Ich seh nur Schutt und Asche. So weit ich sehe: Alles Leben tot! Kein Hälmchen Hoffnung - nicht ein Strahl von Licht - siehst du denn mehr?
Nacht wandert jetzt vorbei. Noch kann kein Mensch das nächste Frühjahr ahnen, das still heraufzieht vor dem neuen Tag. Ich seh nicht mehr als du, Tod und Verwüstung, und weiß es doch: ein Fünkchen in der Asche, ein Samenkorn baut alles wieder auf!
Ich seh nur Dunkel - du, o Seherin?
Die Nacht hat einen morschen Stern verschlungen, ich seh’ den Anfang einer neuen Welt!
Mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Welt ergab sich am 8. Mai 1945 auch die Möglichkeit zur Gestaltung einer neuen Welt. Kunst und Kultur, da waren sich die Siegermächte einig, sollten bei der Rezivilisierung der Deutschen eine gewichtige Rolle spielen, auch das Theater. Nur bald wurde klar, dass Ost und West ganz unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, was denn die rechte Kultur sei. Davon handelt ein Band, den Joachim Werner Preuß vorgelegt hat und der "Theater im ost-/westpolitischen Umfeld. Nahtstelle Berlin 1945 - 1961" überschrieben ist.
Bislang gab es keine Gesamtdarstellung der Theatergeschichte Berlins vor dem Hintergrund der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen nach 1945. Es gibt Chroniken, Ausstellungskataloge, Einzeldarstellungen der Geschichte einiger Bühnen, herausragender Künstler und Ereignisse, und es lässt sich aus Memoiren, Biographien und thematisch bezogenen Dokumentationen eine Art Mosaik zusammendenken. Aber erst diese Arbeit von Joachim Werner Preuß, mit dem bezeichnenden Untertitel Nahtstelle Berlin 1945-1961, verschafft einen nachprüfbaren Gesamtüberblick über das am Theater ablesbare geistige Auseinanderstreben in der von den Alliierten geteilten ehemaligen Theatermetropole Berlin nach dem Untergang des Nazi-Reiches.
Der 1931 in dieser Stadt geborene Autor hatte als Theaterbeobachter und –kritiker besonders in den 34 Jahren als Leiter der Theaterredaktion des Senders Freies Berlin, der er bis 1996 war, die besten Möglichkeiten, Fakten und Hintergründe aller das Theater betreffenden Geschehnisse im geteilten Berlin mit Hilfe auch anderer Autoren und zahlloser Interviewpartner zu recherchieren und zu analysieren – zumal in den vielen Fällen, in denen sich diese Geschehnisse erst im Nachhinein entschlüsseln ließen. Allein der Anmerkungsapparat von 210 eng bedruckten Seiten lässt erkennen, wie akribisch Preuß seine Darstellung bis in Detail belegt und auch für den Nichteingeweihten jede politische und fachliche Hintergrundinformation notiert, die zum Verständnis der von ihm geschilderten Vorgänge wichtig erscheint. Durch diesen faktenreichen Ergänzungsteil vermochte er zugleich den über 650 Seiten starken Hauptteil von allzu vielen Detailanmerkungen und erklärenden Einschüben frei zu halten, so dass die an Facetten ohnehin schon überreiche Nachkriegs-Theatergeschichte Berlins einigermaßen flüssig zu lesen bleibt. Das erscheint um so wichtiger, als man angesichts von Ausstattung und Lesefreundlichkeit des Bandes eher an die allgemeinen Sparmaßnahmen erinnert wird.
Was ist dem Buch nun, abgesehen von seinem Streben nach Vollständigkeit, zu entnehmen, was zuvor vermutlich nicht ins allgemeine Bewusstsein getreten war?
