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Theater im Land des Lächelns

Japanische Theater haben mit Blick nach Westen psychologisch genaue Spielweisen entwickelt, die es ihnen ermöglichen, die gesellschaftliche Realität in ihrem Land mit einzubeziehen. Westliche Texte variieren sie freilich auf ganz eigene Weise, und der fremde Blick auf vertraute Stücke hat für den westeuropäischen Zuschauer viel Überraschendes.

Von Cornelie Ueding |
    Das Japanische Theater gibt es nicht - trotz oder gar wegen der übermächtigen Dignität der schier unüberwindlichen Tradition des No- und Kabuki-Theaters, die immer noch die großen Theaterhäuser beherrschen. Erst seit in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts belebende Impulse von kleinen Amateur- und Studententheatergruppen ausgingen, existieren die vielfältigsten Spielformen und Ensembles nebeneinander, freilich ohne dass es Verbindungen zwischen ihnen gibt. Und noch immer bilden die vielen kleinen Theater, die Shogekijo -Bewegung, so etwas die Avantgarde des Theaters in Japan.

    Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass sich das Theater in Japan in einer Art Dauer-Umbruchssituation befindet - und gerade das macht seine Lebendigkeit aus. Immer wieder greifen die kleinen Theater neue Themen auf. Und seit Jahren experimentieren sie mit realistischen Darstellungsweisen, wie sie in der westlichen Welt üblich sind. Sie bringen neue, eigene Stücke zur Aufführung und spielen Stücke europäischer Dramatiker. Manche erarbeiten ihre Inszenierungen gleich in Kooperation mit westlichen Theatern, andere organisieren Gastspiele oder den Austausch von Aufführungen mit westlichen und mittlerweile auch mit asiatischen Ländern. Sie wenden sich vor allem an ein junges Publikum, spiegeln dessen Sprache und Körpersprache, reflektieren Sozialverhalten und Massenphänomene, mit anderen Worten: Sie haben mit Blick nach Westen psychologisch genaue Spielweisen entwickelt, die es ihnen ermöglichen, die gesellschaftliche Realität Japans mit einzubeziehen. Westliche Texte variieren sie freilich auf ganz eigene Weise, und der fremde Blick auf vertraute Stücke hat für den westeuropäischen Zuschauer viel Überraschendes. Georg Büchners "Dantons Tod" zum Beispiel.

    Nicht das Stück wird aufgeführt, sondern unter Leitung von Shin Sato zeigt die Truppe Kamomeza eine Reflexion "Über Dantons Tod", mit stark reduziertem Personal. Das Ganze ist fast wie ein Traum über Danton. Die persönlichen Dialoge sind auf zwei Frauen und drei Männer verteilt. Von allen öffentlichen Auftritten erfährt der Zuschauer über Lautsprecher, während die marode Führungsclique ausschließlich mit sich beschäftigt ist.

    Dieser Ansatz ist ebenso klug wie pessimistisch, sehr nahe am Stück und ziemlich realitätsnah: coeur und carreau, Kartenspiel und Frauen, dieses obszöne Wortspiel kennzeichnet bei Büchner Dantons Sicht auf die verspielte Revolution. Und hier wiederum geht Regisseur Shin Sato aufs Ganze und rettet sich in ausführliche Überdeutlichkeit. Eine aufreizend entkleidete Frau muss sich wie das Abziehbild einer Verführerin nonstop im Spotlight räkeln und an der in den Spielraum ragenden Achse vom Rad der Geschichte auf- und abklettern wie ein ausgeleuchtetes Stück Bühnendekoration. Gelungen ist dieser Versuch aus unserer Sicht eher nicht. Doch gerät man als Besucher aus dem Westen in solch eine Aufführung, stellt sich eine eigenartige Mischung ein: Vertrautes Wiedererkennen und verstörende Andersartigkeit lösen einander ab und die Koordinaten der Wahrnehmung verschwimmen.

    Erliegen wir unseren Asien-Klischees? Oder ist alles "so wie bei uns"? Gibt es doch eine Universalsprache des Theaters? Oder bleibt unser Blick an der Oberfläche seiner Zeichen hängen, ohne den Schwerpunkt des anderen Blicks zu treffen? Ein hoffnungsloses Unterfangen, diese verwirrende Doppel-Belichtung auszublenden und zu einer, das ist ja doch unser Bedürfnis, klaren, treffenden Einschätzung zu gelangen. Andererseits liegt darin gerade der Reiz solcher Begegnungen und Wechselspiele, wie sie im Zeitalter der Globalisierung zur Alltagserfahrung werden: Die vertrauten und die fremden Denkmuster überlagern sich, gleiten ineinander, und man entdeckt im Fremden Vertrautes, im Vertrauten Fremdes. Danton, um bei dem angeführten Beispiel zu bleiben, bewegt sich unendlich langsam - wie im No-Theater, auch: wie bei Robert Wilson: Hommage an die japanische Tradition, Stilisierung oder Ausdruck tiefer Verstörung und Melancholie? Und was soll, aus unserer Sicht, bei derart irritierend reduziertem Personal eine, ebenfalls aus dem No-Spiel stammende, stumme, an den Wänden entlangschleichende, schattenhafte Hilfsfigur?

    Die Reaktionen der Zuschauer im japanischen Theater werden uns jedenfalls nicht helfen, diese Fragen schnell zu lösen. Am Ende gibt es allenfalls knappen, dürren Applaus. Von Emotionen ist nichts zu spüren. Und schon verlieren sich die Einzelwesen der kleinen Theatertruppe in den U-Bahnschächten der Megametrople Tokio. Vorbei. Der Vorhang zu und noch mehr Fragen offen als sonst.