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Theater mit emotionaler Auswirkung

Die dramatischen Qualitäten von Heinrich Manns Roman bewies schon Josef von Sternbergs Verfilmung "Der blaue Engel" mit Marlene Dietrich. So konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis auch das Theater den Professor Unrat für die Bühne entdeckte. Sebastian Baumgarten hat jetzt am Berliner Maxim Gorki Theater Heinrich Manns Vorlage zu einer sogenannten Roman-Revue verarbeitet.

Von Eberhard Spreng |
    Ein doppeltes Risiko ist Sebastian Baumgarten mit seinem Vorhaben eingegangen, den Professor Unrat Roman des Heinrich Mann für die Bühne zu erschließen. Denn zum einen scheint der Stoff durch die legendäre Verfilmung durch Joseph von Sternberg für immer besetzt; wobei Emil Jannings und Marlene Dietrich zu Ikonen geworden sind, zu so etwas wie Meta-Figuren, Über-Verkörperungen. Zum anderen ist aber auch der wilhelminische Urgrund der Geschichte, diese böse Mischung aus menschlicher Triebunterdrückung und der Entfesselung der industriellen Produktion inklusive Flottenbau und Aufrüstung für heute nur schwer zu erschließen.

    Heute begegnet jedes noch so kleine menschliche Triebchen im Konsum sofort seinem passenden Befriedigungsmittelchen; aus einer allseits sedierten und beruhigten Bedürfnislosigkeit blicken wir also mit Sebastian Baumgarten in eine Epoche des wilden Aufbruchs. Der Regisseur hat alles dafür getan, um sich so weit wie möglich vom Film abzusetzen und zitiert dessen Epoche höchstens in verstreuten Video-Einspielungen. Da ist in einem kahlen Bühnengerüst ein Vorhang eingelassen, durch den hindurch man auf das Gangstertribunal aus dem berühmten "M" des Fritz Lang blickt, so als wäre dieses das Publikum in Rosa Fröhlichs anrüchigen Etablissement.

    Auf eine große Tafel auf der Vorderbühne werden Schreibutensilien projiziert, die drei Gymnasiasten Lohmann, Kieselack und von Ertzum laufen mit ausgestellt grotesken Gesten über die Bühne, Abziehbilder eher als Figuren in einem Trieb-Lehrstück. Andreas Leupold spielt den bösartigen Pauker mut- und kraftlos und mit dem Gestus eines verbrauchten Hausmeisters und die Rosa Fröhlich der Kathrin Angerer ist eher eine verschüchtertes, hilfsbedürftiges Mädchen als ein männerverschlingender Vamp.

    "Ach er liebt, dass ich ihn hasse, weil er liebt, dass ich ihn hasse. Darum muss ich ihn jetzt hassen, weil er das so liebt ..."

    Weiter kann man sich von einem übermächtigen Vorbild nicht entfernen: Mit roter Lockenperücke stakst das Volksbühnen-Starlet Kathrin Angerer über die Gorki-Bühne, so als wäre sie das Schwesterchen der verdrucksten Gymnasiasten und nicht der Star aus dem "Blauen Engel" und glamouröse Verheißung. Da aber Sebastian Baumgarten kein Triebgefälle, keine Wertekollision, keine Spannung zwischen ihr und dem Pauker inszeniert, kann auch dessen Verfallsprozess nicht erzählt werden, nicht also dieser Umschlag von destruktiver Autoritätshörigkeit zu einer die bürgerliche Stadtgesellschaft sprengenden Anarchie. War der Pauker Raat darum bemüht, seinen Schülern alles Sinnliche auszutreiben, so zielt er nun, nachdem er mit Rosa Fröhlich verheiratet ist und sich sein Heim in eine Spielhölle verwandelt darauf ab, die Honoratioren seiner Stadt in den eigenen anarchischen Verfall hineinzuziehen.

    Restriktiver Ordnungssinn und zügellose Anarchie, Kontrollzwang und Fanatismus sind die beiden Seiten derselben Persönlichkeitsstruktur, Teil derselben deutschen Misere. Wo der Film es mit Jannings mit der Schulparodie und dem Spott beließ, will Baumgarten in seiner sogenannten "Roman-Revue" der literarischen Vorlage gerecht werden. Endlich, nachdem die Aufführung ihre Figuren lange nur als sehr schematische Zeichen präsentiert hatte - grotesk überdreht die Schüler, kraftlos deprimiert das zentrale Paar - werden jetzt Verlorene erkennbar, Gestrandete und in unlösbare Lebensrätsel Verstrickte. Jetzt liegt für Momente eine milde Melancholie über den Szenen, die die drei Musiker die ganze Aufführung lang mit unentwegter Ambient-Musik unterlegt und auf einen Grundton herunternivelliert haben.

    Der Opern- und Theaterregisseur mit den Ziel eines Theaters der emotionalen Auswirkungen ist hier zum Opfer einer Musik geworden, die nicht dramatische Spannung erzeugt, nicht Kraftwerk der Gefühle ist, sondern Verflüssigungs- und Verflachungsmittel. Ganz zum Schluss verwandeln sich die aufgespießten Schmetterlinge an den Wänden der Raat'schen Wohnung in einer hübschen Videoüberblendung in lauter dröhnende Kriegsflugzeuge, die eine tödliche Bombenlast abwerfen. Ja, aber wie und warum aus Professor Unrats Pädagogikprogramm die Kriegsbegeisterung geworden ist, die Voraussetzung für den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, das kann man in dieser Inszenierung wirklich nicht verstehen.