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"The Berlin Sound"

Gerade hat Sir Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern bei den Osterfestspielen in Salzburg brilliert. Sein Orchester hat Weltruf, er selbst gilt als einer der charismatischsten Dirigenten überhaupt. Eindrucksvoll belegt das unter anderem der Film "Rhythm is it", der ein Ergebnis des Education-Programms der Berliner Philharmoniker ist.

Moderation: Margarete Zander |
    Margarete Zander: Sie sind seit drei Jahren Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, die Konzerte sind nahezu ausverkauft, auch wenn Sie nicht nur die bekannten Hits der Klassik spielen. Welches Idee kommt in ihrer Programmgestaltung zum Tragen?

    Sir Simon Rattle: Mich interessiert Vielfalt. Ich koche gern und häufig ist es das Hinzufügen unbekannter Zutaten, selbst wenn es nur sehr wenig ist, das ein Essen außergewöhnlich macht.

    Ich hoffe, dass alle Konzerte irgendwie überraschen. Ich versuche, Programme zusammenzustellen, die nicht voller populärer Hits sind, sondern voller Stücke, die irgendwie aufeinander reagieren.

    Ich suche immer gern nach weniger bekannten Stücken bei den großen Komponisten. Neulich bin ich bei dem großen Dvorak-Geburtstag, als jeder die Sinfonie aus der neuen Welt und das Cellokonzert gespielt hat - was zweifellos großartige Kompositionen sind - bin ich auf die Lieblings-Stücke aus meiner Kindheit zurückgegangen, die Tondichtungen, die er am Ende seines Lebens geschrieben hat. das goldene Spinnrad, die Waldtaube, den Wassermann und die Mittagshexe. Ich musste feststellen, dass das Orchester die Stücke so gut wie nie gespielt hat. Niemand konnte sich erinnern, drei dieser vier Stücke gespielt zu haben. Auch das Publikum wusste nicht ,was es zu erwarten hatte. Und natürlich hat sich jeder sofort total in diese Stücke verliebt. Die außergewöhnlichsten farbigen Werke. Es scheint in tschechischen Märchen eine besondere Vorliebe für Blutbäder zu geben. Meine Partnerin kommt aus Tschechien und sie versichert mir, dass ein Kind ein Stück nicht für ein richtiges Märchen hält, wenn nicht mindestens drei Menschen gestorben sind. Das ist interessant. Die Briten sind so mit dem grimmschen Märchen aufgewachsen. Mit diesen Geschichten, in denen der Tod vorkommt, Selbstmord, man kann sich gar nicht vorstellen, dass da jemand Musik schreibt, die so voller Freude und so farbig ist. Manchmal denke ich , Dvorak hat das nur als Entschuldigung genommen, um eine schöne Hochzeitsmusik und große Liebesthemen und große Jagdmusiken. Er erfindet schon das 20ste jahrhundert. Wenn man sich die Stücke anhört, kann man die Geburt von Janaceks Opern hören.

    Ich suche nicht nach Stücken, die die Leute schon lieben, sondern Stücke, die die Ohren der Menschen erweitern und sie kitzeln. Und dann, wenn Du das gemacht hast, kannst du zur Sinfonie aus der Neuen Welt zurückkommen, mit einem anderen Blick und einer anderen Idee davon, wer dieser große Komponist war.

    Zander: Sie sagen. Die Ohren kitzeln. Sollten die Menschen die grausamen Geschichten hinter den Stücken kennen?

    Rattle: Es ist sehr gut, die Geschichten zu kennen. Es ist nicht unbedingt nötig. In Don Juan von Richard Strauss muss man nicht unbedingt wissen ,was vor sich geht und sagen, ja, das muss der Moment sein, in dem sie sich lieben, oh, und jetzt ergreift er die Flucht, und dasselbe gilt für diese Stücke. Es ist klar, wenn der Trauermarsch gespielt wird oder die Hochzeitsmusik. Wenn es das nicht wäre, hätte er Schwierigkeiten. Ich meine trotzdem, jede Information hilft. Du kannst die Geschichte hören und deine Information hören. Aber das ist nicht so sehr aneinander gebunden, dass man es nicht hören kann, ohne etwas zu wissen.

