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Theater morgen: Was kommt nach der Interpretation der Interpretation?

Holger Noltze: Theater heute kann jeder. "Kultur heute" fragt diesen Sommer, wo die Theaterleute entweder Festival haben oder frei, sozusagen in der Denkpause, nach dem Theater morgen. Was soll werden aus diesem Lieblingskind der bürgerlichen Kultur, diesem Medium der Aufklärung, dieser moralischen und deshalb inzwischen gern auch mal unmoralischen Anstalt? Was soll werden, wenn nicht nur die Mittel schwinden, ein Theater in einer Stadt zu unterhalten sondern, vielleicht dramatischer noch, die Bereitschaft dazu, sein Theater für unverzichtbar zu halten? Wir wollen reden mit denen, die sich Gedanken und Konzepte machen müssen, wie es weitergehen soll. Eine kann, vermute ich, ein Lied davon singen, was passiert, wenn man zum Beispiel von der Berliner Volksbühne, wo sie leitende Dramaturgin war, als Intendantin an ein, von einem grundbürgerlichen Publikum besuchten Haus wie Luzern, etwas anders macht, als es war. Abonnentenschwund, Leserbriefe, Akzeptanzprobleme, wie das heißt. Als Barbara Mundel dann in Köln Opernchefin werden sollte, da bekamen die Lokalpolitiker kalte Füße und sagten ihr wieder ab. Zu links, zu experimentell, zu intellektuell, hieß es. Jetzt geht Barbara Mundel als leitende Dramaturgin nach München an die Kammerspiele und im nächsten Jahr soll sie als Nachfolgerin von Amélie Niermeyer Intendantin in Freiburg werden. So zwischen gestern und heute macht man sich ja vielleicht grundsätzlicher Gedanken, Frau Mundel, vielleicht darüber, was hat sich eigentlich geändert in den letzten Jahren? Was ich das Grundeinverständnis für das Theater nennen würden.

Moderation: Holger Noltze |
    Barbara Mundel: Ich denke natürlich, dass ein Punkt sicher war, dass die Theater sehr lange mit einem, ich nenne es jetzt einmal, Avantgardebegriff gearbeitet haben, der darum ging, Bürgerschreck zu spielen. Das war sehr lange die Überzeugung und daraus hat das Theater auch sehr lange seine Kraft bezogen und damit auch spekuliert und gesagt, wir wollen, dass die Leute provoziert sind, es macht uns auch nichts aus, wenn sie aus dem Theater rennen und so weiter. Man hat sich sicher sehr lange keine Gedanken gemacht, was das heißt, wenn man daran arbeitet, dass dieser bürgerliche Theater- und Kulturbegriff wirklich zerstört wird. Was baut man denn sozusagen stattdessen auf und was passiert da und wie bringt man Leute wieder neu in die Institutionen? Da ist wirklich jetzt ein großer Gap passiert, der größer ist, ein richtiges Loch, weil wir uns auch zu wenig darum gekümmert haben, sozusagen das positiv zu besetzen, was wollen wir denn eigentlich vermitteln.

    Noltze: Sie haben ja in Luzern erlebt und erleben das, was nicht ganz untypisch ist, nämlich gute Kritiken, deutliches und anerkennendes Echo im überregionalen Feuilleton, aber zu Hause wird das Haus dann nicht voll und zu Hause gibt es dann eben auch Ärger. Was tun?

    Mundel: Gut, das ist sozusagen jetzt eine sehr einfache Beschreibung, denn wenn man sich das jetzt einmal ein bisschen genauer anguckt, ist natürlich schon was passiert, was uns gelungen ist. Jüngere Leute wieder an das Theater heranzuführen, das ist uns gelungen. Natürlich geht man ein großes Risiko ein in dem Moment, wo man Leute einmal aus dem Theater treibt, weil das neue und andere Publikum entscheidet sich immer sehr viel selektiver und spontaner, hat nicht diese Treue dann zu einem Haus, entscheidet sich nicht sofort dann für eine Abo. Das hat sicher auf die Dauer auch Auswirkungen auf die Produktionsweisen und ich denke, auch auf die Theaterstrukturen, wo ich wirklich dann über eine Perspektive von zehn, 15 Jahren nachdenken würde.