Zunächst kann man sich endlich Klarheit verschaffen über die schier unentwirrbar scheinenden Unternehmungen darstellender Kunst auf den noch intakten oder spielfähig gemachten Bühnen Berlins nach Kriegsende. Dass dieser kulturelle Aufbruch in der verwüsteten Stadt sich trotz Hunger, Kälte und Strommangel entfalten konnte, war letztlich der Tatsache zu verdanken, dass die Sowjets zwei Monate früher in Berlin waren als die Westalliierten und dass alle vom sowjetischen Stadtkommandanten und der SMAD – der Sowjetischen Militär Administration für Deutschland – getroffenen Entscheidungen für Gesamt-Berlin gültig blieben. Alle Weichen für eine kulturbetonte Gesamtberliner Politik waren gestellt. Die Führungspositionen waren besetzt. Die umfangreiche Kulturfinanzierung, wie sie sowohl deutscher als auch russisch-sowjetischer Tradition entsprach, war für Briten und selbst Franzosen erstaunlich, für die US-Militärs aber geradezu unfasslich. Hinzu kam, dass die Künstler bei der Lebensmittelzuteilung bevorzugt wurden und damit Privilegien genossen wie zuvor schon bei den Nazis. Nur war nicht generell Verlass auf eine solche Haltung gegenüber auch NS-belasteten Künstlern, gelegentlich erklärt mit Lenins Entscheidung nach der Oktoberrevolution, auch Schaljapin weiter singen zu lassen, obwohl er begeisterter Anhänger des Zaren gewesen sei.
Der erste Nachkriegsintendant des Deutschen Theaters, Gustav von Wangenheim, beklagte sich bei Wilhelm Pieck, in Stücken wie Lessings Nathan der Weise und Julius Hays Gerichtstag "Leute" auf der Bühne zu haben, die "bei nazistischen, z.B. antisemitischen Hetzfilmen" mitgewirkt hatten. Das führte jedoch dazu, dass gegen Wangenheim wegen Führungsschwäche bei den Sowjets intrigiert wurde. Die von der Gruppe Ulbricht dominierte KPD-Führung schloss sich Wolfgang Harich an, dem später berühmtesten politischen Häftling der DDR, der lt. Protokoll Herbert Iherings schon bei der Beratung in der Kammer der Kulturschaffenden gegen die Berufung von Wangenheims an das "repräsentativste deutsche Theater" argumentiert hatte. Wangenheim, früher bei Max Reinhardt engagiert, hatte im Moskauer Exil das Deutsche Theater Kolonne links geleitet und war von der SMAD und dem Berliner Magistrat eingesetzt worden. Mit dem Engagement von Schauspieler-Nachwuchs - Michael Degen, Peer Schmidt, Klaus Herm – bewies er 1945 eine glückliche Hand. Die Lektüre des persönlich geprägten Interessenkampfs um die Berufung und Wiederabberufung Gustav von Wangenheims als Leiter des Deutschen Theaters zeigt Parallelen zu gegenwärtigen Diskussionen, die immer noch ost-/westpolitisch geprägt sind.
Jedenfalls unterschied sich die Einstellung der Sowjets gegenüber den Deutschen gravierend von der Kollektivschuld-These der Amerikaner und deren von Misstrauen geprägter Reeducation-Politik. Und im Gegensatz zu den Amerikanern, deren Kontrolloffiziere für Presse und Kultur politisch ungeschult und unvorbereitet an ihre Aufgaben gingen, bot die SMAD fast ausnahmslos hochqualifizierte Germanisten und Experten der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte auf.