    Zander: Sie haben schon zu Beginn ihrer Tätigkeit in Birmingham viel tschechische Musik im Programm gehabt - Ihr Opern-Debut in Glyndbourne gaben Sie 1977 mit Janaceks "Schlauem Füchslein", das Debüt an der English National Opera 1985 mit Janaceks Katja Kabanova. Nun veröffentlichen Sie die Tondichtungen aus Dvoraks Spätwerk auf CD. Was fasziniert Sie so an dieser Musik?

    Rattle: Ich habe schon immer gern Geschichten erzählt. Es war Janacek, der mich zum Operndirigenten gemacht hat. Als junger Theaterliebhaber fand ich hier die Musik, die das gleiche Tempo wie das Theater hatte.

    Ich weiß nicht warum, aber ich hatte schon immer eine tiefe Beziehung zu dieser Musik und dieser Kultur, vielleicht aufgrund der Intensität und der Wahrheit der Geschichten, die sie erzählt haben und weil dies eine Kultur zu sein schien, in der niemand verzweifelt ist, weil er keine Freude zum Ausdruck bringen kann.

    In diesen großartigen Noten sprudelt die Musik nur so vor Freude und Liebe, jede Sekunde. Und die Komponisten haben eine große Affinität zur ihrer eigenen Natur.
    Erst in den letzten Jahren habe ich die tschechische Landschaft entdeckt, wie sie wirklich ist, aber ich konnte es immer schon in der Musik riechen. Und das scheint in dieser Musik ganz natürlich von ganz tief unten zu kommen.

    Zander: Hat Ihre persönliche Beziehung zu Mgdalena Kozena diese Einstellung, den Blick, ja die Liebe zu dieser Musik verändert?

    Rattle: Vielleicht hat sie mich ihr noch näher gebracht. Ich wollte schon immer nach Brno fahren. Ich konnte nicht wissen, dass ich das erste Mal dorthin fahren würde mit jemanden, den ich so sehr liebe. Und dass wir durch den Wald gehen würden, den sie den "Petruschka-Wald" nennen, wo das "Schlaue Füchslein" geboren wurde, zum Beispiel und wir gemeinsam Janaceks Haus ansehen würden. Natürlich scheint es jetzt noch tiefer zu gehen, aber das ist, in einem übertragenen Sinne - wie nach Hause kommen.

    Zander: Wir haben das Gespräch mit den innovativen und exzellenten Konzertprogrammen begonnen, die sie für die Berliner Philharmoniker zusammenstellen. Es ist "in" Event-Programme anzubieten. Was denken Sie, könnte in 10 Jahren daraus werden? Werden wir nur noch die großen Stars und große Arenen und große Namen haben?

    Rattle: Ich hoffe nicht. Aber es gibt keinen Zweifel, große Stars sind häufig große Stars, aus einem bestimmten Grund. Wenn man einmal Placido Domingo gehört hat, wird es schwer, jemand anderen mit diesen Stücken zu hören. Aber es besteht speziell in der klassischen Musik die Gefahr, dass sie zur Klang-Häppchen-Kultur wird. Wichtig ist bei der klassischen Musik, dass sie Zeit hat, sich zu entwickeln. Wie sieht die Zukunft der klassischen Musik im Fernsehen aus? Kann es nur noch ein Konzert voller Zugabenstückchen sein? Ich weiß es nicht. Das füllt einen bestimmten Markt, aber ich möchte Fernsehkonzerte, die ganze Konzerte übertragen. Aber vielleicht gehöre ich da zu einer demographischen Minderheit.

    Zander: Und solche Konzerte wie auf der Waldbühne ?

    Rattle: Nun, die Waldbühne ist wunderbar. Dort steht man vor 20.000 Leuten und muss irgendetwas tun, das mit 20.000 Leuten geht. Im letzten Jahr haben wir den zweiten Akt des Nussknackers gespielt. Das ging sehr, sehr gut, weil es trotz der 45 Minuten Länge aus vielen kleinen Stückchen besteht, die zusammen ein Ganzes bilden.