    Noltze: Jetzt sind Sie da aber erstmal weg. Was kann man tun? Das scheint doch die Gretchenfrage zu sein, wenn man radikal sein will, weil man das auch für richtig hält und weil das auch sein muss, aber gleichzeitig die Leute nicht verprellen will. Kann man es denen verdenken, die nicht mehr kommen, weil sie unter Umständen einfach auch nichts mehr kapieren?

    Mundel: Das Problem ist ja ein bisschen, dass wir fast immer eine ästhetische Debatte und selten eine inhaltliche führen. Ich glaube ja trotz allem immer noch an diesen aufklärerischen und auch politischen Auftrag von Theater. Wie macht man klar, dass das auch eine Chance ist für eine Gesellschaft oder ein Gemeinwesen, gerade in einer Stadt wie Luzern, die dann überschaubarer ist und wo es nicht so viele Angebote gibt?

    Noltze: Sie haben, als Sie gekommen sind, den Luzernern erstmal ihre Klassiker gestrichen. Warum?

    Mundel: Das hatte ganz viel damit zu tun, dass ich ein ganz junges, unerfahrenes Ensemble hatte und erstmal ein bisschen Zeit brauchte um zu gucken, was schaffen wir da überhaupt. Wir haben uns dann schon in der zweiten Spielzeit mal an einen Kleist gewagt. Warum man in Luzern ein junges Ensemble bindet, das hat wieder mit Geld zu tun.

    Noltze: Also, das war keine programmatische Maßnahme?

    Mundel: Nein, nicht unbedingt. Wobei ich auf der anderen Seite sagen muss, dass ich immer mehr, jetzt auch in der Vorbereitung für München die permanente Interpretation immer uninteressanter finde. Mich interessiert immer mehr die Auseinandersetzung auch mit zeitgenössischer Dramatik. Ich finde es schon wichtig, dass man das Archiv nicht total verlässt und diese Texte auch immer wieder befragt, aber sozusagen als die sichere Bank funktioniert das ja auch nicht mehr. Die größten Probleme hat man ja, wenn man einen Klassiker gegen die Erwartungshaltung des Publikums inszeniert. Das ist ein Mittel, was eigentlich nicht mehr wirklich spannend ist.

    Noltze: Erleben wir gerade, wenn es zum Beispiel Ärger gibt über Klassikerinszenierungen, die dann gegen den Strich gebürstet sind oder wie immer man das nennen will, erleben wir das Wegbrechen der bürgerlichen Kultur oder an solchen Punkten gerade deren zähe Verteidigung, also kommt das eher wieder?

    Mundel: Ich glaube, das kommt eher wieder. Ich merke zum Beispiel in Diskussionen mit jungen Leuten, dass die ein oft sehr, sehr konservatives Leseverständnis eines klassischen Textes haben und überhaupt nicht mehr geschult sind darin, sozusagen eine eigene Phantasie, was heißt das, da steht eine Hütte im Wald in einer Regieanweisung, jetzt ist die Hütte nicht da, schon fehlt was. Und das nicht bei einem bürgerlichen Publikum sondern bei ganz, ganz jungen Leuten, die diese Transferleistungen irgendwie nicht mehr lernen und in der Auseinandersetzung zwischen einem Text und mir nicht mehr genug geschult sind. Das ist eigentlich das eigentlich Erschreckende.

    Noltze: Tut sich denn da der Abgrund auf, dass ich auf der einen Seite Regisseure habe, die immer mehr auch über zum Beispiel Klassiker, weil sie neu interpretieren müssen, weil es einen Druck gibt, neu zu interpretieren, neu zu lesen sozusagen, immer mehr auf ihre eigene Geschichte, in, weiß ich nicht, "Nathan der Weise" kommen und auf der anderen Seite ein Publikum, das natürlich diese Texte so grundsätzlich gar nicht mehr kennt und zunächst einmal erwartet, informiert zu werden, was denn da vorkommt.

