Jens Groß: Nein, das glaube ich nicht, wenn Sie aufmerksam die Diskussion um Frau Schweeger als Schauspieldirektorin oder Schauspielintendantin verfolgen, merken Sie ja, dass uns nach wie vor vorgeworfen wird, dass wir viel zu experimentell sind und ich persönlich muss natürlich jetzt auch über Schauspiel reden, weil ich Chefdramaturg vom Schauspiel bin. In Frankfurt sind die drei Sparten tatsächlich noch sehr getrennt, da arbeiten nur die Werkstätten zusammen und leider gibt es das Ballett ja gar nicht mehr, also es gibt nur noch die Oper und das Schauspiel Frankfurt. Aber dort können Sie die Tendenzen ganz klar sehen, auch an der Oper gibt es die Diskussionen natürlich, dass für viele Abozuschauer das Theater an sich viel zu modern ist. Ich glaube, das ist eine grundsätzliche Diskussion, die in der ganzen Bundesrepublik geführt wird, wie modern darf und muss Theater sein?
Lückert: Wie modern darf es sein nach Ihrer Ansicht?
Groß: Ich glaube, dass es sogar modern sein muss. Wir haben natürlich im Moment, glaube ich, einfach eine große Spaltung im Zuschauerbereich. Einmal ein traditionell bewusstes Publikum, das aus dem Bildungsbürgertum kommt und auf der anderen Seite ein ganz anders geartetes, meistens doch dann auch jüngeres Publikum, das einfach ganz andere Dinge erwartet vom Theater. Vor allem, dass es auch politisch und ästhetisch Stellung bezieht zu einer Gegenwart. Da gibt es, glaube ich, eine große Differenz in den Erwartungen an das Theater. Das macht es heute sehr schwer, Theater zu machen, weil es in dem Sinn kein homogenes Publikum mehr gibt.
Lückert: Das heißt, zu Zeiten von Hilmar Hoffmans Frankfurter Mitbestimmungsmodell und eben auch dieser, wenn auch sehr links-ausgerichteten Kulturpolitik in der Stadt, gibt es heute nicht mehr einen Konsens, dass man sagen kann, man ist irgendwie schon für dieses Theater, auch wenn es unbequem ist?
Groß: Erstens ist es, glaube ich, historisch schwierig zu sagen, dass unter Hilmar Hoffman und unter Palitzsch und ähnlichen Leuten das Theater auf mehr Akzeptanz gestoßen ist als heute. Wenn man sich die Zuschauerzahlen anschaut, dann war es immer schwierig, für was weiß ich, Inszenierungen damals von Hans Neuenfels oder Herrn Schleef, aber man hatte sicherlich mit Herrn Hoffmann einen Kulturdezernenten, der das Ganze politisch unterstützte und absicherte und das ist vielleicht ein Unterschied, der heute sehr viel schwieriger ist.
Lückert: Das heißt, was hat man heute für einen Kulturdezernenten?
Groß: Ich will jetzt gar nicht gegen die Person des Kulturdezernenten sprechen, für das, was für ihn möglich ist, tut er mit Sicherheit auch sehr viel. Das politische Bewusstsein hat sich verändert, uns fehlt schlicht und einfach die politische Lobby. Es gibt heute keine Partei, auch keinen Kulturdezernenten oder kaum einen in ganz Deutschland, der noch wirklich die politische, gesellschaftliche Bedeutung von Theater formulieren kann. Das ist ein riesen Problem, die Diskussionen gehen ganz schnell hoch, wenn man liest, wie viel Subventionen so ein Stadttheater im Jahr verbraucht und dadurch ist plötzlich immer Theater so ein Luxus. Wenn man sich das anschaut, wie viel Prozent das von einem Gesamthaushalt ist, dann sind diese ganzen Diskussionen ja sowieso lächerlich.
Lückert: Das heißt, Sie müssen das Publikum eigentlich selbst überzeugen, wie gelingt Ihnen das?
Groß: Wir in Frankfurt versuchen unser Stadttheater wirklich zu begreifen und versuchen dieses riesen Gebäude mitten in der Stadt, im Zentrum der Stadt, wirklich zu beleben. Beleben heißt, mit einem sehr, scheinbar, pluralistischen Spielplan, sehr viele Zuschauergruppen anzusprechen. Frank Castorf zum Beispiel mit dem Volkstheater eine ganz klare Linie durchzuziehen, das kann er vielleicht auch, weil daneben das Deutsche Theater ist oder das Gorki Theater.
Lückert: Aber Sie müssen mehrere bedienen, sozusagen?
Groß: Genau. Wir sind hier in der Stadt wirklich das einzige große Theater und haben, glaube ich, die Aufgabe, auch die politische Aufgabe, sehr viele Zuschauer, eigentlich alle Menschen der Stadt irgendwie anzusprechen. Theater ist in erster Linie eine künstlerische Äußerung in einem öffentlichen Raum. Ich glaube, dass wir sehr viel bewusster umgehen müssen mit Ästhetiken, mit eben solchen Fragen, wieweit lässt sich Tanz und Theater oder Film und Theater, vielleicht auch Musik und Theater verbinden? Ich glaube nicht mehr an das singuläre, einzelne Kunstwerk. Wir, glaube ich, müssen vor allem auch unseren eigenen Raum, unsere Theaterräume in Frage stellen. Das ist kein hehrer Tempel der Kunst mehr sondern das soll ein gesellschaftlicher Treffpunkt werden. Eigentlich wieder zurückkommen auf diesen Ort der Polis.
