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Theater
Düstere Geschichtsvergessenheit im Wohlstandseuropa

"The Dark Ages" heißt Milo Raus neues Projekt über Brüche und Systemwechsel in Europa am Residenztheater in München. In dem Fünfakter geht es um die europäische Geschichte vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum offiziellen Ende des Balkankrieges. Ein Theaterabend, der beklemmende Nachdenklichkeit hinterlässt.

Von Rosemarie Bölts | 12.04.2015
    Der Regisseur Milo Rau
    Der Regisseur Milo Rau (dpa / picture alliance / Anton Novoderezhkin)
    Es ist anstrengend und bleibt ungemütlich im Münchner Marstall, diesem rohen Theaterraum, in dem an diesem Abend die jüngste europäische Geschichte erzählt wird. In fünf Akten, vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum offiziellen Ende des Balkankrieges Mitte der 90er-Jahre, von den "Schutzflehenden" bis zur "Schönen, neuen Welt". abwechselnd monologisierend von drei Schauspielerinnen aus Belgrad, Sarajewo, Russland, einem Schauspieler aus Deutschland und einem Menschenrechtsaktivisten aus Bosnien. Sie erzählen ihre ganz persönlich erlebten Geschichten, und sie erzählen sie in ihren Muttersprachen, also auf Serbisch, Deutsch, und bosnisch.
    Der Schweizer Regisseur Milo Rau will hier etwas über Europa bringen? Schön und gut. Aber wer versteht schon serbokroatisch? Deshalb also die deutsche Übersetzung als Laufband über der Bühne, unter dem groß projizierten Live-Video, das den Kopf mit den verzögerten Lippenbewegungen desjenigen zeigt, der oder die gerade spricht. Ein Verfremdungseffekt der intimen, abgedunkelten Bühnensituation darunter, die dem Büro des bosnischen Menschenrechtlers Subkin Music nachgebaut wurde und die Subkin Music zu Beginn beschreibt. Anstrengend, weil man doch immer wieder die Übersetzung braucht, aber die Protagonisten, die so privat inszeniert in dem unaufgeräumten Büro sitzen, mit ihren kleinen Gesten, mit ihrer verlorenen Zugewandtheit, mit ihrer Haltung nicht aus dem Blick verlieren möchte. Auch wenn ihre Gesichter mit den sprechenden Mündern überlebensgroß auf den Videos die Emotionen andeuten, die bei aller Professionalität hinter der Gefasstheit im Ausdruck, hinter der sachlich-ruhigen Erzählweise durchscheinen.
    Am surrealsten beim ältesten Kriegserzähler, dem heute 70-jährigen Manfred Zapatka, Ensemblemitglied am Münchner Residenztheater, der als Kind die Luftschutzkeller erlebt hat und eigentlich erst als Erwachsener im Wohlstandsdeutschland beim Kampf ums Erbe, ums elterliche Häuschen erfährt, dass es tatsächlich "das Böse" im Menschen gibt: "Später sagte man Befreiung. Aber das Gefühl war, wir sind geschlagen. Wir haben den Krieg verloren, das war das Gefühl. Und wenn jemand mit den Engländern ging, hieß es: Verräter!"
    Nur eine Protagonistin ist mit ihrem Schicksal versöhnt
    Zynismus scheint auf dem Gesicht der ständig lächelnden Vedrana Seksan durch, Schauspielerin am Nationaltheater in Sarajewo, die das Luftabwehrgeschoss, handtellergroß, in der Hand hält, das im Bett ihrer Mutter gelandet ist. Oder das Pokerface von Sanja Mitrovic, als sie erzählt, dass sie die wildesten Partynächte während des Belgrader NATO-Bombardements, die "schönste Zeit ihres Lebens" erlebt hat. Oder der Schmerz von Subkin Music, der in den KZs der Serben saß, durch Europa irrte und wieder zurückging in sein Dorf, wo er beim Ausgraben der Leichen den Schädel seines ermordeten Vaters in Händen hielt. Oder die Trauer von Valery Tscheplanowa, auch sie Ensemblemitglied des Residenztheaters, die mit ihrer Mutter aus Russland nach der Perestroika wegen ihrer Zukunftschancen nach Deutschland verpflanzt wurde, und die mit ganz feinen Handbewegungen den Verlust ihres Vaters, der in Russland blieb, und die Sehnsucht nach ihm und damit ihrer Heimat beschreibt. Sie konnte sich als einzige der Protagonisten mit ihrem Schicksal versöhnen. Was auch auf ihrem feinen Gesicht hell und gelöst durchscheint. Sie ist es auch, die "Hamlet" zitiert und damit den Grundton der "Dark Ages". Hamlet ist ein logischer Beleg für die düstere Geschichtsvergessenheit im Wohlstandseuropa. Auch unüberhörbar und als vierte Dimension unverzichtbar erscheint der Soundtrack der slowenischen Polit-Kult-Gruppe "Laibach" mit ihren zugleich bösartigen wie melancholischen Hymnen als perfekte Antithese zu der Intimität der Inszenierung.
    "Theater ist Betrug", behauptet der Theatermacher Milo Rau unbekümmert. Das klingt angesichts seines europäischen Projekts über die finsteren Zeiten wie reine Koketterie. So viel beklemmende Nachdenklichkeit ist nämlich selten nach einem Theaterabend.