    Mundel: Ich habe diese Seherlebnisse, einen klassischen Text einmal so geboten zu bekommen wie er da steht, das habe ich noch gehabt. Was heißt das, wenn es diese Ebene überhaupt nicht mehr gibt? Was kann ich da tun, dass Leute sich dann überhaupt entscheiden können zu sagen, nein, so will ich es eigentlich nicht haben sondern sie immer sofort mit der Interpretation der Interpretation zu konfrontieren. Zum Beispiel eine Zauberflöte, eine Kabale, wenn ich an Kinder oder Jugendliche denke, die das zum ersten Mal sehen, welche Chance haben die überhaupt, mit ihren eigenen Gedanken dazwischen zu kommen?

    Noltze: Sie haben ja, Frau Mundel, mit Frank Castorf an der Volksbühne gearbeitet. Was ist da aus Ihrer Sicht in Recklinghausen schief gelaufen, wo es jetzt die Auseinandersetzung gibt zwischen dem Castorf-Konzept und dem DGB, 35 Prozent Auslastung ist zu wenig. Sie kennen auch die Ruhrfestspiele, haben da mal gearbeitet, ist es ein gescheitertes Projekt, ein gescheiterter Versuch?

    Mundel: Ich bin nicht wirklich nah dran gewesen an dem Ganzen, ich war immer, so ein bisschen dachte ich, lassen die sich wirklich genug ein auf die Region, wer ist da vor Ort, wer versteht, wie diese Ruhrfestspiele dort funktionieren und funktioniert wirklich diese Idee des Transportes Osten in den Westen sozusagen auch als intellektuelle Konstruktion. Das ist ein großes Problem dieser internen Vermittlungsarbeit auch gewesen und letztendlich genau das, was in einer Stadt wie Luzern dann auch passiert, nur dass man da ein bisschen mehr Zeit hat, trotz allem, wenn man nicht gleich rausgeschmissen wird nach dem ersten Jahr, sowohl Konzepte zu modifizieren, nicht so, wie jetzt in so einem Festival in einer so konzentrierten Form. Ich habe schon den Eindruck, da ist etwas total schief gelaufen, ein solches Missverständnis offensichtlich auf beiden Seiten wussten die Leute nicht, wozu sie gebeten sind, ich habe es nicht ganz verstanden.

    Noltze: Ist denn ein Teil des großen, ganzen Problems auch damit beschrieben, dass wir so eine Art von Deprofessionalisierung in der Kulturpolitik erleben. Sie haben ja in Köln Erfahrungen gemacht. Die Sache hat sich inzwischen wiederholt, da lädt man jemanden ein, der soll einen wichtigen Posten kriegen, dann findet man den schwierig und lädt den wieder aus, weil man nicht informiert war oder weil man es nicht glaubt, dem bürgerlichen Lager vermitteln zu können. Wird da einfach auch schlecht Politik gemacht mit der Kultur?

    Mundel: Da rennen Sie sicher bei mir offene Türen ein, aber nicht nur wegen der Kölner Erfahrung. Ich finde, dass da wirklich in einer hohen Unverantwortlichkeit mit diesen Institutionen und letztendlich dann sowohl mit den Inhalten als auch mit den ökonomischen Ressourcen umgegangen wird. Dass sozusagen ein Musiktheaterbetrieb wie Köln oder eine Stelle, über die Sie gerade gesprochen haben, Kulturdezernent in Köln, ein Spielball von rein parteipolitischen Klüngeleien wird, das ist einfach unerträglich. Ich fände es ja gar nicht problematisch, wenn sich eine solche Person oder auch damals ich in der Kölner Phase einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Parteien stellen müsste. Aber diese Auseinandersetzung findet ja nicht im Vorfeld statt und so tief lassen sie sich ja dann auf bestimmte Fragen gar nicht ein. Dann geht es um solche parteipolitischen Überlegungen, das ist unerträglich. Ich finde das ein wirklich großes Problem, was sich da auftut und immer mehr auftut.

    Noltze: Da kommt was wieder, Barbara Mundel, Chefdramaturgin der Münchner Kammerspiele und kommende Intendantin in Freiburg.