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Theater-Liveschaltung nach Nashville

Zur 1200. Jahrfeier der Stadt Magdeburg wollte man etwas Besonderes. Von Theaterseite gab es deshalb "Das Treffen – the other side", ein multimediales Theaterprojekt, das zeitgleich im frisch renovierten Schauspiel Magdeburg und dem Tennessee Repertory Theatre in Nashville, der Partnerstadt Magdeburgs, stattfand. Und so nahm man dann auch in Magdeburg um 24 Uhr sowie um 3 Uhr morgens die Plätze ein, damit die Besucher in Nashville um 17 und 20 Uhr Ortszeit das Theaterspektakel besuchen konnten.

Von Hartmut Krug |
    Als das Fernsehen kam, befürchteten viele Kulturkritiker zu Unrecht, es würde dem Theater den Garaus machen. Doch das Theater verleibt sich alles ein. Selbst die unzähligen Neuerungen der modernen Kommunikationstechnologie konnten ihm nicht gefährlich werden. Mikroports und Videos sind mittlerweile Standard auf der Bühne, und Schauspieler, die zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten der Welt durch Telefon- oder Internetkontakt in ihrem Handeln bestimmt werden, hat man schon öfter erlebt. Weshalb das Theater Magdeburg sich für seinen Beitrag zum 1200 Stadtgeburtstag der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts etwas ganz neues ausdachte. "Das Treffen – the other side" ist ein multimediales Theaterprojekt, das zeitgleich im frisch renovierten Schauspiel Magdeburg und dem Tennessee Repertory Theatre in Nashville, der Partnerstadt Magdeburgs, stattfand. Was dazu führte, dass die ersten Vorstellungen in Magdeburg um 24 Uhr sowie um 3 Uhr morgens stattfanden, während man in Nashville um 17 und 20 Uhr Ortszeit seine Plätze einnahm.

    Alle fünf angesetzten Vorstellungen gelten zu Recht als Premieren: denn immer spielt das Publikum in gewisser Weise mit. Es wird, vor einer die Bühne verdeckenden Leinwand sitzend, gefilmt und in Echtzeit per Video-Live-Schaltung dem Publikum der jeweils "anderen Seite" gezeigt. Zwischen den Zuschauern sitzen in jedem Theater fünf Schauspieler, und während die Kameras Gesichter der anderen Seite hervorheben, beginnen die Schauspieler via Mikrofon oder Mikriport als Teil des Publikums über die Gezeigten Geschichten zu erzählen.

    Die von den Dramaturgen Thomas Oberender und Sebastian Orlac beigesteuerten Geschichten besitzen aber leider keinerlei poetische Kraft oder existentielle Dringlichkeit, sondern thematisieren nur so plapperig wie raunend die üblichen menschlichen Probleme. Es geht um Einsamkeit und Angst, um Erfolg und Scheitern, um Liebe, Erinnerung und Sehnsucht, um Identitätszweifel und –suche. Ein Mann hat auf einer S-Bahnstation einen Herzanfall, eine Frau trifft sich, schwer bepackt mit Einkaufstüten, mit ihrem Gatten, von dem sie sich trennen will, ein Karrierist erzählt von einem Verbrechen aus unnötiger Konkurrenzangst, mit dem er einen Konkurrenten ausschaltete, der nun als Babysitter bei ihm arbeitet, und eine junge Frau überlegt: wer bin ich, bin ich überhaupt, habe ich eine Vergangenheit oder hatte ich eine Zukunft? Es werden also all die existentiellen Standard-Fragen gestellt, die deutsche Stadttheaterdramaturgen seit langem mit den Problemen des Lebens verwechseln.

    Diesem Projekt liegen weitere Mißverständnisse zugrunde. Immer wieder wird auf der Leinwand der Satz "Man betrachtet sich selbst im Spiegel des anderen" eingeblendet. Das aber tut man in dieser medial konstruierten Situation nie. Man phantasiert allenfalls beim Betrachten der einzeln gezeigten Personen darüber, wer sie wohl sein könnten und welches Leben sie führen. Doch anders als z.B. in der U-Bahn, in der man Fahrgäste zuweilen mit gleicher Neugier beobachtet, besitzt diese Theatersituation keine Authentizität. Die von den Schauspielern erzählten Geschichten stören eher bei der eigenen Phantasiearbeit, und da jeder Zuschauer weiß, dass er gefilmt wird, geben die Echtzeit-Bilder nur die authentische Mimik der sich beobachtet fühlenden, befangenen Theaterbesucher wieder. Schlimmer noch: die Behauptung der Autoren, "Das Publikum ist selbst der Held, Menschen entdecken Menschen", entpuppt sich schnell als völlig falsche Behauptung. Denn das Publikum ist nur Spielmaterial: in jeder Vorstellung werden die gleichen vorhergedachten Geschichten erzählt, und vor Aufführungsbeginn werden einzelne Zuschauer auf extra gekennzeichnete Plätze mit dem Hinweis gebeten, sie würden dann in Großaufnahme zu sehen sein. Auch mir widerfuhr dies, weshalb mir immerhin eine spannende, nicht auflösbare Frage dieses Theaterabends blieb: für welche der so aufdringlich poetisierenden Denkgeschichten der Autoren musste ich in Nashville mein Gesicht hinhalten und was mögen die Amerikaner von dem bärtigen Typ gehalten haben, der sichtlich immer wieder mit seinem aufkommenden Schlafbedürfnis kämpfte?

    Über Nashville und die gezeigten Menschen habe ich durch die Live-Schaltung nichts erfahren. Ich habe noch nicht einmal einen Beweis dafür, dass das gezeigte weiße, mittelständische und durchweg ältere Publikum wirklich aus und in Nashville war und ich nicht nur der Übertragung einer Hildesheimer Anglisten-Volkshochschulgruppe aus ihrem städtischen Theater folgte. Die von einer Regiehand gelegentlich über das Video-Live-Bild der Zuschauer geblätterten sepia-gebräunten Familien-Fotos, die natürlich nicht zu den gezeigten livehaftigen Zuschauern gehörten, bewiesen wie der kurze Film über die Fahrt einer Frau durch Nashville wenig. Immerhin: im Foyer waren Robert Altmanns Film "Nashville" und Stadtfotos mit Schwarzenvierteln zu sehen, Country-Musik lief und amerikanisches Essen wurde angeboten. Doch letztlich diente all der neue, mediale Aufwand nur der ungeschickten Erzählung der bekannten banalen Geschichten. Alter abgestandener Existential-Wein in hochmodernen Medieal-Schläuchen.

    Eine neue Erfahrung aber habe ich gemacht: ich bin erstmals nach Mitternacht in eine fremde Stadt gefahren, um 3 Uhr Morgens für anderthalb Stunden ins Theater zu gehen. Das war ein Ereignis, also ein Event. Doch als ich gegen sechs Uhr früh wieder zu Hause eintraf, war es noch dunkel. Das paßte: denn Erhellendes hatte ich in Magdeburg nicht erlebt.