    Aber es gibt immer eine besondere Party-Atmosphäre. Ich liebe es, wenn dann irgendwann die Sonne untergeht und die viele Kerzen angehen. Man spürt die Atmosphäre immer tiefer. Die Leute hören mit großer Konzentration zu. Das kann ein magischer Ort sein - speziell wenn es nicht regnet.

    Zander: Also, Sie machen sich keine Sorgen über die Konzertprogramme der Zukunft?

    Rattle: Ich denke, man muss den Menschen Abwechslung geben. Ich hoffe, dass die die Menschen neugierig bleiben und denke, das ist sehr wichtig. Es gibt viele Wege, wie Konzerte ablaufen können. Ich weiß einfach: jeder Musikliebhaber, der zu Hause Musik hört, da wette ich mit Ihnen, hört nie eine Ouvertüre, dann eine Sinfonie und dann ein Konzert. Ich denke, sie hören auf ganz verschiedene Art. Vielleicht verpassen wir einen Trick in unseren Programmen. Was können wir tun? Ich würde gern ein Konzert hören und zum Schluss spielt Yo Yo Ma eine Cellosuite. Das müssen am Ende nicht immer Posaunen sein.

    Zander: Sie haben den Berliner Philharmonikern die Französische Musik quasi zurückgegeben. Ist das eine Musik, die sie in Richtung eines glatten, sanfteren Klanges erzieht?

    Rattle: Ich glaube glatt oder sanft ist nicht das Wort, mit dem ich es beschreiben würde. Ich denke, wenn sie zu Karajans Zeiten nicht schon geschmeidig gewesen wären, wäre ich der letzte gewesen, der sich geschmeidiger hätte klingen lassen können.

    Aber ich glaube, es macht einen Unterschied - ich würde diesen Satz von Debussy zitieren, wo er sagt, er möchte ein Orchester ohne Füße. Und eines der wunderbaren Dinge an den Berliner Philharmonikern ist, wie fest und tief verwurzelt sie mit beiden Beinen auf dem Boden stehen in diesem dunklen, schweren Klang.

    Ich liebe es, diesen großen schweren Vogel über die Höhen der Erde hüpfen zu sehen. Und dass er irgendwann seine Füße wegnimmt. Das gibt ihnen andere Farben, andere Empfindsamkeiten. Es gibt eine lange Geschichte gegenseitigen Misstrauens zwischen Deutschen und Franzosen. Aber es ist interessant, wenn sie es begriffen haben, dann richtig. Wenn man mit den Proben beginnt, spürt man, das ist nichts Natürliches, aber dann sind die Musiker glücklich, wenn sie intensiv daran arbeiten können und wollen mehr darüber wissen. Zum Beispiel bei einem unbekannten Stück wie "La Boite a joujou", es wurde für Kinder geschrieben, ist aber im Wesentlichen ein unbekanntes, 13 Minuten langes Meisterwerk von Debussy. Das Orchester mochte es so gern, dass es schnell hinter diese Kinderthemen blickte und die Illusionen und das tiefe Gefühl von Trauer erkannte. Man muss versuchen ein Land zu erschaffen, das niemals existiert hat. In eine Zeit zurückzugehen, die es nie gab. Das haben sie gleich begriffen. Und es war sehr bewegend, das zu erleben.

    Interessant war auch, als wir "L’Apres Midi d’un faune" gespielt haben, eines der großen populären Stücke, da haben Sie gesagt, "wissen Sie, das haben wir 12 Jahre lang nicht gespielt. Und wir merken jetzt, was wir vermisst haben."

    Zander: Sie gehen auch in das Barocke Repertoire zurück und laden Leute wie Harnoncourt und Mark Minkowski ein, mit den Musikern zu arbeiten. Was erwarten Sie von ihnen für das Orchester?

    Rattle: Wir alle haben viel Barockmusik gespielt. Alle Musik ist miteinander verbunden. Ich denke, es wäre wirklich traurig, wenn wir unsere Beziehung zur alten Musik verlieren würden. Ich muss sagen, ein Orchester, das nicht Bach spielt, wird auch in Bruckner einiges verpassen. Bruckner hat Bach ebenso beeinflusst wie andersherum.

