"Wo früher Künstler saßen, sitzen heute Experten", sagt Jean-Louis Martinelli, der ehemalige Direktor des Straßburger Nationaltheaters und des Théâtre des Amandiers in Nanterre über den Posten des Theaterchefs. Wie er hat die gesamte französische Theaterszene aufmerksam die deutsche Debatte um den Kunstkurator Chris Dercon und die Volksbühne verfolgt. Zumal mit Dercon als Chef ein weiteres Theater in Europa Teil eines Co-Produktionsnetzwerkes werden wird, das die bisherige Produktionsweise in der deutschen Theaterlandschaft ablöst. Zugunsten von Cross-Media-Formaten, vorzugsweise von Tanz und Performance. Hier entscheiden nun in der Regel nicht mehr die Dramaturgie und Intendanz autonom über Stücke, Spielzeitthemen, über Bühnenbilder und Raumkonzepte. Stattdessen wird sich ein Verbund aus Koproduzenten und gegebenenfalls öffentlichen Förderinstitutionen im Voraus über die Projekte einigen – auf der Basis von Projektbeschreibungen auf Papier.
Frankreichs Theaterhäuser verfügen mit Ausnahme der Comédie Française und im Gegensatz zu den in sich autonomen deutschen Schauspielhäusern nicht über fest engagierte Schauspieler. Schon seit Jahrzehnten sind sie auf Koproduktionsmodelle angewiesen. Und jeder der Direktoren dieser Centres Dramatiques Nationaux konnte nur davon träumen, mit einer Gruppe von Schauspielern im stetigen Verbund zusammenzuarbeiten. Dass diese Kontinuität zu schauspielerischen Spitzenleistungen führt, erwähnt nicht nur Tobias Veit, Co-Direktor der Schaubühne, am Beispiel von Lars Eidinger. Der wird in Frankreich ungemein geschätzt und als Richard der Dritte in einer Inszenierung von Thomas Ostermeier demnächst beim Festival in Avignon gastieren. Was aber mit Theaterhäusern wie den französischen, die über feste Ensembles nicht verfügen, in Zeiten politischer Krisen geschehen kann, lässt sich derzeit an einigen von Frankreichs Nationaltheatern ablesen.
Jean-Pierre Vincent, Regisseur, Ex-Intendant und einer der aktivsten Teilnehmer in der französischen Theaterdebatte beobachtet, wie sich immer mehr Häuser in "Scènes Nationales", in Kulturhäuser verwandeln, von Theater- zu Eventbühnen werden, mit Angeboten unter anderem für Randgruppen aus sozialen Brennpunkten. Die Bühne wird zum eiligen Reparaturbetrieb für die Versäumnisse der Sozial- und Stadtpolitik. In Deutschland, in Frankreich und anderen europäischen Ländern fordern immer mehr klamme Bürgermeister als Gegenleistung für ihre Kulturausgaben sofortige sozialpolitische Effekte ohne gedankliche Fundierung. Auch Chris Dercon, der regierende Berliner Bürgermeister Michael Müller und sein Kulturstaatsekretär Tim Renner werden noch zu beweisen haben, dass die geplante Volksbühnen-Bespielung eines Hangars im ehemaligen Flughafen Tempelhof etwas anderes ist als die kulturelle Aufhübschung in der Brache einer gescheiterten Stadtplanung.
Intendant des Deutschen Theaters Berlin mit Skepsis
Beispiele für den Theaterumbau in Frankreich sind Marseilles legendäres Théâtre National de la Criée: Heute eine Bühne für unterhaltendes Dies und Das. Ähnliches gilt für Bordeaux; in Grenoble ist das Theaterzentrum abgewickelt und was davon blieb dem Kulturhaus zugeschlagen worden. Deutlich anspruchsvoller das berühmte Schweizer Theater von Vidy-Lausanne. Dort haben mit Vincent Baudriller die internationalen Performing Arts Einzug gehalten. Banal zu sagen, dass die auch nicht immer Aufregendes bieten. Die Münchener Kammerspiele werden unter Matthias Lilienthals Leitung ähnliches zeigen, das Théâtre des Amandiers in Nanterre, einst das Haus, an dem man die großen Arbeiten von Regiemeister Patrice Chéreau sah, dürfte unter der Leitung des bildenden Künstler und Theatermachers Philippe Quesne vergleichbares erleben. Ein Einzelfall ist die Umwidmung eines Theaters in ein Multiformat-Kulturhaus auf europäischer Ebene also längst nicht mehr. Die Volksbühne ist eher ein Pilotprojekt in der letzten Bastion der europäischen Theaterarbeit: Der deutschen Theaterlandschaft.
Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theater in Berlin sieht den Paradigmenwechsel in einer wachsenden Skepsis der Gesellschaft gegenüber der Empathie und einer daraus folgenden Legitimationskrise der schauspielerischen Repräsentation: Authentizität sei jetzt gefragt. Eine komplexer werdende Gesellschaft verlange nach einer Diversifizierung der Stimmen im öffentlichen Raum, so auch im Theater. Jean-Pierre Vincent belegt die zeitgenössischen Kulturmoden mit dem Begriff des "Aktualismus". Der metaphysische Beitrag des Theaters interessiert nicht mehr. Die emanzipatorische Chance auf das "radikal Andere", das Abwesende und Unsichtbare als Denk- oder Wahrnehmungsfiguren verschwindet. Aus den herrschenden Verhältnissen kann nun nicht mehr ausgebrochen werden. Wir alle werden sowohl in der neoliberalen Welt der Waren als auch in der Welt der theatralen Zeichen zu Gefangenen der Gegenwart.