mit dem Schnee, und dass man das einfach ernst nimmt, das Poetische, was wir auch haben.

    "Die freien Frauen" ist ein Roman mit vielen Gesichtern. Teils Brief-, teils Reiseroman, kommt er oft wie eine typische Identitätssuche daher, die aber auch deutlich ironisiert wird. Zudem ist er ein Berlinroman über 15 Jahre deutsche Einheit, und eine Spurensuche in der verschwiegenen Vergangenheit. Das Buch ist aber auch die Exposition von jenem Königsdrama, das Elisabeth Schlosser ihr Leben lang schreiben wollte, und immer daran scheiterte, bis sie durch die Verzweiflung über den Zustand ihres Sohnes merkt, dass die tragische Fallhöhe auch im eigenen Alltag vorkommen kann. Wie Irina Liebmann dieses Drama in einem folgenden Roman ausführen wird, erwarten wir mit Neugierde.