Dieser Unterschied manifestierte sich auch äußerlich. Die US-Militärbehörde richtete ein Information Center ein in Hinterhofräumen mit Büchern und Zeitschriften, die überwiegend von lesenden GIs gespendet worden waren und nur Journalisten, Studenten und Lehrern zur Verfügung standen. Die sowjetischen Militärs eröffneten einen Tag später ihr Haus der Kultur der Sowjetunion (heute Maxim Gorki Theater) im ehemals Preußischen Finanzministerium, einem klassizistischen Bau gegenüber der zerbombten Staatsoper Unter den Linden, mit Bibliothek, Veranstaltungsräumen, Ausstellungen, Vorträgen, Diskussionen, Dokumentarfilmen, Auftritten sowjetischer Sänger und Musiker und Lesungen durch sektorenübergreifend engagierte deutsche Schauspieler. Dass die Sowjets immer Gesamt-Berlin im Auge behielten, hatte strategisch weitreichende Folgen. Sie stützten sich dabei auf die Vereinbarungen von Jalta und Potsdam, denen zufolge die Zonengrenzen nur als Demarkationslinien behandelt werden sollten. In der Alltagspraxis jedoch waren daraus zwischen der SBZ und den amerikanischen und britischen Besatzungsgebieten sofort kontrollierte Grenzen geworden, durch die auch ein Zuzug nach Berlin aus Versorgungsgründen und Wohnungsmangel unterbunden wurde. Selbst ein Alfred Kantorowicz, 1933 von den Nazis ausgebürgert, vor 1933 Pariser Korrespondent und Literaturkritiker der Vossischen Zeitung, konnte nur über die "Grüne Grenze" nach Berlin gelangen, d.h. über die Sowjetische Besatzungszone, deren Grenze zu Berlin entsprechend den Vereinbarungen von Jalta und Potsdam gehandhabt wurde. Insofern war im Ost-West-Verhältnis allein die Regelung zwischen der SBZ und Berlin normal. Damit war allerdings zugleich, unbemerkt von den Westmächten, der Grund dafür gelegt, später das von den Sowjets besetzte Stadtgebiet Berlins als Teil der SBZ und schließlich Hauptstadt der DDR in Anspruch zu nehmen. Der Bau der Mauer am 13. August 1961 zeitigte für die Theater in Ost-Berlin dann gravierendere Folgen als in West-Berlin.
Anders als Journalisten und Theaterkritiker aus der Bundesrepublik konnten in Berlin ansässige Beobachter die Vorgänge in Ost- und West-Berlin natürlich mit größerer Aufmerksamkeit verfolgen, wechselnde Stimmungslagen präziser wahrnehmen und personal-politische Entscheidungen genauer analysieren. Der größte Nachholbedarf an zusammenhängend dargestellten Informationen bestand für jenen Abschnitt der Berliner Nachkriegs-Theatergeschichte, die im Westen bislang nur unvollständig geschrieben worden war, während sie im Osten nur unter ideologischen Vorzeichen publiziert werden konnte. Dementsprechend gehört der überwiegende Teil des Buches zu Recht der Dokumentation dessen, was in vollem Umfang auch erst in den Jahren nach der Wiedervereinigung durch zugänglicher werdende Ost-Archive zu vervollständigen war. Erst nach 590 von 658 Seiten kommt der Autor zum 17. Juni 1953, der auch eine Zäsur in der Wahrnehmungsdichte der nun beidseitig einander eher ausgrenzenden Theaterentwicklungen darstellte. Sie wurden bereits zu ihrer Zeit genauestens kommentiert und wie seismographische Ausprägungen des Ost-West-Verhältnisses betrachtet.
Nach Errichtung des "antifaschistischen Schutzwalls" blieb Bertolt Brechts Meisterschüler Peter Palitzsch in der Bundesrepublik, wohin er gerade Brechts Inszenierungsmethode exportierte, und Erwin Piscator, von dem Brecht Begriff und Methode des Epischen Theaters übernommen hatte, wurde Intendant der Freien Volksbühne in West-Berlin. In der Staatsoper Unter den Linden aber brach im Zuschauerraum während einer seit 1955 gespielten Repertoirevorstellung von Fidelio ein Beifallssturm los, als der Gefangenenchor sang "O welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben". Damit schließt Joachim Werner Preuß seine Theatergeschichte Berlins von 1945-1961.
Joachim Werner Preuß, "Theater im ost-/westpolitischen Umfeld - Nahtstelle Berlin 1945-1961". Der Band ist erschienen im Iudicium Verlag in München, 912 Seiten, 100,-- Euro.
