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Theatermusik neu erfunden

Was ist Musiktheater? Welche Elemente des klassischen Musiktheaters sind verzichtbar, ohne dass die Kategorisierung Theater letztendlich entfällt? Bei Adriana Hölszkys "Tragödia" fehlen Worte, Handlung und Personen auf der Bühne. Stattdessen bieten starre Bühnenbilder und Klangwelten weiten Raum für Assoziationen. Auch Peter Eötvös experimentiert in "As I Crossed a Bridge of Dreams" mit neuen Formen des Genres.

Moderation: Frank Kämpfer |
    Am Mikrofon Frank Kämpfer. Im Folgenden geht es um neue Theatermusik. Diese führt in reizvolle Klangwelten und bietet weite Assoziationsräume an - und sie fragt, was zeitgenössisches Musiktheater heute sein kann und zu leisten vermag.
    Musik Nr.1:
    Adriana Hölszky, Tragödia
    musikFabrik. ML: Johannes Debus
    SACD WERGO 6707 2, LC 00846
    Take 01


    Drei Stühle umstehen den Tisch. Waren sie alle besetzt? Wer ist aus den roten Schuhen geflohen? Hat sie, er oder es dazu die Balkontür benutzt? Blieb der Männerhut mit Absicht zurück? Ist er ein Gast, so wie der Schatten am pendelnden Strick? Oder liegt er, abgelegt aus Gewohnheit, an seinem Platz - vor dem Liebesakt, vor einer Schlacht, vor dem zu späten Gang ins einsame Bett?

    "Tragödia" jedenfalls bietet Raum für kontroverse Assoziationen; in erster Instanz wohl, weil die Komposition der Worte ermangelt und allein mit Klängen, und in der Bühnenversion mit stummen Bildern auskommen muss. Denn verabredungsgemäß ging Thomas Körners Libretto nicht in das Stück ein.

    Komponistin Adriana Hölszky entnahm dem Skript lediglich formal Strukturierendes. Und Wolf Münzner, der bei der Uraufführung 1997 in Bonn den Bühnenaufbau arrangierte und für das Publikum zumindest statische Seh-Hilfen gab, kannte nur die knapp einstündige Instrumentalmusik: "Tragödia. Der unsichtbare Raum".

    Was ist Musiktheater? An welche Elemente ist es gebunden und welche traditionellen Theaterkünste sind womöglich verzichtbar, ohne dass die Kategorisierung Theater entfällt? In diesem Fall fehlen Worte, Handlung und Stimmen, das heißt singende, agierende Personen und die Frage nach der theatralen Substanz steht sehr radikal.

    Für Urheberin Adriana Hölszky - geboren 1953 in Bukarest, heute Kompositionsprofessorin am Mozarteum in Salzburg - ist es die logische Konsequenz aus vieljähriger experimenteller Arbeit mit Stimmen, Szenen und Räumen; Mitte der 90er-Jahre war sie im Begriff, eine Oper ohne jegliche Semantik zu komponieren. Eine Opus also, das in seinen vierzehn Szenen oder Abschnitten mit allein musikalischen Mitteln den dramatischen Wechsel disparater Ereignisse mitzuteilen vermag.

    "Tragödia" ist in der Tat theatral. Die 18 Instrumentalisten samt Zuspiel und Live-Elektronik erzeugen eine überbordende Fülle von Klängen, Gesten und Farben: Perkussive Aktionen treffen dabei auf solistische Bläser wie Streicher - Cembalo, Harfe, Celesta, Akkordeon suggerieren für Sekunden Konkretes, elektronische Klänge ziehen in ihren Bann.

    Die Vielgestalt suggeriert, die Komponistin experimentiere mit Klängen wie mit Chemikalien. Und zuweilen scheint es, als begänne musikalische Theatralik bereits in der Mikrostruktur - bei der geschlagenen Saite, beim verfremdeten Anblasgeräusch. Auffällig bleibt die Höhe der Spannung; ein fortwährendes In-Unruhe-Sein, ist charakteristisch für Musik- und Verbalsprache der Tonsetzerin.

    Ein weiterer Ausschnitt belegt dies mit Nachdruck: Die Szene beginnt perkussiv - später tritt den zwei Schlagzeugern das gesamte Ensemble entgegen, mit ausfahrender Gestik und immensem Hang zur Zersplitterung.

    Musik Nr. 2:
    Adriana Hölszky, Tragödia
    musikFabrik. ML: Johannes Debus
    SACD WERGO 6707 2, LC 00846
    Take 08


    Adriana Hölszky - "Tragödia. Der unsichtbare Raum": eine Komposition mit theatralischen Räumen, für Bühnenbild und 18 Instrumentalisten, Tonband und Live-Elektronik.

    Die jetzt beim Label WERGO als Super-Audio-CD erschienene Aufführung ist ein Dokument der Weingartener Tage für Neue Musik aus dem Jahre 1999. Für die farbreiche, gut ausmusizierte Aufführung stand seiner Zeit das Ensemble musikFabrik mit Johannes Debus am Pult.

