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Texte voller Gedankenzwirn

Wolfgang Schlüter gehört zu der kleinen Schar deutschsprachiger Autoren, die sich nicht von der Kritik einschüchtern lassen und dem Ruf nach leicht lesbarer Erzählkost sich stoisch widersetzen. Er schreibt unbequeme Romane, die oft ein grimmiger Humor auszeichnet.

Von Richard Schroetter |
    Texte voller Gedankenzwirn à la Jean Paul, Walter Benjamin und Arno Schmidt, die sich nicht ohne Weiteres von selbst erschließen und die die liebevolle Arbeit des Entzifferns verlangen. So wird man bei jedem Schlüterroman aufs Neue auf die Probe gestellt.

    Scheinbar harmlos beginnt der Roman "Die englischen Schwestern" mit einem witzigen Dialog in Berlin in der Katzbachstraße "vorm blauen Schleckermarkt". Wir verfolgen dem Small Talk zweier altstudierter Freunde aus dem Boheme-Milieu. Sie reden über dies und das, 'präludieren' über Musik und das Haus in Irland, über Ferrabosco und Tony Blair. Und dann wird ein altes Tagebuch hervorgekramt, das einer der beiden auf dem Sperrmüll gefunden hat und nun dem anderen zum Lesen gibt. Und schon wird ein 'neues Fass' aufgemacht und wir werden in eine andere Epoche katapultiert und mit den Erlebnissen eines einsamen Italienreisenden namens Helmut konfrontiert. Das Kapitel endet mit einer alten Dame, um die Erscheinung der einst berühmten Glasharmonika-Spielerin Marianne Kirchgeßner, für die Mozart ein Adagio und Rondo komponierte. Und so werden von Kapitel zu Kapitel zwischen Wahrheit und Fiktion immer neue Themenfenster geöffnet. Wolfgang Schlüter:

    "Es sind eigentlich mehrere Themen, die miteinander verflochten werden. Aber wenn man es, wenn man es jetzt anders betrachten würde, dann wäre das, was ich jetzt Thema nenne gar nicht Thema, sondern Stoff. Und zum zentralen Stoff gehört zum einen die Geschichte der Musik und die der Glasharmonika, und zum anderen gehört dazu die Geschichte des Vulkanismus, und es gehört auch dazu die Geburt der Romantik aus dem Geist der Aufklärung. Das wären die Stoffbereiche. Und das Thema ist ein eher abstraktes, es sind die Bedingungen der Möglichkeit der Annäherung an Vergangenes, also welche verschiedenen Formen gibt es, sich der Vergangenheit oder dem Historischen zu nähern."

    Um die Annäherung plausibel zu machen, hat Schlüter großes Personal eingesetzt. Historische Figuren wie die Geschwister Davies, Marianne Kirchgessner, den Amerikaner Benjamin Franklin, der die erste serienreife Glasharmonika entwarf. Auch Mozart, Haydn, Lady Hamilton und Admiral Nelson treten auf. Und dann noch einige fiktive Personen, Schlüters Gewährsmänner. Alles in allem viele historisch interessante Leute, denen allerdings nur wenig Platz zur freien Entfaltung gegeben wird:

    "Es ging mir wahrscheinlich auch nie darum, dass sich Personen entfalten sollen, was sich entfalten soll, ist ein Panorama der Zeit, es sollen sich Landschaften entfalten, es sollen Entwicklungen von Instrumenten, Gedanken oder Ideen entfalten. Und die Figuren sind Träger dieser Ideen, nicht viel mehr.
    Ich denke, man müsste dann danach fragen, wie Musik in diesem Buch übersetzt ist. Nicht als Stoff, sondern als konstitutives Element für die Form, die Gestalt. Und da meine ich, dass zum einen die Musik die Architektur des Buches wesentlich bestimmt, zum andern, dass sie die Sprache in ihre kleinen Zellen bestimmt, weil ich großen Wert immer lege auf die Sprache selber, das heißt auf die Periodizität, also auf den Satzbau. Und die Syntax, die für mich musikalisch funktionieren soll, ähnlich wie in der Musik selber Vordersatz und Nachsatz funktionieren. Ich denke Mal, dass die Musik einsickert ins sprachliche Material und dort sich überträgt auf den Leser, der anhand von verstreutem Material fast unbewusst aufsaugt, das was an Musikalität ihm vermittelt werden soll."