Nacht wandert jetzt vorbei. Noch kann kein Mensch das nächste Frühjahr ahnen, das still heraufzieht vor dem neuen Tag. Ich seh nicht mehr als du, Tod und Verwüstung, und weiß es doch: ein Fünkchen in der Asche, ein Samenkorn baut alles wieder auf!
Ich seh nur Dunkel - du, o Seherin?
Die Nacht hat einen morschen Stern verschlungen, ich seh’ den Anfang einer neuen Welt!
Mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Welt ergab sich am 8. Mai 1945 auch die Möglichkeit zur Gestaltung einer neuen Welt. Kunst und Kultur, da waren sich die Siegermächte einig, sollten bei der Rezivilisierung der Deutschen eine gewichtige Rolle spielen, auch das Theater. Nur bald wurde klar, dass Ost und West ganz unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, was denn die rechte Kultur sei. Davon handelt ein Band, den Joachim Werner Preuß vorgelegt hat und der "Theater im ost-/westpolitischen Umfeld. Nahtstelle Berlin 1945 - 1961" überschrieben ist.
Bislang gab es keine Gesamtdarstellung der Theatergeschichte Berlins vor dem Hintergrund der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen nach 1945. Es gibt Chroniken, Ausstellungskataloge, Einzeldarstellungen der Geschichte einiger Bühnen, herausragender Künstler und Ereignisse, und es lässt sich aus Memoiren, Biographien und thematisch bezogenen Dokumentationen eine Art Mosaik zusammendenken. Aber erst diese Arbeit von Joachim Werner Preuß, mit dem bezeichnenden Untertitel Nahtstelle Berlin 1945-1961, verschafft einen nachprüfbaren Gesamtüberblick über das am Theater ablesbare geistige Auseinanderstreben in der von den Alliierten geteilten ehemaligen Theatermetropole Berlin nach dem Untergang des Nazi-Reiches.
Der 1931 in dieser Stadt geborene Autor hatte als Theaterbeobachter und –kritiker besonders in den 34 Jahren als Leiter der Theaterredaktion des Senders Freies Berlin, der er bis 1996 war, die besten Möglichkeiten, Fakten und Hintergründe aller das Theater betreffenden Geschehnisse im geteilten Berlin mit Hilfe auch anderer Autoren und zahlloser Interviewpartner zu recherchieren und zu analysieren – zumal in den vielen Fällen, in denen sich diese Geschehnisse erst im Nachhinein entschlüsseln ließen. Allein der Anmerkungsapparat von 210 eng bedruckten Seiten lässt erkennen, wie akribisch Preuß seine Darstellung bis in Detail belegt und auch für den Nichteingeweihten jede politische und fachliche Hintergrundinformation notiert, die zum Verständnis der von ihm geschilderten Vorgänge wichtig erscheint. Durch diesen faktenreichen Ergänzungsteil vermochte er zugleich den über 650 Seiten starken Hauptteil von allzu vielen Detailanmerkungen und erklärenden Einschüben frei zu halten, so dass die an Facetten ohnehin schon überreiche Nachkriegs-Theatergeschichte Berlins einigermaßen flüssig zu lesen bleibt. Das erscheint um so wichtiger, als man angesichts von Ausstattung und Lesefreundlichkeit des Bandes eher an die allgemeinen Sparmaßnahmen erinnert wird.
Was ist dem Buch nun, abgesehen von seinem Streben nach Vollständigkeit, zu entnehmen, was zuvor vermutlich nicht ins allgemeine Bewusstsein getreten war?
