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THE NEW YORKER zum 75sten Geburtstag

Es erscheint nicht gerade als Dreamteam, was sich da 1924 aus dem Dunstkreis des heute legendären Round Table im Algonquin-Hotel in Manhattan löste, um über die Gründung einer metropolitanen Qualitätszeitschrift nachzudenken. Auf der journalistischen Seite haben wir da Harald Ross, 33, Schulabbrecher aus Colorado mit buntscheckiger journalistischer Erfahrung, unter anderem bei "Stars and Stripes", der Zeitung für das amerikanische Expeditionscorps in Europa während des ersten Weltkrieges, und auf der geschäftlichen Seite Raoul Fleischmann, 40, Erbe eine Wiener Feinbäckerei in Manhattan samt zugehörigem Backzutatenimperium. Schließlich legen beide je 25 000 Dollar auf den Tisch, für Ross ist das alles, was er hat, und gründen die F - R Publishing Corporation, den Fleischmann-Ross-Verlag; Ross verfaßt einen vollmundigen Prospekt:

Burkhard Scherer |
    "Der NEW YORKER wird in Wort und Bild großstädtisches Leben widerspiegeln. Er wird menschlich sein.Im Vergleich zu Tageszeitungen wird der NEW YORKER interpretierend statt stenographierend sein. Er wird Fakten drucken, die sich hinter der Oberfläche verbergen, aber er wird nicht den Skandal um des Skandals oder die Sensation um der Sensation suchen. Seine Integrität wird überjeden Verdacht erhaben sein. Er hofft, so unterhaltsam und informativ zu sein, daß er für Menschen, die wissen oder wissen wollen, wie die Welt sich bewegt, unverzichtbar wird."

    Im Februar 1925 warten dann 15 000 Hefte der ersten Nummer mit einem Umfang von 32 Seiten zum Preis von 15 Cent auf Käufer - die meisten vergeblich. Im Sommer warten dann nur noch 8000 Exemplare, Anzeigen bleiben aus, das Geschäftskapital ist aufgebraucht, das fast verdorrte Zeitschriftenpflänzchen scheint nicht zu retten. Aber Fleischmann will offensichtlich nicht zurück zu Mehl und Backpulver: an dem Abend., als mit Ross das Projekt begraben werden soll, entschließt er sich, neues Geld zuzuschiessen und übernimmt gleich noch Ross' Pokerschulden von 30 000 Dollar. Zwei Jahre später kann er einem Kaufinteressenten, der ihm 3 Millionen Dollar für die Zeitschrift bietet, die Tür weisen; in unseren Tagen sagt etwa Louis Begley, Autor und Anwalt in New York, über die Stellung des NEW YORKER:

    "Der New Yorker, und das mein' ich ganz ernst, ist eine New Yorker Institution. Von gebildeten, intelligenten und lebendigen Bewohnern der Stadt kann man annehmen, daß sie den NEW YORKER lesen. Ich mache es jedenfalls. Ich lese ihn vielleicht nicht jede Woche von vorn bis hinten, aber ich schaue mir in jedem Fall die Cartoons an und lese die meisten Artikel, Geschichten und Gedichte."

    Das offene Geheimnis, wie der NEW YORKER diese Statur gewinnen konnte, ist eigentlich ganz einfach: es gelang Harold Ross recht schnell, die besten Autoren und Zeichner für sein Magazin zu gewinnen, für die Anfangsjahre sind da etwa und unter vielen anderen E.B. White, James Thurber, Ogden Nash, Peter Arno und Rea Irvin zu nennen, und das sollte so bleiben. Arnold Roth, Zeichner in den hohen Sechzigern, blickt 50 Jahre zurück:

    "Ich habe 1951 als freier Zeichner begonnen, das ist nun auch schon 'ne Zeit her, und jeder war damals gierig, für den NEW YORKER zu arbeiten, weil er völlig zu recht als'die qualitativ beste Zeitschrift galt. Er war hervorragend, mit großen Autoren und großen Zeichnern. Und nicht nur das: Man wußte, daß sich mit einer Karriere im NEW YORKER alles wie von selbst ergeben würde, denn alle Art-Direktoren, die Redakteure der anderen Zeitschriften und die Leute aus den Werbe-Agenturen, die schauten alle in den NEW YORKER, und wenn man da regelmäßig drin vorkam, hatte man ausgesorgt, weil einem dann die Tür eingelaufen wurde."

    Wer es nun in den NEW YORKER geschafft hatte, der konnte und kann zwar darauf stolz sein, der Autorenstolz aber war an der Pforte abzugeben, denn Texte wie Zeichnungen wurden und werden einem mehrstufigen Überprüfungs- und Korrekturprogramm unterzogen, das es in sich hat: die Redakteure setzen die einlaufenden Geschichten oft völlig neu zusammen. In einem Merkblatt für die Redaktionsarbeit aus den 30er Jahren hieß es dazu nonchalant: "Versuchen Sie, den Stil eines Autors zu erhalten. Voraussetzung dafür ist, daß es sich Oberhaupt um einem Autor handelt und daß er Stil hat." Und für die sachliche Seite ist das fact-checking-departement zuständig, und das kennt auch keine Verwandten. Cartoonist Sam Gross mit dem Beispiel der Kopfbekleidung für Polizisten:

    "Wir gerieten mal aneinander wegen eines Polizeihelms. Manchmal tragen die Polizisten ja auch solche Kappen, die Eingreifkommandos und die Polizisten, die am Strand patrouillieren. Die wollten jedenfalls den Helm nicht, weil es den bei der Polizei nicht gäbe. Na, schließlich habe ich eingelenkt und dem Polizisten was anderes auf den Kopf gesetzt."

    Solche Genauigkeit mag pingelig anmuten, hat aber ihre Meriten. Barbara Crosette leitet das UN-Büro der NEW YORK TIMES und blickt auf den Nachbarn:

    "Der NEW YORKER hat ein wunderbares System, die Informationen und Fakten zu überprüfen. Das führt dazu, daß ein Artikel voll von Meinung und neuen Ideen sein kann, aber man weiß, daß er auf Wirklichkeit fußt und von Statistik und Fakten gestützt wird. Und so bekommt er durchaus einiges an Gewicht."

    Waren im Sommer 1925 8000 Exemplare kaum an den Kunden zu bringen, liegt die verkaufte Auflage heute bei 800 000, am Kiosk kostet das Heft drei Dollar. Aber da holt es sich kaum einer, rund 90 Prozent der Auflage gehen an Abonnenten. Die bekommen heute ein anderes Heft als etwa vor 20 Jahren: mit einem Inhaltsverzeichnis, dem Autorennamen am Anfang einer Geschichte und bisweilen sogar Photos zum Thema, und die Themen sind zeitnäher geworden. Mark Singer, Staff Writer seit 25 Jahren, vergleicht das mit dem Wechsel von einer literarischen Vierteljahresschrift zu einem wöchentlichen Nachrichtenmagazin. Das Wort führt allerdings in die Irre, denn wenig ist langweiliger als das Nachrichtenmagazin von letzter Woche. Den NEW YORKER aber kann man, abgesehen vom naturgemäß veralteten Veranstaltungsteil, auch noch nach Monaten lesen, denn auch im 75sten Jahr drängt es die besten Autoren und ausgeschlafensten Zeichner genau in diese Zeitschrift. Und das merkt man ihr an.