    Andere Farben, eine andere Flexibilität, eine andere Art, Geschichten zu erzählen, unterschiedliche Artikulationen. Interessant ist, einige dieser Dirigenten sind die erfolgreichsten Dirigenten überhaupt, wie William Christie, Giobvanni Antonini und natürlich Harnoncourt, er ist ein alter Freund. Und das Orchester liebt sie und saugt diese neuen Erfahrungen auf.

    Zander: Lassen Sie mich ein Bild wählen: man sieht sie oft im Publikum, wenn andere Dirigenten auf dem Podium stehen. Ist es nicht, als wenn man einen Porsche hat und sitzt daneben, während eine andere Person fährt?

    Rattle: Ich liebe mein Orchester und höre es sehr gern. Jetzt lebe ich in Berlin und der Gedanke, dass ich nicht jede Gelegenheit wahrnehmen würde, sie zu hören, würde mich verrückt machen. Ich genieße das und manchmal bin ich erstaunt, wie wunderbar und wie unterschiedlich das Orchester klingen kann. Ich lerne viel von ihnen und habe in letzter Zeit so großartige Konzerte mit anderen Dirigenten erlebt. Alles was ich tun kann ist, mich zu freuen, wenn ich ein Konzert höre wie das vor zwei Wochen mit Maris Jansons. Ich freue mich, im Publikum zu sitzen. Manchmal wünschte ich, ich könnte das tun, was andere Dirigenten tun, aber das ist etwas anderes.

    Zander: Also sind sie ein guter Beifahrer -

    Rattle: Ja, das ist interessant. Man kann dort sitzen und zuhören und sagen: das ist interessant. Denn das, was man im Publikum hört ist doch sehr verschieden von dem, was man auf dem Podium hört. Ich sage mir immer: ich muss auf viel mehr verschiedenen Plätzen im Konzertsaal sitzen, damit ich weiß, was die Leute hören, denn das ist es, was zählt und nicht, was ich meine, was man hört.

    Zander: Sie selbst sind seit 1992 erster Gastdirigent des Orchestra of the Age of Enlighenment. Sie arbeiten immer noch mit ihnen und sie kommen, um Mozart mit ihnen zu spielen. Was mögen sie an ihnen?

    Rattle: Wir haben zusammen angefangen. Ich habe ihr zweites Konzert dirigiert, Frans Brüggen das erste.

    Und so blicken wir auf 20 gemeinsame Jahre zurück, vieles sind alte Studienfreunde. Wir sind in verschiedene Richtungen gegangen, sie in die alte Musik und wir sind wieder zusammengekommen. Ein Orchester wie dieses muss man nicht motivieren, sie sind am Leben und an der Farbe jeder einzelnen Note interessiert. Sie kommen aus einer anderen Richtung, aber sie haben das gleiche Ziel. Und das Equipment zu benutzen, das es in der Zeit der Komponisten gab, ist total faszinierend. Man lernt dabei sehr viel über die Komponisten, über das, was diese Instrumente können und was sie nicht können. Was physisch unmöglich ist. Und dann muss man abwägen: wollte der Komponist, was physisch unmöglich war oder wollte er in Wirklichkeit einen anderen Klang als den, den wir heute machen?

    Ich habe vor kurzem Wagners Rheingold auf historischen Instrumenten gehört, es scheint das erste Mal gewesen zu sein, dass man eine der Ring-Opern auf den Instrumenten aus dieser Zeit gespielt hat. Das war wirklich außergewöhnlich, es war ein völlig anderer Klang, sehr schön, sehr reich, aber völlig anders. Die Basstrompeten, die manchmal klingen wie Monster, wie aufgeblasene Drachen, hatten so einen wunderschönen seidenen samtigen Klang, dass ich dachte: "wo habe ich das schon mal gehört?" Und ich sagte, "oh ja, Miles Davis klingt wie eine historische Basstrompete."

    Und plötzlich haben alle Sänger anders gesungen, mit weniger Druck, als seien sie glücklich, dass sie nicht über ein modernes Orchester singen müssten. Aber natürlich können wir alle diese Klänge erzeugen, die wir im Kopf haben.