Zunächst kann man sich endlich Klarheit verschaffen über die schier unentwirrbar scheinenden Unternehmungen darstellender Kunst auf den noch intakten oder spielfähig gemachten Bühnen Berlins nach Kriegsende. Dass dieser kulturelle Aufbruch in der verwüsteten Stadt sich trotz Hunger, Kälte und Strommangel entfalten konnte, war letztlich der Tatsache zu verdanken, dass die Sowjets zwei Monate früher in Berlin waren als die Westalliierten und dass alle vom sowjetischen Stadtkommandanten und der SMAD – der Sowjetischen Militär Administration für Deutschland – getroffenen Entscheidungen für Gesamt-Berlin gültig blieben. Alle Weichen für eine kulturbetonte Gesamtberliner Politik waren gestellt. Die Führungspositionen waren besetzt. Die umfangreiche Kulturfinanzierung, wie sie sowohl deutscher als auch russisch-sowjetischer Tradition entsprach, war für Briten und selbst Franzosen erstaunlich, für die US-Militärs aber geradezu unfasslich. Hinzu kam, dass die Künstler bei der Lebensmittelzuteilung bevorzugt wurden und damit Privilegien genossen wie zuvor schon bei den Nazis. Nur war nicht generell Verlass auf eine solche Haltung gegenüber auch NS-belasteten Künstlern, gelegentlich erklärt mit Lenins Entscheidung nach der Oktoberrevolution, auch Schaljapin weiter singen zu lassen, obwohl er begeisterter Anhänger des Zaren gewesen sei.
Der erste Nachkriegsintendant des Deutschen Theaters, Gustav von Wangenheim, beklagte sich bei Wilhelm Pieck, in Stücken wie Lessings Nathan der Weise und Julius Hays Gerichtstag "Leute" auf der Bühne zu haben, die "bei nazistischen, z.B. antisemitischen Hetzfilmen" mitgewirkt hatten. Das führte jedoch dazu, dass gegen Wangenheim wegen Führungsschwäche bei den Sowjets intrigiert wurde. Die von der Gruppe Ulbricht dominierte KPD-Führung schloss sich Wolfgang Harich an, dem später berühmtesten politischen Häftling der DDR, der lt. Protokoll Herbert Iherings schon bei der Beratung in der Kammer der Kulturschaffenden gegen die Berufung von Wangenheims an das "repräsentativste deutsche Theater" argumentiert hatte. Wangenheim, früher bei Max Reinhardt engagiert, hatte im Moskauer Exil das Deutsche Theater Kolonne links geleitet und war von der SMAD und dem Berliner Magistrat eingesetzt worden. Mit dem Engagement von Schauspieler-Nachwuchs - Michael Degen, Peer Schmidt, Klaus Herm – bewies er 1945 eine glückliche Hand. Die Lektüre des persönlich geprägten Interessenkampfs um die Berufung und Wiederabberufung Gustav von Wangenheims als Leiter des Deutschen Theaters zeigt Parallelen zu gegenwärtigen Diskussionen, die immer noch ost-/westpolitisch geprägt sind.
Jedenfalls unterschied sich die Einstellung der Sowjets gegenüber den Deutschen gravierend von der Kollektivschuld-These der Amerikaner und deren von Misstrauen geprägter Reeducation-Politik. Und im Gegensatz zu den Amerikanern, deren Kontrolloffiziere für Presse und Kultur politisch ungeschult und unvorbereitet an ihre Aufgaben gingen, bot die SMAD fast ausnahmslos hochqualifizierte Germanisten und Experten der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte auf.