    Abgesehen von der immanenten Musik des Romans, gibt es noch ein anderes wichtiges vorantreibendes Gestaltungsprinzip. Das sind die rätselhaften Korrespondenzen, die weniger er- u. aufgeklärt als detailliert beschrieben werden. Programmatisch hat Schlüter die zwölf Romankapitel nach den aufsteigenden Tönen der Oktave eingeteilt und sie gleichzeitig korrespondierend mit einem Farbton bezeichnet. Rot korrespondiere mit der Tonhöhe C. Weiß mit Cis, orange mit D. Usw. usw.

    Ein anderes Gestaltungsprinzip sind die für Schlüter charakteristischen durchgehend abgerissenen 'ruinösen' Lebensläufe, die plötzlich enden. Wir können nur vermuten, weil alles Wesentliche, Aufklärende verschollen ist. Da sind die fiktiven Aufzeichnungen des Göttiner Malers Johann Peter Hofmeister, der auf unerklärliche Weise in den Schwefelsümpfen bei Neapel verschwunden ist. Hofmeisters Tagebuch ist so ein Buch im Buch, ein "objet trouvé", das wieder auf andere "objets trouvés" verweist, auf scheinbar alltägliche, läppische Dinge wie das "hühneraugenpflaster" oder das "reisenachtgeschirr". Doch gerade aus solchen Fundstücken extrahiert Schlüter ganz im Sinne Walter Benjamins das Eigentliche, richtiger den frei flottierenden Assoziationsraum der Poesie.

    "Das sind ja doch nie nur Dinge, die vielen musealen Dinge. Und es ist ja vor allen immer eine große Archaizität und Altertümlichkeit in ihnen, in diesen Dingen, die ich da so nenne, eben die ich nicht nur nenne, sondern auch beschreibe. All diese Dinge haben den Charakter von Sinnbildern, sie haben allegorischen Charakter. Und deswegen nenne ich sie auch. Sie stehen ein für, ach Gott, für das verschollene Menschliche, wenn sie jetzt den auratischen Begriff nehmen wollen, so wie es die Marlene Stössel entwickelt hat. Oder sie stehen ein für Verfallsgeschichte. Für Naturgeschichte als Verfallsgeschichte. Und das ist das Metaphysische daran, eine Symbolizität, die aber dann noch etwas anderes zeigt, nämlich ein Element, ja, entweder von Hoffnung oder Verzweiflung. Da legt jedes Buch einen anderen Akzent. Dieses neue Buch ist eher ein resignatives Buch, das sagt, alles muss wieder zur Erde hinunter, wir kommen zwar alle daraus, aber so wie Glas zerbricht und zerschellt, sind unsere Knochen auch aus Kalk genau wie Glas und alles kommt wieder in den Erdboden zurück. In Anmut und Gnade war das bestimmende Element nicht die Erde, sondern da war's das Feuer, das Feuerwerk, das Aufleuchten, sowohl als Gefahr, als Zerstörung, als Zerstörungselement, aber auch als Symbol von Licht und von Aufklärung und Hoffnung."

    Dieser resignative Roman, das müssen wir an dieser Stelle doch erwähnen, hat einen Vorgänger. Er heißt "Gruß, Greenaway!" und wurde bereits 2004 beendet. Doch zur Veröffentlichung kam es erst jetzt. Er ist nicht nur kürzer als "Die englischen Schwestern", er ist auch deutlich autobiografisch gefärbt.

    "Wenn Sie so wollen, sind alle meine Bücher autobiografisch. Sie verstecken sich zwar, sie geben sich nicht explizit als autobiografisch aus. Das brauchen sie auch nicht, weil wenn man ein bisschen darin herum liest, dann kann jeder Leser erkennen, dass das nicht einfach ein Spiel mit Bildungsgütern ist, wie heute gesagt wird, das sind sehr persönliche autobiografische Bücher."

