
"Das Weibchen fliegt davon, das Männchen folgt ihm. Die Zeit: 10.36 Uhr, 37 Sekunden."
Akribisch, dieses Protokoll über Aktivitäten von Singvögeln in den Schweizer Alpen. Klänge aus einem Diktiergerät. Abgerissen, vergilbt. Letzte Nachrichten aus einem verlorenen Paradies?
Arkadisch, das reale Setting vor Ort, im echten, sogenannten ParaDies. Während ich der Protokollstimme lausche, liege ich auf einer goldenen Matratze und zähle Wolken, so wie elf andere Besucher des Stücks "Zum goldenen Leben". Immer zu zwölft werden wir Besucher durch die Performance geführt. Zum Beispiel auf diese Wiese mit Aussicht auf die kolossale Fassade des Kölner Justizzentrums. Das ganze ParaDies-Gelände hat den Charme eines Bauwagenplatzes und wird zum Bühnenbild. Kulisse mit Aussteigerromantik? Ist das nicht auch ein bisschen kitschig?
"Ja gut, Ausstieg - ich gehöre nun zu denen, die den sogenannten Ausstieg vor über 30 Jahren vollzogen haben. Also wir waren nicht diejenigen, die diesen Begriff geformt haben. Das ist ein Titel, den hat man uns dann zugeteilt. Ich habe das eher immer als einen Umstieg gesehen oder einen Wiedereinstieg in echte Lebensbezüge."
Spielort: das ParaDies
Rolf Tepel hat das ParaDies vor neun Jahren gegründet, sich eingenistet auf dem Areal, das die Stadt Köln jahrzehntelang hat brach liegen lassen, anfangs als Eremit. Inzwischen sind hier sieben Menschen offiziell gemeldet, es gibt fließend Wasser und Strom. Ein alternativer Ort, der sich allmählich emanzipiert?
"Man baut hier vom Abfall der Gesellschaft, man lebt mit sehr wenig Geld, teilt die Dinge und versucht hier auch, so ein Mischwesen aus Natur und einfachem Leben mitten in der Stadt zu realisieren."
Urban Gardening, Upcycling, kreativ und partizipativ mit möglichst kleinem CO2-Fußabdruck: Eine ganze Reihe gesellschaftlicher Trends führen uns ins ParaDies. Mir fällt auf: So radikal anders lebt man hier gar nicht. Futur 3, das Ensemble um André Erlen und Stefan Kraft, ist bereits seit Wochen vor Ort. Recherche im Rahmen von Lagerfeuergesprächen: Wie sieht alternatives Leben heute aus?
"Fantastisch, wie viele Initiativen es gibt, die in ihren kleinen Nischen versuchen - ganz undramatisch, aber sehr konsequent - das voranzutreiben. Viele Menschen spüren, dass es so irgendwie nicht weitergehen kann, das ist offensichtlich."
Bei einem Lagerfeuergespräch war zum Beispiel die Journalistin Greta Taubert zu Gast, deren Buch "Apokalypse jetzt!" aktuell viel diskutiert wird. Ein Jahr lang hatte sie dafür als Tramperin und Schnorrerin gelebt, ein radikales Hilf-Dir-selbst prophylaktisch schon einmal ausprobiert, falls der große Systemeinsturz doch irgendwann kommen sollte.
"Deutschland ist im Moment noch die Insel der Seligen in Europa. In Südeuropa, die müssen den Ausstieg eben, weil sie quasi in der Postwachstumsgesellschaft schon leben. Also die müssen sich anders organisieren."
"Die solidarischen Strukturen und der Wunsch nach einer nachhaltigeren Gesellschaftsform."
Eine Nicht-Inszenierung
Was macht Futur 3 theatralisch daraus? Eine andere der sechs 20-minütigen Szenen: Jetzt sitzen wir Zwölf in einem Pavillon und sollen eine TV-Dokumentation anschauen, über eine autarke Community in Spanien mit Gemüsebeeten und selbst gebauten Solarzellen.

"In Spanien hat die Konsumgesellschaft das Versprechen vom Wohlstand nicht gehalten."
Mich provoziert das, diese Inszenierung, die eine Nicht-Inszenierung ist: Wieso soll ich mir jetzt hier eine Doku anschauen? 20 Meter weiter sind Bewohner des ParaDieses mit genau diesen Themen praktisch beschäftigt. Sollte ich nicht lieber mit denen reden, als TV zu konsumieren? Belehrt fühle ich mich indes nicht: Futur 3 nimmt sich an vielen Stellen selbst auf die Schippe: Wäre ein von A bis Z durchgestylter, vor Integrität nur so triefender Bio-Lebensentwurf nicht zu kopflastig; wäre das ein "goldenes Leben"?
"Warum wollen wir eigentlich immer alles und jeden retten? Lebensmittel retten, Tiere retten, Bäume retten, die deutsche Sprache retten, Demokratie retten, die Banken retten, den Regenwald retten, den Planeten retten? - Wir wollen den Planeten retten? Wir? - Ich glaube, der Planet, der kommt schon ganz gut ohne uns klar. Wir sind doch selber total im Arsch!"
Diese zeitgeistig vor sich hin schwelenden Parameter: Typisch deutsch, ein Palaver mit Aussicht ins Negative abzuhalten? Vieles inspiriert auch: Lieber mal etwas reparieren als zu reklamieren! Futur 3 setzt es packend in Szene. Es wird hier sehr persönlich - auch eine Form von theatraler Katharsis. Ich habe viel Text gehört, landschaftsgärtnerisch originelle Bühnenbilder gesehen und komme nachdenklich aus diesem Stück: Wie sieht denn mein "goldenes Leben" aus, was könnte ich persönlich im Kleinen verändern, auf dem Weg dorthin?
"10.47 Uhr: Ringamsel auf Nahrungssuche."