Dieser Unterschied manifestierte sich auch äußerlich. Die US-Militärbehörde richtete ein Information Center ein in Hinterhofräumen mit Büchern und Zeitschriften, die überwiegend von lesenden GIs gespendet worden waren und nur Journalisten, Studenten und Lehrern zur Verfügung standen. Die sowjetischen Militärs eröffneten einen Tag später ihr Haus der Kultur der Sowjetunion (heute Maxim Gorki Theater) im ehemals Preußischen Finanzministerium, einem klassizistischen Bau gegenüber der zerbombten Staatsoper Unter den Linden, mit Bibliothek, Veranstaltungsräumen, Ausstellungen, Vorträgen, Diskussionen, Dokumentarfilmen, Auftritten sowjetischer Sänger und Musiker und Lesungen durch sektorenübergreifend engagierte deutsche Schauspieler. Dass die Sowjets immer Gesamt-Berlin im Auge behielten, hatte strategisch weitreichende Folgen. Sie stützten sich dabei auf die Vereinbarungen von Jalta und Potsdam, denen zufolge die Zonengrenzen nur als Demarkationslinien behandelt werden sollten. In der Alltagspraxis jedoch waren daraus zwischen der SBZ und den amerikanischen und britischen Besatzungsgebieten sofort kontrollierte Grenzen geworden, durch die auch ein Zuzug nach Berlin aus Versorgungsgründen und Wohnungsmangel unterbunden wurde. Selbst ein Alfred Kantorowicz, 1933 von den Nazis ausgebürgert, vor 1933 Pariser Korrespondent und Literaturkritiker der Vossischen Zeitung, konnte nur über die "Grüne Grenze" nach Berlin gelangen, d.h. über die Sowjetische Besatzungszone, deren Grenze zu Berlin entsprechend den Vereinbarungen von Jalta und Potsdam gehandhabt wurde. Insofern war im Ost-West-Verhältnis allein die Regelung zwischen der SBZ und Berlin normal. Damit war allerdings zugleich, unbemerkt von den Westmächten, der Grund dafür gelegt, später das von den Sowjets besetzte Stadtgebiet Berlins als Teil der SBZ und schließlich Hauptstadt der DDR in Anspruch zu nehmen. Der Bau der Mauer am 13. August 1961 zeitigte für die Theater in Ost-Berlin dann gravierendere Folgen als in West-Berlin.
Anders als Journalisten und Theaterkritiker aus der Bundesrepublik konnten in Berlin ansässige Beobachter die Vorgänge in Ost- und West-Berlin natürlich mit größerer Aufmerksamkeit verfolgen, wechselnde Stimmungslagen präziser wahrnehmen und personal-politische Entscheidungen genauer analysieren. Der größte Nachholbedarf an zusammenhängend dargestellten Informationen bestand für jenen Abschnitt der Berliner Nachkriegs-Theatergeschichte, die im Westen bislang nur unvollständig geschrieben worden war, während sie im Osten nur unter ideologischen Vorzeichen publiziert werden konnte. Dementsprechend gehört der überwiegende Teil des Buches zu Recht der Dokumentation dessen, was in vollem Umfang auch erst in den Jahren nach der Wiedervereinigung durch zugänglicher werdende Ost-Archive zu vervollständigen war. Erst nach 590 von 658 Seiten kommt der Autor zum 17. Juni 1953, der auch eine Zäsur in der Wahrnehmungsdichte der nun beidseitig einander eher ausgrenzenden Theaterentwicklungen darstellte. Sie wurden bereits zu ihrer Zeit genauestens kommentiert und wie seismographische Ausprägungen des Ost-West-Verhältnisses betrachtet.
Nach Errichtung des "antifaschistischen Schutzwalls" blieb Bertolt Brechts Meisterschüler Peter Palitzsch in der Bundesrepublik, wohin er gerade Brechts Inszenierungsmethode exportierte, und Erwin Piscator, von dem Brecht Begriff und Methode des Epischen Theaters übernommen hatte, wurde Intendant der Freien Volksbühne in West-Berlin. In der Staatsoper Unter den Linden aber brach im Zuschauerraum während einer seit 1955 gespielten Repertoirevorstellung von Fidelio ein Beifallssturm los, als der Gefangenenchor sang "O welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben". Damit schließt Joachim Werner Preuß seine Theatergeschichte Berlins von 1945-1961.
Joachim Werner Preuß, "Theater im ost-/westpolitischen Umfeld - Nahtstelle Berlin 1945-1961". Der Band ist erschienen im Iudicium Verlag in München, 912 Seiten, 100,-- Euro.