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Theater morgen: Dramaturgie der Zukunft

Schmitz: 1843 wurde das Thalia-Theater in Hamburg gegründet. Knapp 140 Jahre später, also 1980 öffnete sich das Theater für die Regie Kunst mit Leuten wie Peter Zadek, Hans Neuenfels und Jürgen Flimm. Unter Ulrich Khuon engagierte es dann ab 2000 stürmische junge Regisseure wie Andreas Kriegenburg, Michael Talheimer und Armin Petras für avancierte Stückarbeit. Ist das nach wie vor Strategie des Thalia für eine tragfähige Zukunft? Das habe ich den Chef-Dramaturgen Michael Börgerding zuerst gefragt.

    Börgerding: Ja, das ist eine Komponente, glaube ich. Sicherlich waren die Namen, die Sie genannt haben, die Regisseure, ganz wichtig. Gleichzeitig gehört aber, glaube ich, auch dazu, dass man diese Regisseure verbindet mit Autoren, die schreiben für uns, mit einem Ensemble, und ihnen Kontinuität bietet.

    Schmitz: Welche Autoren sind es, für die Sie diese jungen Regisseure brauchen?

    Börgerding: Wir haben einen langen Arbeitszusammenhang mit Dea Loher, die für uns mehrere Stücke geschrieben hat, die wir sowohl in der großen Bühne als auch jetzt kurz vor dem Sommer auf unserer zweiten Bühne gespielt haben. Moritz Rinke hat für uns ein Auftragswerk geschrieben. Dann gibt es Fritz Kater - das ist ein Pseudonym von Armin Petras. Er hat eine Trilogie für uns geschrieben, die wir mit großem Erfolg gespielt haben. Albert Ostermeier hat jetzt gerade einen Auftrag für uns. Es gibt sehr viele gute Dramatiker im Augenblick, finde ich. Aber auch da haben wir uns bewusst für vier, fünf entschieden, die wir für wichtig halten und mit denen wir auch schon eine Tradition haben.

    Schmitz: Warum haben Sie sich für diese Autoren entschieden? Was liefern die, was Sie Ihrem Publikum zeigen wollen?

    Börgerding: Es sind schon jeweils sehr besondere Qualitäten. Dea Loher ist wirklich vielleicht eine der mutigsten Dramatikerinnen, die große Themen, große schwarze Themen, aus der Tagespolitik rausgehende Themen stellt. Sie hat beispielsweise jetzt ein Stück geschrieben "Das Leben auf der Praça Roosevelt". Das ist ein Versuch - sie hat drei Jahre in Brasilien gelebt -, eine brasilianische Wirklichkeit aus Sao Paulo zu beschreiben. Ein ganz großer Wurf und gleichzeitig ein Kaleidoskop von Szenen. Oder wenn ich jetzt zu Moritz Rinke springe, der vielleicht das Gegensatz zu Dea Loher ist, das ist ein wahnsinnig begabter, leicht schreibender Komödienautor, voller Ironie. Also das sind jeweils spezifische Qualitäten der Autoren.

    Schmitz: Wie sieht es denn mit der Ästhetik aus seitens der Stücke, aber auch seitens Ihrer jungen Regisseure, die diese Stücke dann auf die Bühne bringen?

    Börgerding: Da haben Sie ja schon die vier wichtigen Regisseure genannt, die bei uns arbeiten mit zwei Inszenierungen im Jahr. Wenn man sie ein bisschen kennt, weiß man, dass die vier sehr unterschiedlich sind, ganz spezifische Eigenschaften haben. Das Thalia-Theater ist ein Theater, was jeden Tag für 1.000 Menschen Theater macht, so sind einfach unsere Plätze. Es ist ein bisschen, wenn man es böse sagt, ein Gemischtwarenladen, und wenn man es positiv beschreibt, etwas, wo wir versuchen, viele Anschlüsse zu finden an die Wirklichkeit und Realitäten, und Anschlüsse zu finden an unterschiedliche Sprachen des Theaters.

    Schmitz: Ist das Spiel mit den Formen die Richtung, die ästhetisch verfolgt wird im Thalia?

    Börgerding: Das ist, glaube ich, von den vieren, würde ich sagen, kann man das für drei der vier behaupten. Also es ist schon der Impetus, der Widerstand gegen das nur Nachbuchstabieren eines literarischen Textes. Da muss etwas dazukommen, Spiellust, Schauspieler. Es muss aber auch von der Regie etwas dazukommen. Theaterspielen ist eine eigene Kunst, nicht nur eine Interpretation.