    LYRIK-Element 2009-05-24
    Roza Domascyna, Als ich klein war


    Auch die zweite neue CD, die ich Ihnen heute anspielen will, birgt ein Werk, das die Frage aufwirft, was heute als musiktheatral gelten kann und in welcher Vielheit sich heute musikalisches Theater versteht. Die entsprechende Komposition führt in eine Zwischenwelt, in der sich Fiktion und Realität, Träume und Reflektionen auf faszinierende Weise vermischen.

    Musik Nr. 3:
    Peter Eötvös, As I Crossed a Bridge of Dreams
    UMZE Chamber Ensemble. Ltg. Gergely Vajda
    CD MMC 138, LC 07503
    Take 01


    Wer spricht? Ein Text? Eine Person? Eine Theaterfigur? Und was bedeutet, besser, wie funktioniert das Gewebe akkompagnierender Klänge? Und wer oder was gehört alles zu diesen dazu? Nur die drei Traumstimmen, die die solistische Sprecherin kommentieren? Oder auch die Posaune, die als Alter ego erscheint und in der Bassposaune einen Begleitschatten hat?

    Komponist Peter Eötvös, geboren 1944 in Siebenbürgen, bezeichnet sein Szenario "As I Crossed a Bridge of Dreams" als ein Klangtheater, in dem es gleichfalls an handelnden Figuren wie singenden Darstellern mangelt und an dramatischer Handlung ganz offenbar fehlt. Verbal wird stets reflektiert und es bleibt unklar, in welchen Koordinaten welcher Fantasie- oder Realwelt das Gesprochene spielt.

    Ganz gleich ob theatral oder nicht, ein konkretes Material liegt zu Grunde, das gleichwohl überrascht. Es stammt aus dem 11. Jahrhundert, aus der japanischen Hofwelt und stellt womöglich ein anonymes weibliches Tagebuch dar, darin sich Sehnsüchte, Reflexionen und Fantasien artikulieren. Reizvoll für den theatererfahrenen Eötvös war vermutlich das Imaginäre der Texte - die Wirklichkeitsferne, die Idealsuche, der Ästhetizismus darin. Derlei animierte zu einer klanglich aparten Komposition, die sowohl an ein radiofones Hörspiel, an Film- oder Theatermusik oder eine elektroakustisch grundierte Raummusik erinnert; beziehungsweise Elemente all dieser Künste des modernen Medienzeitalters zu einer Mischform vereint.

    Sieben assoziative Szenen begegnen als Extrakt einer im Original immensen Lektüre; Titel wie Traum, Mond, Glocken, dunkle Nacht usw. verweisen auf eine dramaturgisch höchst attraktive Zwischenwelt zwischen Fiktion und Realität. Die Grenzen sind fließend - Wirklichkeit ereignet sich nur im Ausnahmefall; ob Tiere, Wolken, Gestirne nur Einbildung sind, ob jener Edelmann, der die Fantasien der Schreiberin beflügelt, real existiert, bleibt kunstvoll verrätselt. Kommt die Rede auf ihn, bemüht Eötvös ein besonderes Instrument: ein Computer-Klavier, das heißt eine Maschine, deren vorprogrammiertes Selbstspiel mit dem Changieren der Realität korrespondiert.

    Das Traumhafte unterstützen mittels Flageolets, Tremoli und Glissandi neun solistische Streicher. Der höchst komplexe Perkussionspart transportiert die darzubietenden Verse. Zwei Saxophone und drei Klarinetten sowie differenziertes elektroakustisches Zuspiel bieten atmosphärisch reizvolle Farben.

    In der mittleren Sequenz, im Spiegeltraum, wirkt das Szenario ein wenig konkreter, geschärfter - das gesprochene Duett geht über in eine rein musikalische Szene, in der der Posaune - der instrumentalen Stimme, der zentralen Figur - ein Solo zukommt.

    Musik Nr. 4:
    Peter Eötvös, As I Crossed a Bridge of Dreams
    UMZE Chamber Ensemble. Ltg. Gergely Vajda
    CD MMC 138, LC 07503
    Take 04


    Soweit ein Ausschnitt aus Peter Eötvös' Klangtheater "As I Crossed a Bridge of Dreams" - zu hören in einer Budapester Produktion mit Elisabeth Laurence als Rezitatorin, Mike Svoboda und Gérard Buquet als Posaunisten und dem UMZE Kammer Ensemble unter der Leitung von Gergely Vajda. Diese Produktion ist in diesem Jahr beim Label Budapest Music Center Records BMC erschienen. Der Audio-CD liegt eine 5.1 Dolby-Bersion bei.

    Zuvor habe ich Ihnen eine bei WERGO editierte Aufnahme von Ariana Hölszkys Musiktheater "Tragödia" angespielt. Soweit für heute "Die neue Platte", ausgewählt von Frank Kämpfer.