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The Last Pictures

Der Künstler Trevor Paglen hat sich die Aufgabe gestellt, einhundert Bilder auszuwählen, die die menschliche Zivilisation repräsentieren, sie auf nahezu unzerstörbares Material zu drucken und ins All zu schicken. Die Bilder seines Projekts "The Last Pictures" sollen Zeugnis unserer Zeit sein.

Von Kerstin Zilm |
    Die vergoldete Aluminium-Muschel aus zwei runden Scheiben ist etwa so groß wie eine DVD. Auf der Oberseite sind Linien und Punkte eingraviert, die an Grafiken von Sternenbildern und Umlaufbahnen erinnern. Zwischen den Scheiben geborgen sind einhundert Bilder, in Silizium geätzt. Das Material soll Weltallbedingungen überleben bis die Sonne sich zu einem roten Giganten ausdehnt, der die Erde verschluckt - in geschätzt fünf Milliarden Jahren. Für Trevor Paglen ist die Botschaft ins All eine Meditation über unsere Beziehung zu Zeit und Zukunft.

    "Die Vorstellung, dass wir Maschinen herstellen, die für uns nur eine kurze Zeit nützlich sind - im Fall eines Kommunikationssatelliten 15 Jahre - aber viel länger existieren, ist für mich ein Gegensatz, den dieses Raumschiff verkörpert. Wenn es auf der Erde kein Zeichen menschlicher Existenz mehr gibt, wird unser Planet einen Ring haben ähnlich wie der Saturn, nur dass dieser Ring aus toten Maschinen besteht. Eine dieser Maschinen wird ein Geschenk bei sich haben."

    Das Geschenk sind die einhundert Bilder. Fünf Jahre arbeitete Paglen an dem Projekt, unterstützt von privaten Spendern und dem Massachusetts Institute of Technology. Er beriet sich mit Künstlern, Philosophen, Ingenieuren, Historikern und anderen Wissenschaftlern. Paglen wollte die Unsicherheit ausdrücken, die unsere Gegenwart prägt und darstellen, wie sich die menschliche Zivilisation sehenden Auges selbst zerstört, indem sie Langzeitfolgen ihres Handelns bewusst ignoriert - von Treibhausgas bis zu Atommüll. Die Diskussionen waren außerdem inspiriert von 17.000 Jahre alten Höhlenmalereien und der sogenannten Goldenen Schallplatte: Bildern und Audioaufnahmen, die 1977 mit Raumsonden ins All geschickt wurden, darunter Grüße in 55 Sprachen.

    Das Team um Paglen entschied sich aus Platzgründen gegen Audioaufnahmen. Die aus Tausenden von Bildern ausgewählten Darstellungen reichen von Felszeichnungen der Navajo-Indianer über mikroskopische Aufnahmen eines Mars-Meteors und dem Bild einer Pusteblume bis zum Foto einer Drone über Waziristan.

    Zu Beginn des Projekts hielt der Künstler die Zahl von einhundert Bildern für unmenschlich klein. Jetzt sagt er: Es hätten sogar weniger sein können, denn jedes Bild für sich repräsentiere die Vergänglichkeit der Gegenwart. Besondere Bedeutung hat für Paglen allerdings das erste Foto der Serie: die Rückseite des Gemäldes "Angelus Novus" von Paul Klee. Das Bild inspirierte Walter Benjamin zu seiner geschichtsphilosophischen These IX:

    "Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft. Ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."

    Indem Paglen das Gemälde von der Rückseite zeigt, positioniert er den Betrachter in die Zukunft, auf die der Engel zutreibt. Auf der vergoldeten Scheibe, die fünf Milliarden Jahre im All kreisen soll, gibt es keine Fußnoten zu den Bildern. Die hat der Künstler mit Aufsätzen zu Hintergründen des Projekts in einem Buch festgehalten. Paglen kam zu dem Schluss, dass jedes Bild in der Zukunft für sich selbst sprechen und gleichzeitig in der Sphäre bleiben wird, die ihn besonders interessiert: die Grenze der Verständlichkeit.

    "Wir lösen Bilder von Geschichte, Zeit und Kultur. Sie sind für die Zukunft, was Höhlenmalereien für uns sind. Scheinbar sagen sie uns etwas über die Vergangenheit, aber sie bleiben rätselhaft. Wir haben eine Art Höhlenmalerei des 21. Jahrhunderts geschaffen. Kunst ist für mich ein Weg, Fragen zu formulieren, und dazu anzuregen, über das Unwahrscheinliche, auch das scheinbar Lächerliche nachzudenken. Dadurch können wir uns selbst neu sehen."

    Eine Mission, die sehr zum Nachdenken anregt - selbst wenn niemand die in Silizium geätzte Botschaft unserer Zivilisation jemals öffnen wird.

    Anm. d. Red.: Im Vergleich zur Sendefassung wurde ein Übersetzungsfehler korrigiert.