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Teuer und nutzlos

Die Sozialwissenschaftlerin Miriam Damrow stellt aktuellen Präventionsprogrammen gegen sexuellen Kindesmissbrauch schlechte Noten aus: Sie seien weder auf Zielgruppen zugeschnitten, noch würden sie berücksichtigen, dass viele sexuelle Übergriffe innerhalb des Verwandtenkreises geschehen. Daher seien sie weitgehend nutzlos und teuer.

Von Mirko Smiljanic |
    Kriminalisten kennen das Phänomen: Räuber, die einen Menschen auf offener Straße überfallen, suchen sich gezielt "schwache" Personen aus; also jemand, der nach vorne gebeugt geht, der unsicher wirkt, der wahrscheinlich nicht überzeugend "nein" sagt, kurz: bei dem der Täter nur ein geringes Risiko eingeht.

    Im Umkehrschluss heißt das: Wer nach außen stark und sicher auftritt, wird wahrscheinlich nicht überfallen. Eine vergleichbare Logik verfolgen die aktuellen Präventionsprogramme gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern. Wenn Jungen und Mädchen stark sind und diese Stärke nach außen demonstrieren, können sie Übergriffe erfolgreich abwehren. Dafür müssen Kinder natürlich wissen, wann ein sexueller Missbrauch überhaupt einsetzt. Klassische Präventionsprogramme lösen dieses Problem, indem sie Jungen und Mädchen vermitteln, welche Berührungen es gibt.

    "In der Regel werden diese Berührungen unterschieden in gute Berührungen, in schlechte Berührungen und in verwirrende oder komische Berührungen. Dabei wird immer davon ausgegangen, dass die guten Berührungen sich auch angenehm anfühlen - und deswegen von den Kindern akzeptiert werden können und auch akzeptiert werden sollen; also über den Kopf streichen oder gelobt werden. Bei den schlechten Berührungen wird angenommen, dass die Kinder das erkennen können, weil die sich eben schlecht anfühlen. Geschlagen werden, getreten werden - das wird dann unter schlechte Berührungen gefasst. Und alle anderen werden automatisch als sexuelle Berührungen empfunden und sollen auch von den Kindern so gesehen werden und dagegen sollen die sich wehren","

    ... sagt Dr. Miriam Damrow, die als Sozialwissenschaftlerin an der Fachhochschule Bielefeld arbeitet. Natürlich macht es wenig Sinn, Kindern pures Wissen zu vermitteln, was erlaubte Berührungen sind und was unerlaubte. Das lernen sie spielerisch.

    ""Es funktioniert in der Regel über Trainingsprogramme. Sehr oft wird es über Rollenspiele gemacht, über Theaterspiele, über das Einbinden von Kindern. Das heißt, da wird ein Rollenspiel vorgeführt. Da sind die Protagonisten in der Regel Erwachsene und spielen die Rollen von Kindern. Und dann wird einmal ein gutes Ende vorgeführt und ein schlechtes Ende, und dann wird den Kindern gezeigt, so, was können sie dagegen tun, welche Möglichkeiten haben sie selbst, was würden sie da empfehlen, wie könnte man da etwas gegen tun, und dann können die Kinder das Rollenspiel nachspielen."

    Miriam Damrow hat mit diesem Konzept gleich mehrere Probleme: Zunächst einmal weiß niemand genau, ob Kinder die in Rollenspielen erworbenen Fähigkeiten im Ernstfall auch anwenden können. Aber selbst wenn sie es könnten, würde die Methode letztlich nur bei Fremden funktionieren, die das Kind mit Gewalt gefügig machen wollen. Das passiert glücklicherweise aber sehr selten. Die weitaus meisten Delikte geschehen im familiären Umfeld.

    "Es liegen Zahlen vor, die zeigen - gerade auch in den polizeilichen Kriminalstatistiken -, dass die sexuellen Übergriffe mit Gewalt eher zurückgehen, dass die Anteile ohne Gewalt, wo es im sozialen Nahraum stattfindet, wo man sagen kann, das ist eine Verführung in den Missbrauch hinein. Es ist keine Vergewaltigung. Der Anteil ist relativ stabil und viel zu hoch."

    Wenn Eltern oder gute Freunde der Familie Kinder missbrauchen, merken die Opfer häufig erst ganz zum Schluss, dass etwas Unangenehmes und Schlimmes mit ihnen geschieht.

    "Es ist so etwas wie ein Werbungsprozess. Es wird aktiv vom Täter, der Täterin um das Kind geworben. Es fühlt sich nett an. Es muss sich nett anfühlen. Kinder sind soziale Wesen, die sind darauf trainiert, dass es sich nett anfühlt."

    Das Präventionsziel "stark" zu sein, läuft hier - so die Sozialwissenschaftlerin Miriam Damrow - ins Leere. Wenn Vater oder Mutter ihr Kind streicheln, ist das zunächst einmal immer gut. Die Kinder können sich gar nicht wehren, ...

    "... weil erstens ein Machtungleichgewicht da ist - und weil zweitens sich Täter und Täterinnen nicht unbedingt davon beeindrucken lassen, dass Kinder sagen: Nein, du darfst das nicht, nein ich will das nicht."

    Familienangehörigen machen Kinder mit subtilen Methoden gefügig: Der entscheidende Faktor ist dabei ihre emotionale Abhängigkeit. Und genau die wird in den Präventionsprogrammen nicht ausreichend berücksichtigt.

    "Es wird nicht dabei berücksichtigt, dass das Schweigen erkauft wird durch aktive Erpressung, durch Bestechung, durch alle möglichen Manipulationen. Und seien wir ehrlich: Wenn einem Kind gesagt wird, wenn du irgendetwas erzählst, dann schmeiße ich dein Haustier auf die Straße, und es zusehen darf, wie der Hund auf die Straße geschmissen wird aus dem 4vierten Stock - das wird nicht mehr Nein sagen."

    Klassische Präventionsprogramme gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern sind teuer und nutzlos - auf diese Formel lässt sich Miriam Damrows Kritik zuspitzen. Spätestens jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie es denn besser laufen könnte.

    "Durch Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Die meisten Präventionsprogramme behandeln den Bereich Sexualwissen, Sexualaufklärung stiefmütterlich. Da wird nicht erklärt: Was sind Genitalien, wie sehen die aus, wie funktionieren die, wie heißen die, welche sonstigen erogenen Zonen haben wir und welche sind einfach ein No-Go für Berührungen?"

    Außerdem bemängelt Damrow, dass die Präventionsprogramme nicht differenziert genug auf Zielgruppen zugeschnitten sind.

    "Sie werden weder nach Jungen und Mädchen differenziert, noch nach irgendwelchen Besonderheiten. Ich persönlich wäre sehr dafür, dass man spezielle Programme entwickeln würde, einerseits speziell für die Bedürfnisse von Migrantenkindern, weil: Da kann das aus den interkulturellen Kontexten ganz anders sein. Die haben in der Regel andere Erfahrungen, andere Hintergründe, die dabei unberücksichtigt bleiben."

    Natürlich verschwindet durch mehr Aufklärung nicht die emotionale Abhängigkeit des Kindes zur Familie - und damit die Verführbarkeit zum Missbrauch. Das kann und darf auch nicht Ziel von Präventionsprogrammen sein. Allerdings weiß der Junge oder das Mädchen besser, was mit ihm geschieht - und kann es jetzt detaillierter dem Lehrer oder der Erzieherin erzählen. Damit kann jedes Kind seine eigene Realität besser einschätzen und die Manipulation der Täter oder Täterinnen. Das schon wäre ein großer Fortschritt.