Lückert: Zwei Straßenbahnhaltestellen vom Großen Haus gab es noch ein berühmtes Theater, nämlich das Theater am Turm, das es nun nicht mehr gibt. Ist das ein Misserfolg für Frankfurt?
Groß: Das ist eine kulturpolitische Katastrophe, denke ich mal. Das TAT hat aufgehört zu existieren in dem Moment, wo man es den städtischen Bühnen beigeordnet hat. Also, in den letzten Jahren war es im Grunde der Raum des Balletts, natürlich unter Forsythe, der ein fantastischer Künstler ist. Der Verlust besteht in Wirklichkeit in dem Weggang von Forsythe, dem Ballettchef, der wirklich zwanzig Jahre hier sehr experimentelle, sehr moderne und international anerkannte Produktionen gemacht hat, die uns zum Beispiel als Schauspiel unglaublich befruchtet haben, das ist ja gar keine Frage. Dass es das TAT nicht mehr gibt, das ist eine kulturpolitische Entscheidung, die seit zwanzig Jahren jetzt so zu seinem Endpunkt kommt.
Lückert: Das deutsche System der Stadttheater bedeutet ja auch immer, dass man Rücksicht nimmt auf das ganz spezifische Publikum der Stadt. Sie sind jetzt drei Jahre in Frankfurt, vorher waren Sie in München. Können Sie das vergleichen?
Groß: Es ist tatsächlich sehr schwer zu vergleichen. Die Städte selber unterscheiden sich tatsächlich sehr stark. Ich bin in den letzten 20 Jahren, glaube ich, in sieben verschiedenen Städten gewesen und habe da sehr viele Vergleichsmöglichkeiten und das ist tatsächlich etwas, was Deutschland sehr spannend macht, dass jede Stadt sich tatsächlich spezifisch sehr unterscheidet. Gerade München und Frankfurt sind fast überhaupt nicht miteinander zu vergleichen, das eine ist einfach eine Stadt, wo es noch ein sehr homogenes Publikum gibt, ich sage jetzt einmal ganz bisschen polemisch, relativ der gleichen Gehaltsklasse in München, wo man sicherlich nicht leben kann, wenn man unter einem gewissen Limit verdient. In Frankfurt ist es genau das Gegenteil, es ist eine Stadt, wo alles in engstem Raum aufeinander trifft, viele, viele Differenzen, viele verschiedene Schichten von Menschen, verschiedene Konflikte, Spannungen, alles auf engstem Raum aufeinander trifft. Insofern ist es für mich eine unglaublich lebendige Stadt, eine Stadt, wo Theatermachen sehr viel Spaß macht, weil man eigentlich kaum einem erklären muss, warum man bestimmte Dinge macht. Es gibt eine unglaubliche Offenheit in Frankfurt, es ist eine lebendige, tolerante Stadt mit vielen, vielen Problemen und da ist natürlich Theater eigentlich leicht zu verorten.
Lückert: Vielleicht noch ein Blick zum Schluss auf die kommende Spielzeit. Was sind die Highlights, wie man auf Neudenglish sagt?
Groß: Ich hoffe natürlich immer, dass alle Produktionen Highlights sind, aber wir haben einfach ein Konzept, das vor allem auch versucht, die verschiedenen Räume, die uns zur Verfügung stehen, für sich attraktiv zu machen. Auf der einen Seite freue ich mich eigentlich, dass wir unser Experiment im letzten Jahr mit der Begründung einer neuen Schmidtstraße, das ist eine kleine Fabrikhalle, die früher als Probenraum diente, die wir jetzt versuchen mit einem kleinen Repertoire am Stadtrand von Frankfurt zu bedienen, das in einem Bühnenbild spielt. Dass dort sechs junge Regisseure mit genau denselben Bedingungen arbeiten. Jeder hat dasselbe Budget zur Verfügung, jeder hat die selbe Probezeit und dasselbe Bühnenbild. Das Konzept ist aber natürlich so, dass die Regisseure, die hier arbeiten, möglichst dann auch in der Kontinuität über die ja auch auf den anderen Bühnen arbeiten und man somit auch versucht, die Zuschauer für andere Handschriften, andere Ästhetiken zu verführen. Also, wenn sich ein junger Regisseur an der Schmidtstraße durchsetzen kann, dann versuchen wir den genau ins Kleine Haus einzupassen oder dann auf die große Bühne, zum Beispiel Armin Petras, unser Hausregisseur, der für viele noch ein bisschen provokant und dreschig ist, ist es ganz wichtig, dass der natürlich auch eine Produktion auf der großen Bühne macht, damit man diesen Vergleich hat. Wir versuchen dort mit ihm, sagen wir einmal, insoweit zu reden, dass das kein Aboschreck wird oder so etwas. Natürlich sind wir uns der Verantwortung bewusst, dass es nicht darum geht, Zuschauer zu vertreiben, aber es ist wichtig, dass die Leute einfach Kontinuität spüren, dass man drüber redet, dass man diesen Ort der Polis wirklich nutzt, diesen letzten öffentlichen, demokratischen Raum einfach nutzt.
Lückert: Unsere Sommerreihe "Theater morgen" war heute in Frankfurt am Main. Der Chefdramaturg Jens Groß war das.