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Theater Dortmund
Negative Utopien nach Melville und Houellebecq

Mit zwei Aufführungen bestätigt das Theater Dortmund erneut seinen Ruf für ungewöhnliche Inszenierungen. Eine Dystopie nach Michel Houellebecq mit dem Titel "Die Möglichkeit einer Insel" ist live animiert. Hinter dem Stück namens "Moby Dick" verbirgt sich ein "Rachefeldzug mit Puppen und Menschen".

Von Dorothea Marcus |
    In Kay Voges' Eröffnungsinszenierung der Spielzeit, Shakespeares "Hamlet", ging es um den Überwachungsstaat Dänemark. Zum Schluss twitterten die Zuschauer freudig mit, fühlten sich kommunikativ, subversiv und am Puls der Zeit - bis sie eine zynische Mail bekamen, in der sich Dänemark für das Datengeschenk bedankte. Besser hätte man wohl nicht ausdrücken können, wie eng die guten und die schlechten Seiten des Internets zusammen liegen - revolutionäre Vernetzung und totale Kontrolle. Genau dieser Grundkonflikt unserer Zeit gehört zu den großen Fragen, an denen sich Kay Voges' Theater in Dortmund täglich abarbeitet:
    "Was heißt denn das, Privatsphäre? Gibt es das überhaupt noch? Ist das schlimm, das aufzugeben? Wie ist es für das Bewusstsein, dass ich in einer Gleichzeitigkeit lebe? Wir jammern über Depressionen wegen des Gegenwartsschocks ... bekommen permanent neue Twittermeldungen ... wie gehen wir damit um mit all diesen Infos, die uns immer im Jetzt bombardieren?"
    42 Jahre alt ist Kay Voges. Der gebürtige Düsseldorfer war Filmvorführer und Videokünstler, als er mehr durch Zufall 1996 Regieassistent am Theater Oberhausen wurde. Bald wechselte er ins Leitungsteam. Seit er in Dortmund Intendant ist, arbeitet er für seine Grundüberzeugung, Film und Theater nicht als Widerspruch zu begreifen. Und so entstehen an seinem Haus wunderbare Arbeiten wie die vom vergangenen Wochenende. Voges Bruder Nils und das sputnic-Kollektiv brachten Michel Houellebecqs Science-Fiction Roman "Die Möglichkeit einer Insel" auf die Bühne, der vom Klonen und dem Ende der Gefühle handelt, in einem faszinierenden Live-Animationsfilm. Einerseits erinnert das an altmodisches Schattentheater - und ist doch zugleich von höchster Virtualität und Virtuosität. Eine Form, die intelligent zugleich genau die Welt widerspiegelt, die im Jahr 4014 aktuell sein könnte: holzschnittartig, schlicht, endlos reproduzierbar. Vier Schauspieler in futuristisch schwarzen Kutten stehen an vier Maschinen, die an Overheadprojektoren erinnern und tauschen vorgefertigte Bildplatten aus, die sie auf die Leinwand projizieren. Es entsteht ein Film mit rudimentären Bewegtbildern, die an Kinderbücher erinnern - und eine Endzeitgeschichte des sinnentleerten Kapitalismus. Ein Meisterwerk des Multitasking ist das: die Schauspieler sprechen, spielen, bewegen die Bildfiguren, tauschen die Special-Effects-Platten, kontrollieren die Leinwand, machen die Geräusche.
    "Genetisch habe ich die gleichen Züge, das gleiche Gesicht, da ich von Daniel1 abstamme ... Doch diese urplötzliche Verzerrung des Gesichts, die er Lachen nannte, kann ich nicht nachvollziehen. Ich kann mir nicht einmal dessen Mechanismus vorstellen ..."
    Der Dortmunder Stil, das sind Form-Experimente mit Sampling, Live-Stream, Einbezug von Computertechnik. Das Überzeugende darin ist: niemals wirkt es aufgesetzt, jede Form wird durch ihren Inhalt beglaubigt.
    "Wenn wir versuchen, das Theater wie zu Gründgens Zeiten am Leben zu erhalten, wird es bald kein Theater mehr geben. Wir müssen uns in Bezug setzen zum Fernsehen, und zu all den virtuellen Medien, die immer mehr werden. Wenn wir noch etwas erzählen wollen auf der Bühne, dann müssen wir die Themen der Gegenwart aufgreifen und vielleicht auch versuchen, mit Methoden der Gegenwart auf eine theatrale Art und Weise umzugehen."
    Die freie Gruppe "Retrofuturisten" hat einen Tag zuvor den Moby-Dick-Stoff auf seine unendliche Deutbarkeit für alle möglichen Ideologien untersucht. Die Geschichte von Captain Ahab, der alle an Bord erst manipuliert, dann in den Abgrund reißt, wird zunächst in Kurzform als Kasperletheater erzählt. Dann treten die Schauspieler als Aktivisten des schwarzen Blocks auf - gefärbte Wassertropfen lassen dabei auf Overhead-Projektoren Meeres- und Blutrauscheffekte entstehen. Schließlich reflektiert ein Literarisches Quartett mit riesigen Reich-Ranicki-, Löffler- und Karasek-Masken das noch einmal auf der Meta-Ebene. Auch dieser Abend zeigt, und zwar ohne jeden Einsatz virtueller Mittel, wie experimentell und radikal Kay Voges und sein Team ihre Formensprache auf heutige Bewusstseins-Herausforderungen abstimmen. Dass dabei selbst die älteren Zuschauer nicht weg laufen, ist nur eine Bestätigung dafür, dass hier zukunftsfähiges Theater gemacht wird.