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"The Cries of London"

Auch wenn es an das obligatorische Vorzimmergeplänkel in einem Büro des Geheimdienstes Ihrer Majestät erinnert, ist das geflüsterte "Money, penny come to me" kein James-Bond-Zitat, sondern der buchstäblich letzte Schrei einer Musikmode aus dem England des 17. Jahrhunderts. Luciano Berio hat sie in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf Betreiben der King's Singers noch einmal wiederbelebt: die Straßenrufe oder Cries of London, die sich ihrerseits auf musikalische Vorbilder aus Mittelalter und Renaissance beziehen, insbesondere die Pariser Marktschreie von Clément Jannequin.

Von Johannes Jansen |
    Das gewisperte "Money, money" ist gleichsam die Quintessenz des Geplärres um Waren und Dienstleistungen aller Art. Für das akustische Erscheinungsbild einer Metropole damals war es genauso prägend wie für uns heute die aus allen Kanälen hervorquellenden Werbespots und so genannten Jingles. Sie sind keine Erfindung der Gegenwart. Penetrant waren sie immer. Aber sie entbehrten nicht eines gewissen Charmes. Denn jede dieser musikalisch verpackten Anpreisungen hatte ihr eigenes Gesicht, einen bestimmten Ton, unverwechselbar wie die äußere Aufmachung der Händler, Marktweiber und Eckenbrüller, je nachdem, für welches Produkt sie warben und aus welcher Region sie kamen: die Cockney-Blumenverkäuferin mit ihrem Strohhut, die Milchträgerin aus Wales, die in Rotten auftretenden Kolporteure, der irische Kaninchenhändler, der Streichholzverkäufer und sein "Lucifer!". "Der Säufer Grölen, der Nachtwächter Reim, der Läden Lärm, wo Höker morgens schrei'n", so bereimte Sir John Oldham das Tohuwabohu in der lautesten Stadt der Welt. Und mittendrin: der "chimney sweep", auch bei uns als Schornstein- oder Rauchfangkehrer ein Symbol urbaner Geschäftigkeit. Natürlich darf er nicht fehlen in Thomas Weelkes' "London Cries" - der Symphonie einer Großstadt anno 1600 -, präsentiert vom Theatre of Voices und dem Gambenensemble Fretwork.

  • Musikbeispiel: Thomas Weelkes, "The Cries of London”

    "London Cries", Musik aus dem Bauch der Stadt, eingefangen auf Märktplätzen wie Covent Garden und im Gedränge der London Bridge, mit einem abschließenden 'Alleluja!’, das wie ein 'Prosit!’ klingt.

    Während das Theatre of Voices sein akustisches Städteporträt mit dem Klang eines Gambenconsorts grundiert, was gewissermaßen der Standardbesetzung der damaligen Zeit entspricht, bringen die von Jean-Pierre Canihac angeführten Sacqueboutiers die musikalisch veredelten Marktschreie aus der Sphäre des häuslichen Musizierens wieder auf die Straße oder vielmehr ins Public House zurück: mit Zink und der Sacqueboute oder auch Sackbut genannten Zugposaune in alter Mensur. Hier der Cry eines Anonymus. Um die Aufmerksamkeit der Kundschaft zu erhöhen, bedient sich der Schreier einer Zote: Beklagt wird der Verlust eines Mädchens im zarten Alter von sechs- oder siebenundvierzig Jahren, das zuletzt an einem üblen Ort gesehen wurde.

  • Musikbeispiel: Anonymus, "The Cry of London”

    Zu den mit dem typischen "Oyes!" eingeleiteten "running gags" des Marktschreierwesens gehört auch das in den Cries von Orlando Gibbons ausgerufene Finderlohnversprechen für eine dreibeinige Mähre. Ansonsten geht es um Muscheln, "hot apple pies", Haferplätzchen und immer wieder '"garlic" (Knoblauch) als Wundermittel gegen alle möglichen Gebrechen. Es singen Les Sacqueboutiers mit Anne Magouët und Axelle Bernage (Sopran), Marc Pontus (Altus), John Elwes und Joseph Cornwell (Tenor) sowie Allan Mottram (Bass).

  • Musikbeispiel: Orlando Gibbons, "The Cries of London"

    Verständlicherweise überschneidet sich das Repertoire der beiden gleichermaßen lebendig gestalteten Neuerscheinungen mit dem gleichlautenden Titel, auch die Gesamtlänge der CDs ist mit jeweils 64 ½ Minuten nahezu identisch. Und doch sind die Unterschiede größer als die Gemeinsamkeiten. Wofür man sich entscheidet, ist reine Geschmackssache, schließlich sind wir auf dem Markt: Hier der pausbäckig-runde Bläsersound der Sacqueboutiers, dort das vokalbetonte, von Fretwork nur zart gestützte Musizieren des Theatre of Voices. Es ist eine Wahl zwischen Sattmacher und Teegebäck. Was die "Country Cries" von Richard Dering angeht - auch sie sind auf beiden CDs zu hören - entscheiden wir uns für Letzteres, also die Gambenvariante, obwohl im Text auch vom Dudelsack die Rede ist, dem typischen Instrument der Landbevölkerung. Was überdies für die CD mit dem Theatre of Voices spricht, ist die auf den musikalischen Inhalt fein abgestimmte äußere Aufmachung. Hier noch eine Kostprobe. Es singen Else Torp und Clara Sanabras (Sopran), Julian Podger und Paul Elliott (Tenor) sowie Paul Hillier (Bariton).

  • Musikbeispiel: Richard Dering, "The Country Cries”