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Theater
Erinnerungen an eine junge Frau

An das Theaterstück "Juliette" des Surrealisten Georges Neveux würde sich heute kaum noch einer erinnern, hätte der Komponist Bohuslav Martinů daraus nicht eine Oper gemacht. Das Stück, das 1930 in Paris heftige Proteste auslöste, ist nun in einer Neudeutung von Clemens Heil und John Fulljames am Theater Bremen zu sehen.

Von Frieder Reininghaus | 30.03.2014
    Es ist Musik des zarten französischen Morgens, die Martinů für den Beginn seiner Oper "Juliette" entwarf: ein feines Tongespinst für die Rückkehr des Pariser Buchhändlers Michel in eine kleine Stadt am Meer.
    Drei Jahre zuvor war er schon einmal hier gewesen, hatte eine junge Frau an einem Fenster singen gehört. Sie sucht er jetzt und damit ein ganz besonderes und extremes Liebeserlebnis. Doch wen er auch fragt: Alle an diesem Ort haben das Gedächtnis verloren, auch Juliette, mit der es zum Streit kommt und auf die der von einem ebenfalls von Gedächtnisschwund heimgesuchte Kommissar zum Bürgermeister geadelte Michel Lepic schießt. Er wird daher vor ein spontan gebildetes Tribunal gestellt. Nach einer Juliette, so viel wird deutlich, sehnen sich auf unterschiedliche Art alle Männer – und am Ende ist der Sehnsuchtsreisende so weit wie zu Beginn.
    In Paris löste das skurril-poetische Theaterstück "Juliette" von Georges Neveux 1930 heftigen Protest und leidenschaftliche Zustimmung aus. Der Ton dieses "Schlüssels der Träume" sei unnachahmbar, meinte Jean Cocteau. Martinů, der gestand, "fremde Sprachen niemals systematisch gelernt zu haben", flanierte damals ohne ausreichende Kenntnisse des Französischen und fast ohne einen Sou in der Tasche am Ufer der Seine, sog die Kunst der Moderne in sich auf, brachte den surrealistischen Neveux-Text irgendwie ins Tschechische und komponierte ihn – in einer Misch-Technik, die Einflüsse der französischen Neoklassizisten spüren lässt und zugleich die melodische Idiomatik Böhmens.
    Martinů gelang eine vielgesichtige, vielfarbige Musik, die mehr Reiz bewahrt hat als vieles andere aus der Mitte der 30er-Jahre. In Bremen realisieren ein erstaunlich leistungsfähiges Haus-Ensemble und die so präzise wie engagiert agierenden Philharmoniker die filigrane Partitur vorzüglich – Clemens Heil sorgt für die stimmige Balance, den nötigen Drive und die sich verströmende Melancholie. Er setzt die Akzente und hält das stilistisch Heterogene zusammen. Nadia Stefanoff und Hyojong Kim bilden das Hohe Paar, das nicht wirklich zusammenkommt – sie das kapriziöse Traumbild, er ein kompakter und exakt singender Tenor, eine Charakter-Figur wie der Komponist Hanns Eisler.
    Der Regisseur John Fulljames und seine Ausstatterin Johanna Pfau haben ein einfaches Grundmodell für die Ausstattung entworfen, das für jeden der drei Akte modifiziert wird: Eine Hausfront mit geschlossenen Fenster- und Türläden empfängt und entfaltet mit Video-Überblendungen kleinstädtisches französischen Ambiente der 1930er-Jahre. Nein, ein Hotel du Navigateur gibt es hier nicht. Die sich öffnenden Fenster sind eine der ältesten, aber immer wieder aufs Neue wirksamen Theatermetaphern. Das fehlende Erinnerungsvermögen der Kleinstädter nutzt Fulljames für Situationskomik. Plausibel ist auch, dass zum 2. Akt mit den Fensterläden ein Innenhof umrissen wird für die Suche von drei ominösen Herren nach Juliette. In diesen Binnenraum wird ein altes Tafelklavier als Weinschenke hereingezogen. Hier spielt die fulminante Szene der Handleserin (die in einer gedächtnislos gewordenen Gesellschaft die Vergangenheit verkünden kann) und ereignet sich der große Dialog, mit dem die beiden Königskinder aus unterschiedlichen Traumsphären so wenig zusammenkommen wie in einem irgendwie gearteten wirklichen Leben. Und im letzten Akt zeigt sich wiederum konsequent, dass die Ladenwelt aus den Fugen gegangen ist. Die unerreichbare Geliebte singt hinter der Tür – doch als der Pedell aufschließt, klafft nur die Leere. Die turbulente frühlings- oder sommerfrische Handlung zwischen Traum und Vergessen stellt in einer Zeit, die sich der immer größeren Ausbreitung der mit dem Namen Alzheimer verknüpften Demenzerscheinungen, den heitersten Trost bereit.