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The Last Letter from America

Stellen wir uns vor, jemand habe als Achtjähriger begonnen, politische Sendungen im Radio zu hören. Wahrscheinlich weil die Eltern sie immer sonntags einschalteten. Das war, sagen wir, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Seither haben sich in Großbritannien zwölf Premierminister und in den Vereinigten Staaten elf Präsidenten abgelöst, unser kindlicher Radiohörer von einst ist inzwischen Rentner geworden, und wenn er sonntags einschaltet, dann spricht da immer noch derselbe Mann zu ihm, dessen Stimme er schon 58 Jahre früher lauschte: ein erzählerischer Bariton mit einer wie improvisiert wirkenden Satzmelodie.

Von Josef Schnelle | 05.03.2004
    Alistair Cooke, den Vornamen hatte sich Alfred Cooke während seiner Universitätszeit in Cambridge zugelegt, ist eine Rundfunklegende. Sein wöchentlicher "Letter of America" ist die langlebigste Radiosendung der Welt - zumindest im Bereich des gesprochenen Wortes. Und sie ist im Lauf von 58 Jahren eine der beliebtesten der BBC geworden - ausgestrahlt auf Radio 4 sowie im World Service. So übertrieben es klingt, es hat seine Richtigkeit, wenn dieser Tage in den englischen Zeitungen Leitartikel erscheinen, die mit dem Satz beginnen: "Sunday mornings will never be the same." Denn Alistair Cooke hat sich im Alter von 95 auf ärztlichen Rat entschieden, mit seinen Briefen aus Amerika aufzuhören - nach 2869 Ausgaben. Schon beim letzten Sendetermin musste er passen und die BBC ein Stück aus dem Archiv spielen.

    So etwas hatte es in Cooks Karriere nur zwei Mal gegeben, ansonsten nahm er seine Sendung - jeweils eine Viertelstunde - notfalls vom Krankenbett aus auf: auch diese uhrwerksmäßige Zuverlässigkeit gehört zu seinem Mythos. Doch der Kern dieser Erfolgsgeschichte liegt natürlich in der Qualität der Beiträge: in der unaufgeregten Haltung des Chronisten, in seinem historischen Wissensschatz und in seinem Erzählstil, der so ganz jenen Regeln zuwiderlief, die ihm seine Vorgesetzten in der Anfangszeit aufnötigen wollten:

    Die sagten: Zuerst müssen Sie sagen, worüber Sie sprechen werden, dann müssen Sie über ihr Thema sprechen, und zum Schluss sagen Sie, worüber sie gesprochen haben. Das war natürlich eine Anleitung zum Nichtrundfunk. Denn beim Rundfunk geht es genau ums Gegenteil: es geht um die Beherrschung eines Spannungsbogens - egal, worüber man spricht.

    Mit dieser Kunst des Spannungsbogens hat Cooke es vermocht, all die mittlerweile auch bei der BBC modischen Kurzinfo-Häppchen und Soundbite-Stückchen ganz alt wirken zu lassen. Ein Sprecher, 15 Minuten und eine ebenso packende wie persönliche Form der Darstellung reichen aus, um eine der populärsten Sendungen der Rundfunkgeschichte zu machen. Wenngleich Cooke das Letztere mit typischem Understatement einschränkt:

    Ein kluger, alter Produzent kam zu mir uns sagte: Cooke, werden Sie nicht zu beliebt bei den Hörern, sonst werfen wir Sie raus. Nun ja - ich versuche mich seit 51 Jahren daran zu halten.

    Er hat Bücher geschrieben, die Bestseller wurden, Dokumentarserien fürs Fernsehen gedreht, die sowohl in den USA als auch in Großbritannien erfolgreich waren, und er wurde sogar eingeladen, vor dem amerikanischen Kongress zu sprechen. Die Queen schlug ihn zum Ritter, und im Huntington Hotel zu San Francisco hat man ein Zimmer nach ihm benannt. So weit kann einer kommen, der mit ruhiger Sprechweise Geschichten aus seinem Gastland erzählt. Wovon die jeweils handeln, ist ganz ihm überlassen: die enorme Kälte in den ersten Wochen dieses Jahres, die zunehmende Fettleibigkeit, das Verhältnis zum Krieg, die verschwiegenen Gesundheitsprobleme von Präsident Kennedy. Und schon das ist eine Singularität, die man sich unterm heutigen Rundfunk-Regiment schwer vorstellen kann: dass ein Mitarbeiter ohne thematische Absprachen oder Vorgaben einfach nach Gutdünken berichtet. Freilich sind die Konkurrenten dieses Korrespondenten aussichtslos, wenn es um die geschichtliche Essenz geht: Cooke war mit Charlie Chaplin befreundet, er wurde Augenzeuge der Ermordung Robert Kennedys, er verfügt über einen Erlebnishorizont wie kein ein anderer Journalist.

    Für die Engländer, deren Amerikabild er über Generationen hin geprägt hat, ist er schon fast ein Amerikaner; für die Amerikaner ist der in einem herrlichen Apartment am Central Park lebende Cooke das Urbild eines britischen Gentleman. Auf die Frage, ob er nun eigentlich Engländer oder Amerikaner sei, pflegt er zu antworten: Warum nicht beides?

    Dass ihm angeblich die Ärzte rieten, aufzuhören, ist kaum zu verstehen. Einer wie Cooke, das müssten doch auch Ärzte wissen, lebt, solange er ins Mikrophon zu sprechen sich zwingt.