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Theaterführung als Leidensgeschichte

Zwischen Jesus-Kitsch und verzerrten Bach-Improvisationen geleitet Stefan Pucher durch den "Schiffsbau" in Zürich, um auf eigene Weise die Passion Christi zu erzählen. Aus vielen Versatzstücken sampelt er eine Video- und Klangsskulptur, in der das Publikum an der Hand von barock gekleideten und Transvestiten ähnlichen Gestalten die Leidensgeschichte Jesu ganz nah erfahren soll.

Von Christian Gampert |
    Als wir nach der Vorstellung aus dem Schiffbau traten, hatte sich die Schwüle des Abends in einem riesigen Gewitter, einem Wolkenbruch entladen. Die Himmel taten sich auf. So hatte Stefan Puchers Züricher Abschieds-Liturgie wenigstens meteorologisch einen würdigen Schluss gefunden. Aber vorher musste man solidarisch leiden, die Inszenierung war ein Passionsspiel, ein Exerzitium vor allem für das Publikum. Denn Theater muss wie Kirche sein, und offenbar – für Pucher – ein bisschen auch ein Zuhause mit Wohnzimmer und Balkon.

    Das Leiden Jesu ist das Leiden der Menschheit; das Leiden des Stefan Pucher ist das Leiden des Berufsjugendlichen am traditionellen Erzähltheater. Im Foyer des Züricher "Schiffbaus", einer alten Fabrikhalle, bekommt man eine Art Gesangbuch in die Hand gedrückt: "O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn". Das ist das Stück, das das Publikum proben wird, wir, die Pucher-Gemeinde im Kirchengestühl.

    In der Schiffbau-"Box", einem Beton-Kubus, ist ein Bild der Thomaskirche an die Wand projiziert, und vorne sitzt, mit Weißhaar-Perücke, ein etwas schmieriger, goldbehängter Thomaskantor am Harmonium, der Sänger Christoph Homberger, der uns nun fürchterlich grimassierend in die Artikulation geistlicher Werke einführt.

    Im Grunde ist jetzt schon klar, dass es sich bei dem Abend um Mitspieltheater und Kunstverweigerung handeln wird. Puchers Unlust, eine Geschichte zu erzählen, selbst wenn es die Leidensgeschichte Christi sein sollte, und stattdessen eine aus vielen Versatzstücken gesampelte Video- und Klangsskulptur zu errichten, ist schon in diesem ersten Teil sichtbar: unten die amateurhaft summenden Gläubigen, an der Wand, als Film, als Religions-Kitsch, das pumpende Herz Jesu. Neben uns Engel mit Langhaar-Perücken, Goldröckchen und Turnschuhen, das ist der Sopran; schwarz gekleidete mafiöse Herren in Anzug und Sonnenbrille, der Bass.

    Dann geht es hinauf aufs Dach, vorbei an diversen Schildern, auf denen "Kantine" und "Umkleide" steht. Dort, an der frischen Luft, hört man die Geräusche von Flugzeugen im Landeanflug auf Zürich, man sieht aber auch exaltierte, zum Teil transvestitisch gekleidete Barock-Gestalten einen Tisch zum letzten Abendmahl decken, Hektik und Familienkrach, Geschlechterkrieg, man kippt den Rotwein über die weiße Tischdecke, leckt leere Teller ab, zerschmeißt Geschirr. Ein Regisseur für einen Jesus-Film, der "Chef" genannt wird, stößt Flüche und Drohungen aus. Auf der weiten Terrasse sitzen drei Musiker und erzeugen Geräusche, einer zirpt auf dem quer gelegten Cello. Eine Szene wie aus einem Bunuel-Film – nur dass man sich ein bisschen auch vorkommt wie im Kindergarten, beim Ausflug in einen seltsamen Zoo.

    Und wir folgen unseren Reiseleitern wieder brav ins Gebäude, wo das Kirchengestühl mittlerweile einem ganzen Haufen von Sperrmüll-Polstern Platz gemacht hat, Ohrensessel und Stehlampen. Es gibt auch eine kleine Küche, in der Fleisch gebraten wird, und einen Tisch, auf dem man Kuchen knetet, offenbar Vorbereitungen für eine Art Kommunion.

    Ein bisschen obszön ist das schon, vor allem, wenn nun Herr Christoph Homberger, der Sänger, die Szene in weißem Anzug und Palästinensertuch betritt. War Jesus Palästinenser? Homberger stößt immer wieder Phrasen der Matthäus-Passion hervor, allerdings völlig verfremdet, "herzliebster Jesu, was hast du verbrochen, dass man ein solch scharf Urteil hat gesprochen", und dazu werden Filme gezeigt aus dem Jerusalem des zweiten Weltkriegs unter dem britischen Mandat.

    Drei Musiker erzeugen an Klavier, Cello und Schlagzeug einen Sound, der die Bachschen Vorgaben in einen völlig atonalen improvisatorischen Raum, in Geräusche und Klänge übersetzt.

    Es ist deutlich, dass die liedbetonte Züricher Ära des Christoph Marthaler, ein Jahr nach dessen Weggang, hier in ihr endgültiges Finale eintritt. Wir wollen unter uns sein, signalisiert diese Inszenierung, in unserem gemütlichen Wartesaal, wir und unser Publikum, was heißt: unsere Freunde, wir wollen ein bisschen Filme gucken, die wir zum großen Teil selber herstellen, sehr schräge Musik machen, Wein trinken – und von allen Theaterstücken, allen Autoren-Vorgaben dieser Welt verschont bleiben.

    Natürlich gibt es an diesem Abend immer wieder Reminiszenzen an die Leidensgeschichte Jesu, den Verrat des Judas, Schauspieler bespringen einander, halten einander in Hebefiguren, dann wird einer krachend auf den Boden geworfen. Jesus fiel unter dem Kreuze, Jesu Tod: da donnert man Stühle auf den Grund. Aber es ist so ein betuliches Rumpel-Pumpel-Theater, das alles irgendwie 1:1 abbildet und dann postmodern zerschnipselt, das martialisch grummelt: wer hat Angst vorm schwarzen Mann.

    Essen darf man als Zuschauer übrigens auch: Brot und Wein und Fleisch, will sagen: Baguette, Côtes du Rhône und Rindsgulasch. Dies ist mein Leib – die Kirchen werden nicht begeistert sein.