    Es ist ein wunderbarer Kontrapunkt zu meiner Arbeit mit modernen Instrumenten und viele von Ihnen sind auch sehr gute Musiker auf modernen Instrumenten. Ich bin glücklich, dass ich sie hierher bringen kann.

    Zander: Und sie wollen, dass das Berliner Publikum sie auch in dieser Rolle erlebt?

    Rattle: Es war einfach so, dass sie auf ihrer Tour durch Berlin kommen und ich war froh, dass ich eine Nacht zu Hause sein kann.

    Ich habe keinen Masterplan in dem Sinne, das hat sich einfach so ergeben. Wir haben hier schon einmal die letzten drei Mozart-Sinfonien gespielt, das war auch ein großes Experiment und viele Musiker der Berliner Philharmoniker sind gekommen und haben zugehört.
    Das ist eine gegenseitige Befruchtung, weil alle miteinander diskutieren.
    Das ist gut für uns alle.

    Zander: Manchmal kommt ihr alter Mentor John Carewe zu den Proben - Was erwarten Sie von ihm?

    Rattle: Das ist keine Frage bei John, man kriegt, was man kriegt. Er war immer ein wunderbarer ungezähmter Mann, voller Ideen, voller Enthusiasmus, so emotional, wie ein Brite überhaupt werden kann. Aber sehr nett. Immer noch sehr bewusst. Und es interessiert mich immer, was er sagt.

    Zander: Er hat mir erzählt, dass sie die Musiker von Anfang an, also seit 1980, besonders die aus Birmingham damit verrückt machen konnten, dass sie einen Berliner Philharmoniker- Sound haben wollten. Inzwischen sind Sie selbst verantwortlich für diesen Sound. Was denken sie jetzt?

    Rattle: Manchmal bitte ich sie, mehr von ihrem alten Sound zu geben. Manchmal sage ich.: "schaut, anderen Orchestern würde ich jetzt sagen, sie sollen einen Berliner Sound machen. Was soll ich euch sagen?" Aber es ist interessant. Man muss sich ab und zu daran erinnern, dass dieses ein sehr, sehr junges Orchester ist. Es hat keinen Zweck, mit ihnen über Karajan zu reden. Viele können sich nicht erinnern. Die ältere Generation schon, und wir müssen das Gedächtnis und den Klang dieser Generation hüten. Aber ich muss sagen, ich glaube nicht, dass es jemals eine Zeit gegeben hat, in der das Orchester, Musiker für Musiker, so gut gespielt hat, wie heute. Die Spieler haben ihre individuellen Talente. Es ist eine internationale Mischung.

    Zander: Ist es international von Bedeutung, diesen Berliner Philharmoniker Sound zu haben. Können Sie ihn beschreiben?

    Rattle: Der Berliner Sound hat sich immer geändert. Von Nikisch zu Furtwängler und von Karajan zu Claudio. Aber es gibt etwas, das sie zusammenhält, das ist dieser Klang, der aus der Tiefe kommt. Er scheint tief aus dem Boden zu kommen, ein langer atmender Klang, und es ist wichtig, ihn nicht zu verlieren. Man muss ihn pflegen, das ist wichtig. Und dann gibt es diese animalische Leidenschaft, die vermutlich auch immer Teil der Orchestermentalität war. Die Musiker bewegen sich mehr als jedes andere Orchester. Und ich möchte das niemals verlieren - aber - wie alles andere - entwickelt und verändert sich auch das.

    Zander: Es ist ein besonderes Vergnügen, zu sehen, wie vielen zeitgenössische Komponisten man in der Berliner Philharmonie und in den Konzertprogrammen begegnen kann: Matthias Pintscher, Kaija Saariaho, Unsuk Chin, Magnus Lindberg. Sie vergeben zahlreiche Kompositionsaufträge, wie zum Beispiel an Johannes Maria Staud. Ich liebe dieses Zitat, dass Sie ihm haben ausrichten lassen, als er nach der möglichen Größe des Werkes gefragt hat und sie haben ausrichten lassen, er habe die "Lizenz zum Töten".