    "Gruß, Greenaway!" ist eine ironisch getönte Liebes- und Eifersuchtsgeschichte, die natürlich nicht gut ausgeht, in der eine nicht unwesentliche Rolle der offizielle Literaturbetrieb und "eine kaum einen Meter sechzig große Frau mit mausflinken dunkelgrünen Augen in einem kirschrunden Gesicht", die Organisatorin eines kleinen Kulturfestivals, die Hauptrolle spielt.

    "Es ist, wenn sie so wollen, eine konventionelle Liebesgeschichte, eine Dreiecks- und Eifersuchtsgeschichte, die allerdings auch wieder doch nicht so einfach ist, weil eingespannt wird in ein reiches Netz an Kreuz und Querbezügen, ein Verweisen, und an einer Handhabung von Sprache, die eigentlich komplizierter ist als in den 'Englischen Schwestern', weil die Sprache ja auch immer dort auch metasprachlich behandelt oder angesehen wird als Zeichenproblem - bis in die einzelnen Buchstaben hinein. Ist das jetzt ein doppeltes V oder ein W. Welche Veränderung ergibt sich darin für den Sinn eines Wortes, was resultiert aus einem einzigen Wort, welche Katastrophen kommen aus einer winzigen Variante oder Differenz von zwei Bedeutungen. Und dieser Verweis auf die Arbeit des Übersetzens hin macht das Ganze theoretischer und abstrakter. Auf der anderen Seite ist die Geschichte natürlich ziemlich simpel strukturiert. Es kommt alles auf andere Dinge an. Nicht auf die Handlung. Und auch nicht auf den Plot, auf diesem, möglicherweise auf diesen Mord, auch wieder auf den Ausdruck der Sprache, der hier in diesem Buch vielleicht eher komödiantisch im Unterschied zu den 'Englischen Schwestern'. Es ist eine Komödie, eine Farce, allerdings mit ziemlich traurigen Aspekten."

    Schlüter wäre nicht Schlüter, hätte er diese Geschichte ganz ohne kunstgeschichtliche Korrespondenzen und allegorische Bezüge erzählt. Wie in den "Englischen Schwestern" kommt auch hier ein Maler vor. Dessen Tier- und Vogeldarstellungen, an den sich Schlüter abarbeitet, bringen symbolisch zum Ausdruck, was der Roman konkret auserzählt.
    "Melchior de Hondecoeter, dieser flämische Geflügelmaler war einer, den ich schon ziemlich früh kennengelernt habe. Ich sagte das auch im Nachwort des Buches, dass ich den Namen dieses Malers bereits durch meinen Großvater kennenlernte, der selber Hühner besaß in einem Stall. Und diese Gemälde aus irgendeinem Grund kannte, wahrscheinlich, weil sie so putzig und genrehaft lustig ihm erschienen. Er selber musste über diesen Namen lachen oder lächeln. Und deswegen hat sich das mir ganz stark eingeprägt. Kennen gelernt habe ich diese Gemälde erst Jahrzehnte später in mehreren Museen, wo sie mich sehr beeindruckt haben, weil sie überhaupt nicht komisch oder nur irgendwie putzig waren, sondern wirklich erschreckend. Heute noch läuft's mir kalt den Rücken herunter, wenn ich die Bilder sehe. Also daher kommt dieses Vogelmotiv. Und das ist wieder so ein Kristallisationspunkt. Ich wusste, über Hondecoeter will ich was schreiben. Nur was. In welchem Zusammenhang. Und dann kam dieses andere Motiv,diese Geschichte, dann hat sich das, klick, sofort verschränkt, das gibt ein Muster, ein Concetto."

    Wolfgang Schlüter: "Die englischen Schwestern". Eichborn Verlag, 21,95 Euro, und "Gruß, Greenaway!". Matthes & Seitz Berlin, 22,90 Euro