    Schmitz: Macht das Hamburger Publikum oder das bundesdeutsche theaterinteressierte Publikum, das nach Hamburg pilgert, Ihr Konzept mit, ganz konkret, was die Auslastung angeht?

    Börgerding: Ja, die ist positiv. Also wir haben das jetzt von Jahr zu Jahr steigern können. Es ist, glaube ich, an so einer Grenze. Ich weiß gar nicht, wie man das jetzt noch steigern kann bei uns im Thalia-Theater. In Prozentzahlen sind das im großen Haus, glaube ich, weit über 70 Prozent. Dazu muss man wissen, dass das Thalia-Theater 1.000 Plätze hat, von denen 300 im Oberrang sind. Im Oberrang im Thalia habe ich als Student auch vieles gesehen, da sieht man eigentlich mehr den Scheitel der Schauspieler als die Person. Also der ist ganz schwer überhaupt voll zu kriegen. Deswegen sind diese Prozentzahlen immer schwierig.

    Schmitz: Sie nannten vorhin einige klassische Stücke. Welche Rolle spielt denn der alte Bühnenkanon, sage ich mal, für ein tragfähiges Theater beim Thalia in der Zukunft? Werden die Stücke modernisiert, werden sie gegenwartstauglich gemacht, oder geht es hier um Werktreue oder worum geht es?

    Börgerding: Um Werktreue geht es nicht. Das ist so eine Diskussion, die wir seit vier Jahren mit unserem Publikum führen, auch mit dem Abonnentenpublikum des Thalia. Das muss man auch sagen, wir haben auch viele Abonnenten verloren in den ersten zwei Jahren und gewinnen jetzt langsam wieder neue Abonnenten dazu. Und weil das natürlich eine Umstellung war nach den 15 Jahren Jürgen Flimm, der ja eher für ein psychologisches, erzählerisches Theater war, haben wir viele Auseinandersetzungen führen müssen, gerade um diesen Begriff der Werktreue. Was ist das eigentlich? Wo fängt eine Interpretation eines literarischen Textes an, und wo hört sie auf? Wo ist es ein mutwilliger Eingriff oder ein sinnfälliger Eingriff? Aber grundsätzlich gehen wir erst mal davon aus, dass ein Text Material für die Spieler und die Regisseure und alle, die beteiligt sind. Wichtig ist, dass man sich auf diesen Text bezieht, und genauso, dass man sich auf die Gegenwart, in der wir leben, bezieht. Wir versuchen, etwas anderes zu sein als ein Museum.

    Schmitz: Haben Sie das klassische Abonnentenpublikum wiedergewinnen können für Ihr Regietheater?

    Börgerding: Nicht alle. Es sind auch welche weggegangen und sind an anderen Theatern in Hamburg, denke ich mal. Aber wir haben sehr viel gearbeitet im Sinne von Gesprächen, Einladungen, Publikumsgesprächen, Nachvorstellung. Bei vielen scheinbar komplizierten Inszenierungen geben die Dramaturgen eine Einführung eine halbe Stunde vorher. Also wir haben den Dialog gesucht mit dem Publikum.

    Schmitz: Und das Publikum hat diesen Dialog aufgegriffen?

    Börgerding: Ja. Es gab hitzige Diskussionen, aber ich glaube, es ist ganz wichtig, dass man sich wechselseitig ernst nimmt. Also die Sorgen und Ängste bei vielen Abonnenten, dass nun ihr Theater weggenommen wird, dass wir das ernst nehmen, und dass das Publikum merkt, dass es uns ernst ist mit dem, was wir tun, und dass es nicht etwas ist, was man aus Provokation macht, sondern dass die Inszenierungen aus einer Notwendigkeit anstehen.

    Schmitz: Das wird ein ambitioniertes Theater ja grundsätzlich auch in Zukunft leisten müssen, um überzeugen zu können.

    Börgerding: Ja, das glaube ich. Wenn man diese Institution verteidigen will, wenn man sie für sinnvoll hält, also das Stadt- und Staatstheater, dann muss man auf das Publikum zugehen und vermitteln. Also die Zeiten des Luxus oder der Künstlerattitüde, das Publikum ist blöd und versteht mich nicht, die sind, glaube ich, wirklich vorbei.