    Rattle: Ich muss sagen, er hat seine Chance wirklich wahrgenommen! Ich habe jetzt die Partitur zu Hause. Und sie ist deutlich größer als mein 10 Wochen altes Baby! Vom unteren Ende der Partitur her gesehen geht er ungefähr bis zur Mitte der Trompeten. Die Hörner und Holzbläser liegen deutlich höher als Jonas. Also, er hat das ganze Orchester wahrgenommen und eingesetzt. Das sieht wunderbar aus und sehr laut!

    Zander: Er hat mir erzählt, nach dem ersten Schock hat ihre Antwort ihm beim Komponieren Flügel verliehen.

    Rattle: Eigentlich möchte ich allen Komponisten die "Lizenz zum Töten" also freie Hand geben. Ich möchte, dass sie schreiben, was sie wirklich schreiben möchten. Es gibt wenige Komponisten, denen man Beschränkungen geben muss. Strawinsky war so jemand. Er hat sein Papier an die Wände genagelt und wenn er die andere Seite erreicht hat, war das Stück zu Ende. Es gibt nur wenige Komponisten wie ihn. Den meisten muss man sagen "mach weiter, was willst Du wirklich?"

    Was ich von ihnen möchte, ist, dass sie den Klang des Orchesters nutzen. Ich habe mich sehr gestritten mit Matthias Pintscher - obwohl ich eigentlich sehr gern mag, was er schreibt. Aber er hat ein Stück geschrieben und gesagt: "Das ist wunderbar, weil das Orchester hier niemals seinen Klang spielen kann" - ich habe gesagt: Was glaubst du, was du tust?"

    Man muss natürlich ihre Virtuosität und ihre Möglichkeiten nutzen! Es ist immer ein großes Vergnügen, Komponisten zu beobachten, wenn sie das Orchester hören und ihr Hirn arbeiten zu sehen.

    Im letzten Jahr mit Kaija oder Tom Adès oder John Adams und Magnus Lindberg, alle haben das Gebäude mit dem Gefühl verlassen, dass sie ein etwas anderes Stück schreiben würden, als sie sich beim Betreten vorgestellt hatten.

    Das ist gute Musik. Wenn ich ein Stück in Auftrag gebe, versuche ich immer, ein oder zwei andere Stücke dieses Komponisten vorher zu spielen. Dann wissen die Musiker, wo sie hineingeraten und die Komponisten genauso.

    Jedes Jahr müssen wir von Neuem denken: was wird neu sein? Es gibt nichts Schöneres als den Moment, wenn man den ersten Ton zum ersten Mal hört. Das ist wie eine Geburt. Der erste Ton in der ersten Probe.

    Zander: Erwarten Sie eine Botschaft von ihnen oder eine Vision?

    Rattle: Ich hoffe. Aber man weiß nie, was man bekommt. Manchmal ist man enttäuscht, manchmal aufgewühlt und überrascht. Ich möchte, dass sie schreiben, was sie sagen wollen. Ich habe kein Recht, sie zu lenken. Es ist ja so, dass wir die Komponisten brauchen.

    Zander: Auf meine letzte Frage können Sie wahrscheinlich Stunden antworten, aber was sind die tiefsten Quellen für Ihren Enthusiasmus für die Musik?

    Rattle: Wie jeder andere Musiker bin ich zutiefst bewegt. Aber ich denke, Musik gibt uns etwas, das keine andere Kunst leisten kann. Es erreicht eine n tieferen Ort im Nervensystem. Es ist die grundlegendste Art, Geschichten zu erzählen und über das Menschliche zu sprechen. Am tiefsten reicht vielleicht diese Bestätigung, dass wir nicht allein gestellt sind, dass ein anderer das gleiche erlebt und ein anderer das vielleicht besser zum Ausdruck bringen kann ,als wir selbst es jemals können. Und wir sind dagegen wie leere Gefäße, ganz besondere ich.

    Zander: Thank you very much, Vielen Dank Sir Simon Rattle. Die CD mit den Tondichtungen von Antonin Dvorak mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Simon Rattle wird am 18. Juli veröffentlicht, wir werden sie Ihnen ausführlich am 17. Juli in den CD-Neuheiten vorstellen.