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Theaterfestival in Brasilien
Deutsches Stück als Protestnote gegen Staatschef Temer

Doppelte Premiere beim brasilianischen Theaterfestival Palco Giratório: Erstmals ist dort "Die lächerliche Finsternis" von Wolfram Lotz zu erleben – in gleich zwei Inszenierungen. Doch so unterschiedlich die Produktionen sind, eines haben sie gemeinsam: die offene Kritik an Brasiliens Staatschef Michel Temer.

Von Dorothea Marcus | 20.06.2017
    Hunderte Brasilianer protestierten gegen Präsident Temer
    Hunderte Brasilianer protestierten gegen Präsident Temer (Yasuyoshi Chiba / AFP)
    Fora Temer, Fora Temer: "Temer, hau ab!" hallt es durch die Straßen von Porto Alegre, es steht auf Parkbänken und Häuserwänden, es wird von Theaterzuschauern in die Vorstellung gerufen beim Festival "Palco Giratorio" in der vergleichsweise wohlhabenden Kulturstadt Porto Alegre in Brasiliens südlichstem Bundesland. Doch was hat ausgerechnet Wolfram Lotz' deutsches Stück hier zu suchen? Das junge brasilianische Regietalent Alexandre Dill:
    "Das Stück handelt von den neoliberalen Verheerungen der Globalisierung. In Brasilien treten sie extrem zutage: in obszönen Unterschieden zwischen Arm und Reich. Die Armen tun alles, um auszusehen wie Mittelstandskids und lassen sich von Globo-TV verdummen – anstatt für Verbesserung einzutreten.
    Die Regierung Temer macht alles nur schlimmer. Ich spreche auf der Bühne darüber, wie sehr Brasilien heute kolonialisiert wird von einer neoliberalen Ideologie."
    Die "Lächerliche Finsternis" ist Reise in die innere Wildnis des neokolonialen, europäischen Ausbeuters und eine Überschreibung des Weltromans über Kolonisierungsgräuel "Herz der Finsternis" von Joseph Conrad. Ein Major und sein Adjutant reisen in den Dschungel, um den durchgeknallten Offizier Deutinger zu neutralisieren. Bei Wolfram Lotz ist das zugleich eine mehrfach ironisierte Abrechnung mit Globalisierung, mit deutschen Klischees über ferne Krisengebiete und deutschem Afghanistan-Einsatz.
    Taub für die Nöte der Bevölkerung
    In Brasilien wird daraus eine Analyse der Armut in einem Land, in dem korrupte Milliardäre an der Macht taub sind für die Nöte der Bevölkerung. Eine Band spielt die Afrika-Klischee-Hymne "The Lion Sleeps Tonight". Dill hat das Stück in einen internationalen Standardcontainer voller Topfpflanzen versetzt: Das Symbol für Globalisierung schlechthin.
    "Hier spricht der Korrespondent von Associated Press. Deutsche Soldaten wurden in den Bergen des Hindukusch gesehen. Die Taliban wollen sofortige Vergeltung." - "Ist der Hindukusch nicht ein Fluss, Herr Offizier?"
    Wolfram Lotz' Dschungel-Hindukusch wird hier in Porto Alegre die re-importierte Künstlichkeit der Ware Natur, die in Brasilien so hemmungslos zerstört wird. Der somalische Pirat Ultimo Pussi mit gefälschtem Adidas-Anzug ist einer jener auf brasilianischen Straßen allgegenwärtigen, verzweifelten Straßenhändler. Major Pellner trägt Hitler-Frisur und Schnurrbart und verweist deutlich den Faschisten Jair Bolsonaro, der offen gegen Schwarze und Homosexuelle hetzt, aber durchaus Chancen hätte, der nächste brasilianische Präsident zu werden.
    In roter Federboa plappert der Papagei aus dem Stück populistische Globo-TV-Nachrichten des Tages nach – "Fora Temer", hallt es von den Zuschauern zurück.
    Obwohl Dill zu Brasiliens zu erfolgreichsten Regisseuren gehört, muss er nebenbei als Friseur arbeiten – eine staatliche Kulturfinanzierung gibt es hier kaum.
    "Brasilien kanibalisiert sich zur Zeit selbst"
    Der Dramatiker Wolfram Lotz
    Mit Unterstützung des Goethe-Instituts ist Wolfram Lotz' Stück "Die lächerliche Finsternis" in gleich zwei Inszenierungen in Brasilien zu sehen. (dpa / picture alliance / Patrick Pleul)
    Auch der rund 20 Jahre ältere Regisseur Camilo de Lelis hat "Die lächerliche Finsternis" inszeniert, das Parallelprojekt wurde vom Goethe-Institut Porto Alegre finanziert. Auch er kritisiert damit die Zustände in seinem Land, wenn auch viel direkter und weniger subtil. Plastikmüll liegt unter der Bühne, schwarze Prostituierte bieten sich züngelnd den weißen Kolonialherren an. Bei ihm ist der somalische Pirat eine schwarze Schauspielerin, die auch immer wieder schöne Gesangseinlagen hat. In Deutschland wurde diese Rolle dagegen noch nie mit einem Schwarzen besetzt - denn eigentlich will der Autor in seinem Stück allzu schlichten Zuschreibungen von Schwarz gleich Arm unterlaufen. Der Papagei ist hier eine Vogelattrappe, die im Kochtopf landet. Camilo de Lelis:
    "Mir gefällt an dem Stück, dass Wolfram Lotz freigestellt hat, dass man damit machen kann, was man will. Mir war sehr wichtig, über Ausbeutung zu sprechen, im Sextourismus ebenso wie in der Umweltverschmutzung. Der Papagei repräsentiert Brasilien und wird gegessen: Unser Land kannibalisiert sich zur Zeit selbst."
    Theater als Spiegel der politischen Zustände
    Auch andere Produktionen des Theaterfestivals kritisieren die politischen Verhältnisse Brasiliens. Im verstörenden wortlosen Bild "Bilder von allen" etwa stellt eine Puppen-Schweinefamilie Schnappschüsse voller Missbrauch und Gewalt nach: Meist geht sie vom Familienpatriarchen aus, während die Frau sich sexuell und finanziell fügen muss. Spannend ist auch das Straßentheater "Engel in Ruinen" der Gruppe A Outra Companhia de Teatro.
    "Sie sind hier auf der Straße, die Straße gehört Gott, aber hier ist jeder ein Einzelkämpfer!"
    Es spielt in der Dämmerung auf den Straßen von Porto Alegre – auch hier geht, wie in anderen brasilianischen Großstädten, kaum noch jemand zu Fuß, aus Angst vor Raubüberfällen.
    Mit Megafonen klagen die Schauspieler an, dass ein Teil des öffentlichen Raums nicht mehr angstfrei zugänglich ist. Immer wieder sprechen sie zerlumpte Gestalten an, die Schauspieler sind nicht von den echten Obdachlosen zu erkennen. Und dann ist es ganz dunkel, die Zuschauer hasten nach Hause.
    Zurück bleiben jene Menschen, die in wackeligen Pappkarton-Konstruktionen schlafen – in langen Reihen unter der Brücke.