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"The Ferryman" am Broadway
Krieg und Liebe während des Nordirlandkonflikts

Jez Butterworths Drama „The Ferryman“ über eine Familie während des Nordirlandkonflikts 1981 erinnert an einen Bürgerkrieg, der, so fürchten manche, durch den Brexit neu aufflammen könnte. Die Broadway-Inszenierung von Sam Mendes ist rasant, doch die vielen Klischees des Stücks kann sie nicht verbergen.

Von Andreas Robertz | 30.10.2018
    Regisseur Sam Mendes at the Olivier Awards 2018 at the Royal Albert Hall, Kensington Gore, London on Sunday 08 April 2018
    Regisseur Sam Mendes hat "The Ferryman" von Jez Butterworth am Broadway inszeniert (imago stock&people)
    Was will man mehr vom Theater? Ein großes fettes Familiendrama mit über 20 Darstellern – plus einer Gans und einem Kaninchen. Und das Ganze in einer historisch dramatischen Zeit voller menschlicher Tragödien und existentieller Entscheidungen. Bereits in der ersten Szene in einer dunklen Gasse vor einer Wand übersät von Graffiti über Freiheit und Rebellion erfährt man, dass eine Leiche im Mohr gefunden wurde - 10 Jahre alt und sauber mit Genickschuss hingerichtet. Ein zögerlicher Priester wird vor den Chef der lokalen IRA-Brigade zitiert und beauftragt, die Familie des Toten zu informieren und zum Schweigen zu überreden. Es ist 1981 in Nordirland: Gefangene der IRA kämpfen mit Hungerstreik um die Anerkennung als politische Häftlinge - gegen eine unerbittliche Margaret Thatcher. Und die Welt fängt an, die Anliegen der IRA ernst zu nehmen.
    Figuren glänzen individuell
    Die nächsten drei Stunden handeln von den Folgen dieses Leichenfundes für die Carney Familie, die sich gerade auf das jährliche Erntedankfest vorbereitet: Die Familie - das sind Familienoberhaupt Quinn Carney, der Bruder des Ermordeten, seine bettlägerige Frau, seine sieben Kinder und die hübsche Schwägerin Caitlin, die Ehefrau des Ermordeten, mit ihrem Sohn Oisan. Dann noch ein Onkel und zwei Tanten.
    Außerdem spielen drei jugendliche Erntehelfer aus der Stadt eine Rolle, ein leicht zurückgebliebener englischer Landarbeiter und natürlich der Unheil verkündende Priester sowie der düstere IRA-Anführer mit seinen gewaltbereiten Schergen. Regisseur Sam Mendes hat mit filmtechnischer Präzision allen diesen Figuren Raum gegeben, um individuell zu glänzen und ein Ensemble zusammengestellt, das das auch zu leisten vermag. Besonders die Kinder und Jugendlichen überzeugen durch Unmittelbarkeit und Dynamik, sei es wenn sie plötzlich alle zusammen einen Riverdance improvisieren oder zu "Teenage Kicks" der irischen Punkband "The Undertones" rocken.
    Whiskey auch für die Kinder
    Einer der Höhepunkte des Abends ist sicher die nächtliche Debatte der betrunkenen Jugendlichen über den Kampf um Gerechtigkeit und Freiheit und die Gewalt, die man bereit ist, dafür in Kauf zu nehmen: ein Paradebeispiel für die Radikalisierung von Jugendlichen.
    Getreu des Klischees wird viel getrunken – zum Erntedank gibt es sogar Bushmill Whiskey für die Kinder – gesungen, getanzt und immer wieder heftig über Politik gestritten. Onkel Patt zitiert Yeats Gedichte, erzählt vom Fährmann Charon und vom Schatz am Ende des Regenbogens; die demente Tante Maggie, die hier und da aufwacht, von rachsüchtigen Unheilsfeen, unerwiderter Liebe und legendären Schlachten, in denen, zur Freude der Kinder, besonders viel Blut fließt. Tante Patt mit ihrem Transistorradio kann nicht vergessen, wie ihr Bruder Michael beim Osteraufstand 1916 gegen die verhassten Engländer in ihren Armen starb.
    Banales und Tragisches stehen nebeneinander und die chaotische Lebendigkeit besonders der Kinder ist das, was den Abend so bemerkenswert und unterhaltsam macht. Aber sie hat auch ihren Preis, denn die tiefgründigeren Geschichten haben im vergnüglichen Trubel kaum Platz sich wirklich zu entfalten.
    Motiv der unerfüllten Liebe als roter Faden
    Zum Beispiel die unmögliche Liebe zwischen Quinn und seiner Schwägerin Caitlin; der Hass ihres Sohnes Oisan auf die Briten, obwohl sein Vater von der IRA hingerichtet wurde; die leise, psychosomatische Verzweiflung von Quinns Ehefrau Mary, die die Liebe ihres Mannes verloren glaubt; oder Quinns eigene Schuldgefühle, der sich für den Tod seines Bruders verantwortlich fühlt.
    Das Motiv der unerfüllten Liebe zieht sich vom Persönlichen über das Politische bis hin zum Mythischen durch das ganze Stück. Und alles endet dann ziemlich blutig als wollte Autor Jez Butterworth einen Kniefall vor den irischen Autoren Connor McPherson und Martin McDonagh machen, die bekannt für ihre Mischung aus blutigem Splatter und urigen Volksgeschichten sind.
    "The Ferryman" ist ein sehr gut funktionierender Theaterabend, der mit tollem Ensemble und dynamischer Regie drei Stunden wie im Fluge vergehen lässt. Doch die Geschichte, wie ein politischer Konflikt tief in die Biografie von Familien und Individuen eingreift, geht durch die zahlreichen unterhaltsamen Einfälle verloren. Und die vielen Klischees über Irland und seine trinkfreudigen und streitsüchtigen Bewohnern aus der Feder eines englischen Autors hinterlassen einen unangenehmen Beigeschmack.