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Texterguss statt Dialog

An der Opera Garnier in Paris hat Intendant Gerard Mortier einen erfolgreichen alten Bekannten inszenieren lassen: Beethovens "Fidelio". Alleinstellungsmerkmal des Pariser "Fidelio" ist sein Text: Das schon zu Beethovens Zeiten mehrfach umgeschriebene Libretto wurde vom deutschen Schriftsteller und Büchner-Preisträger Martin Mosebach grundlegend überarbeitet.

Von Frieder Reininghaus |
    Der Ton aus einer Zeit, die längst vergangen ist, prallt auf die Lineatur einer Moderne, deren Potential an Inhumanität die Segnungen für den Menschheitsfortschritt zumindest aufwiegt. Diese Konfrontation scheint den geistesgegenwärtigen Theatermachern eine schiere Notwendigkeit. Würde ihr ausgewichen, sähen rigide Moralisten eines theatralen Wahrheitsanspruchs ihr Metier untergehen. Schließlich wollen und können sie weder Historiker noch Philologen sein.

    Also kommt Fidelio als besonders rasch lernfähige Aushilfskraft in eine moderne Verwahranstalt. In ihr werden unter anderem politische Gefangene unter Bedingungen gehalten, die nicht ganz den Kriterien eines demokratisch-liberalen Rechtsstaates entsprechen, sich aber vollzugstechnisch gewiss bewährt haben.

    Gouverneur Pizarro, der Baumstammbass Alan Held, erläuterte dies, deutsch radebrechend, in einem längeren Monolog bei seinem ersten Erscheinen: Der Minister (sein Freund zurzeit!) will, dass alles in den Sicherheits-Apparaten reibungslos funktioniert. Selbst genauere Überprüfungen sollen keinerlei Anlass zu öffentlicher Kritik bieten. Eine Ebene tiefer denkt der Oberschließer Rocco, bevor er von der belebenden Wirkung des Geldes singt, in einem Monolog über die "Strafmaschine des Staates" nach. Er bekennt sich zu den Verdrängungsleistungen, die dem Wachpersonal selbstverständlich sein sollten. Am unteren Ende der sozialen Skala sinniert Jaquino laut, ob er sich mit Vater Rocco verständigen muss, um endlich Marzellines Ja-Wort zu erlangen.

    Die Formen des Gewahrsams ändern sich mit der jeweiligen Gesellschaft. Sie spiegeln die Balance zwischen Sicherheitsdenken und Humanitätsansprüchen. So ist auch das Business as usual zu sehen, das Johan Simons vorführt. Jan Versweyveld ließ auf der großen Bühne des Palais Garnier ein properes Gefängnis errichten. Panzerglas und stabiles Metall. Rechts ein auf Zahlencode oder Magnetstreifen reagierendes Hochsicherheits-Tor, links eine Überwachungszentrale mit Monitoren und klassischem Postverteiler fürs Personal. Aus dem funktional-schicken Grau der Vollzugsbeamten sticht nur Marzelline in ihrem grellbuntem Kleid hervor. Nach dem Auftritts-Couplet beginnt sie zu sinnieren: über den 'Männermann' Jaquino, mit dem sie sich verlobte, und den Neuen, der so sanft und zäh, weich- und weißhäutig ist. Irgendwie, sie weiß nicht warum, scheint er die Verheißung schlechthin.



    Johan Simons, der die Hauptpersonen des Stücks genau charakterisiert und führt, hat die Dialoge des Schauspiels, zu dem Beethoven etliche Musiknummern, nach und nach vier Ouvertüren und einen monströsen Schlusschor komponierte, fast vollständig gestrichen. An ihre Stelle sind Textergüsse von Martin Mosebach getreten. Die kranken nun daran - vor allem, wenn sie sich in die Länge ziehen - dass es sich um Monologe handelt. Sie retardieren. Mosebach scheint von Opern-Dramaturgie keinen blassen Schimmer zu haben. Zum grundsätzlichen Zugriff auf die Dramaturgie aber fehlte die Chuzpe oder Fantasie.

    Regisseur Simons erspart den Besuchern der Pariser Oper grellere Zutaten, Übertragungen, Rollen-Tausch oder -Vervielfachung (dergleichen ist im postmodernen Musiktheatervollzug ja üblich geworden). Er bietet eine handwerklich solide Produktion, die am Handlungsschema nicht rüttelt und Konkretisierungen in Richtung Archipel Putin oder Guantanamo vermeidet. Sylvain Cambreling dirigiert sie, gründlich bis ins Detail und lange Zeit dezidiert ruhig - bis er dann den unvermittelt hereinbrechenden Schlusschor hinsichtlich Lautstärke und Tempo zum Exzess treibt. Trotz der gelegentlich (für meinen Geschmack) etwas zu nachdrücklichen Abstützung der Spitzentöne durch Jonas Kaufmann als Florestan und einigen Unreinlichkeiten in der Intonation von Angela Denoke als dessen Gattin und Befreierin präsentiert Paris auch mit dieser neuen Produktion ein Niveau, von dem in anderen europäischen Hauptstädten gegenwärtig noch nicht einmal geträumt werden kann, weil das dort fest etablierte Mittelmaß größere Kunstanstrengungen ebenso blockiert wie musikalisch-technische Spitzenleistungen.
    Der deutsche Schriftsteller Martin Mosebach
    Der deutsche Schriftsteller Martin Mosebach (picture alliance / dpa / Erwin Elsner)