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"The Graphic Canon"
Literarische Meisterwerke im Comic-Format

Mithilfe zahlreicher Künstler hat der Amerikaner Russ Kick in einer mehrteiligen Serie einen Literatur-Kanon erstellt - und zwar als "Graphic Canon". Darin sind Adaptionen großer Werke als Comic oder Illustrationen versammelt. Für Deutschland ist gerade der zweite Band erschienen.

Von Kai Löffler | 23.11.2015
    Bücherstapel
    Für "The Graphic Canon" wurden vorhandene Comics von großer Literatur verwendet, aber auch neue Comics kreiert. (imago stock&people)
    "Es muss 2008 gewesen sein; ich war in einer Buchhandlung in Tucson, Arizona."
    Herausgeber Russ Kick.
    "Und dort habe ich eine Comicversion von Kafkas 'Prozess' entdeckt. In dem Moment hat es bei mir geklickt. Es gibt so viel große Literatur in Comic-Form, aber noch nie hatte jemand sie in einer Anthologie gesammelt."
    Wie einsam über Berg und Tal
    die Wolke in der Höhe streicht.
    Ging ich - und sah mit einem mal
    Ein Heer von Goldnarzissen leicht.
    Zusammenarbeit mit Künstlern für "The Graphic Canon"
    Das war die Geburtsstunde der Anthologie-Serie "The Graphic Canon": Romane, Ausschnitte aus Romanen und Gedichte als Comic oder als Serie von Illustrationen. Kick machte Werbung für seine Idee und schrieb eine Reihe von Künstlern an:
    "Ich hatte noch nie etwas von Russ gehört."
    Megan Kelso aus Seattle war einer dieser Künstler. Sie steuerte einen Comic zum Graphic Canon bei nach anfänglichen Zweifeln.
    "Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen misstrauisch war. Es klang einfach so ambitioniert; ich konnte mir nicht vorstellen, wie jemand das auf die Beine stellt. Umso beeindruckender ist es, dass Russ es tatsächlich hinbekommen hat."
    Kelso adaptierte ein Kapitel des Romans "Middelmarch", einem der wichtigsten viktorianischen Romane des 19. Jahrhunderts. Das Buch der englischen Autorin George Eliot war nur eine von vielen Optionen. Russ Kick hatte eine Liste mit Werken rausgeschickt.
    "Und die Künstler konnten sich davon etwas aussuchen oder auch selbst was vorschlagen."
    Auch Maler und Comiczeichner Shawn Cheng zeichnete und schrieb für die Anthologie; die Gebrüder Grimm-Adaption "Sechse kommen durch die ganze Welt".
    "Meine Arbeit ist sehr stark von Märchen und Folklore beeinflusst. Als ich also vom Graphic Canon gehört habe, wusste ich sofort, dass das meine Chance war, einige der Geschichten und Figuren zu zeichen, die mich schon immer faszinieren."
    Autoren wie die Gebrüder Grimm, Jane Austen oder Edgar Allen Poe bekommen hier in der exzentrischen, oft experimentellen Comic-Adaptionen einen modernen Anstrich. Für Herausgeber Russ Kick haben aber auch schon die literarischen Vorlagen eine Verbindung zu unserer Zeit.
    "So viele von den Klassikern werden nach wie vor von Hollywood verfilmt. Man hat das Gefühl, dass diese Werke nichts von ihrer Wirkung verloren haben. Das macht große Literatur ja aus - sie zeigt immer wieder neue Facetten und hat jeder neuen Generation etwas Neues zu sagen."
    "Der Graphic Canon soll auf jeden Fall die Literatur respektieren"
    Schwieriger wird es, wenn die Vorstellungen von damals im Widerspruch zu unseren heutigen Werten stehen. Wenn ein Klassiker neu aufgelegt wird, ändern Verlage nur selten den Originaltext; aber was, wenn man Geschichten in ein modernes Medium überträgt, etwa als Comic adaptiert? So bei Huckleberry Finn; einerseits ein Meilenstein der Literaturgeschichte, aber gleichzeitig spiegelt der Text den Rassismus seiner Zeit. Russ Kick aber wollte bei der Sprache keine Kompromisse machen.
    "Ich hab zu meinem Verleger gesagt, 'soweit ich weiß, sind diese Ausdrücke in früheren Comicadaptionen immer entfernt worden. Warum lassen wir sie nicht drin?' Der Graphic Canon soll auf jeden Fall die Literatur respektieren. Das war eben eine schreckliche Zeit, in der Weiße keinen Respekt für Schwarze hatten. Ich finde es wichtig, dass wir mit dieser Realität konfrontiert werden."
    Mit dem Graphic Canon ist Russ Kick ein grandioses und furchtloses Experiment geglückt, eine stilistisch vielfältige Mischung aus tiefgründigem, unterhaltsamem und absurdem. Die deutsche Ausgabe ist liebevoll übersetzt und bezieht außerdem deutsche Literatur ein, indem sie ein paar literarische Vorlagen durch andere ersetzt. Dass deswegen die "Alice im Wunderland"-Adaption fehlt, eins der Highlights der US-Ausgabe, ist schwer nachvollziehbar. Andererseits ist es kaum möglich, jeden glücklich zu machen, findet Shawn Cheng.
    "Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Kanon politisch ist. Alleine schon, weil man sich für oder gegen bestimmte Werke und literarische Traditionen entscheiden muss. Die Auswahl ist also immer politisch, ob einem das bewusst ist oder nicht."
    Unser Literaturkanon ist in den letzten Jahrzehnten in Ungnade gefallen; in Schulen und Universitäten spielt er kaum noch eine Rolle. Auch für Megan Kelso ist er ein Relikt der Vergangenheit im besten Sinne.
    "Der Gedanke macht mich nostalgisch und auch etwas sentimental. Weil wir alle in unserem Kulturkreis diese Bücher kennen, können wir plötzlich miteinander reden. Ich frage mich, ob sich Kanons vielleicht für uns zu so etwas wie Playlisten entwickeln. Es gibt dann nicht mehr einen, den man komplett gelesen haben muss, sondern viele, sich überschneidende, aus unterschiedlichen Zeiten und Regionen der Welt."